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Full text of "Zeitschrift Für Physikalische Und Diätetische Therapie 22.1918"

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ZEITSCHRIFT 

FÜR 


PHYSIKALISCHE m> DIÄTETISCHE 

« 

THERAPIE 

(Begründet von E. von Leyden und A. Goldscheider.) 


Mitarbeiter: 

C. A. BIER (Berlin), A. BUM (Wien), B. BUXBAUM (Wien), A. CZERNY (Berlin), H. EICHHORST 
'Zürich), M. EINHORN (New York), W. H. ERB (Heidelberg), F. FRANKENHÄUSER (Berlin-Steglitz), 
K. FRANZ (Berlin), P. W. FÜRBRINOER (Berlin), J. OAD (Königetein i. T.), J. GLAX (Abbazia), 
J. O. L. IIEUBNER (Loeehwitz), W. HIS (Berlin), F. A. HOFFMANN (Leipzig), R. v. JAKSCH (Prag), 
M. IMMELMANN (Berlin), G. KLEMPERER (Berlin), F. KRAUS (Berlin), L. KUTTNER (Berlin), 
A. LAQUEUR (Berlin), P. LAZARUS (Berlin), M. LEVY-DORN (Berlin), L. MANN (Breslau), 
J. MARCUSE (Ebenhansen), F. MARTIUS (Rostock), M. MATTHES (Königsberg i. Pr.), F. MORITZ (Köln), 
FR. v. MÜLLER (München* K. v.NOORDEN (Frankfurt a. M.), P. K. PEL (Amsterdam), H. PRIBRAM (Prag), 
H. J. QUINCKE (Frankfurt a. M.), TH. ROSENHEIM (Berlin), M. RUBNER (Berlin), H. SAHLI (Bern), 
J. SCHREIBER (Königsberg i. Pr.), H. 8TRAUSS (Berlin), AD. v. STRÜMPELL (Leipzig), E. ZANDER 

(Stockholm), N. ZUNTZ (Berlin). 


* Herausgeber: 

A. GOLDSCHEIDER. L. BRIEGER. A. STRASSER. 

Redaktion: 

Dr. W. ALEXANDER, Berlin W., Friedrich-Wilhelmstraße 18. 


Zweiundzwanzigster Band. v 

• — >;l 

Mit 45 Abbildungen und einem Bildnis. 


LEIPZIG 1918. 

Verlag von GEORG THIEME, Antonstr. 15. 


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Preis des Jahrgangs M. 12,—. 

Manuskripte, Referate und SonderabdrUcke werden an Herrn Dr. W. Alexander, Berlin W. % 
Friedrich-Wilhelmstr. 18, portofrei erbeten. 

Die Herren Mitarbeiter werden gebeten, die gewünschte Anzahl von SonderabzUgen ihrer 
Arbeiten auf der Korrektur zu vermerken; 40 SonderabzUge werden den Verfassern von Original- 
Arbeiten unentgeltlich geliefert 

Die zu den Arbeiten gehörigen Abbildungen müssen auf besonderen Blättern (nicht in da» 
Manuskript eingezeichnet) und in reproduktionsfähiger Ausführung eingesandt werden. 


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Verzeichnis der Originalarbeiten. 


Seite 

Beitrag zur Behandlung der hysterischen Taubheit. Von Dr. W. Alexander.52 

Über Polyneuritis (ämbulatoria) mit Diplegia facialis. Von Dr. W. Alexander .... 256 
Physikalische und technische Betrachtungen über moderne Lichttherapie. Die Siemens- 

Aureollampe. Von Dr. Karl Bangert..149, 176 

Einige hydrotherapeutische Winke für die Praxis. Von Geh.-Med. Rat Prof. Dr. L. Brieger 229 
Zur Geschichte der physikalischen Heilmethoden. Materialien aus chemischen Quellen¬ 
schriften. Aus der hydrotherapeutischen Anstalt der Universität Berlin. Von Dr. 

Walter Brieger.: . . 187 

Die Nachbehandlung rheumatischer und ähnlicher Kriegserkrankungen in Badern und Heil¬ 
anstalten. Mitteilung aus der Nachbehandlungsanstalt des kgL ung. Landesfürsorge¬ 
amtes „Csäsäzrfflrdö“ in Budapest. Von Doz. Dr. Z. v. Dalmady.46 

Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik, yon Prof. Dr. Determann 213 
Die Heilung der habituellen Stuhlträgheit durch Trinkkuren in Kurorten. Von Dr. 

M. Ehrenreich.338 

Über Akromegaloidismus und zur Theorie der inneren Sekretion. Von Prof. Dr. R. Ehr¬ 
mann .343 

Über zwei eigenartige Fälle von Infektion der Ösophagus- und Magenschleimhaut. Von 

Prof. Dr.-U. Friederaann. . /..354 

Urticaria appendicularis. Überempfindlichkeit und Appendizitis. Von Dr. Ernst Fuld. . 161 
Über die Beziehungen zwischen Wasser-Kochsalzretention. Zur Theorie der Ödembildung 

durch Salzzufuhr. Von Prof. Dr. H. Gerhartz.345 

Thalassotherapie der Kriegsverwundeten und -beschädigten. Von K. K. Hofrat Prof. Dr. 

Julius Glax.108 

Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. Von Geh. Med.-Rat Prof. 

Dr. Goldscheider ..*. . .. 129, 193, 379, 411 

Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen Lungentuberkulose im Invaliden¬ 
rentenverfahren. Von San.-Rat Dr. von Golz.303 

Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms und der Polycythamie. Von Dr. H. Guggen- 

heimer.233 

Über Puls- und Blutdruckuntersuchungen bei Kriegsteilnehmern. Von Dr. E. Herzfeld 311 
Zur Prognose und Röntgentherapie der lymphatischen Leukämie. Von Dr. H. Hirschfeld 240 

Serumtherapie bei Fleckfieber. Von Dr. P. A. Hoefer.358 

Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. Von W. Krebs . . 434, 467 

Zwei neurologische Fälle. Von Dr. R. Kretschmer.262 

Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an der Front. Von Dr. K. Krön er 265 
über die Verwendung der Dampfdusche zur Wundbehandlung. Von Dr. A. Laqueur . . 17 

Praktische Bemerkungen zur Diathermiebehandlung. Von Dr. A. Laqueur.243 

„Bluffotherapie“. Die deutsche Physikotherapie in französischem Lichte. Von Dr. G. M am lock 190 
Zur Funktionsprüfung von Herz- und Gefäßsystem bei gesunden und kranken Feldsoldaten. 

Von Assistenzarzt d. R. Friedrich Matz.65, 97 


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IV 


Verzeichnis der Originalarbeiten. 


Seite 


Die Beziehungen des Wolbynischen Fiebers zu anderen Krankheiten. Von Dr. E. Mosler 362 

Zur Behandlung der Kriegsnephritis in Speziallazaretten. Von Dr. E. Mosler.459 

Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. Von Dr. med. Gustav Oeder .... 34, 77 

Die Anwendung der d’Arsonvalisation bei Spondylitis deformans. Von Dr. E. v. d. Porten 403 
Die klinische Bewertung der Plethysmographie bei Herzkrankheiten. Von Dr. H. Schirokauer 314 
Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des Rektumkarzinoms. Von Dr. E. Schle¬ 
singer .. . . •..249 

Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose und Behandlung). Von 

Dr. P. Schrumpf.323 

Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen. Von Dr. K. Singer .... 275 
Über den Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf den Harnsäuregehalt des Blutes und die 

Verwertung der Beobachtungen für die Gichttherapie. Von Dr. E. Steinitz . . . 348 
Diskussionsbemerkungen zur Debatte über die Behandlung der Kriegsnephritiden (Geh. Rat 

Prof. His). Von Professor Dr. A. Strasser.55 

Malariarezidiv und Heilung. Von Prof. Dr. A. Strasser.366 

Über Brachialgien und ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur „Neuralgie^Diagnose. Von 

Dr.E. Tobias. 286 

Über infektiöse Lebererkrankungen. Von Dr. Walterhöf er.. . . . . 371 

Die physikalische Behandlung des Gelenkrheumatismus im Lichte der Vakzinenlehre. Von 

Dr. Eduard Weiß.115 

Über die Behandlung herzkranker Soldaten in Kurorten und Heilstätten. Von Prof. Dr. 

K. F. Wenckebach.... .' ....... . 1 

Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris und der Kauda equina. Von E. Wolff 295 
Zur eiweißarmen Diät bei akuter Nierenentzündung. Von Stabsarzt Dr. Erich Wossidlo 9 


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Sachregister, 


Abdominaltyphus, Anomalien der Magensaft¬ 
sekretion als Spätfolge von 450. 

Abszesse, beiße, Behandlung (insbesondere mit 
Morgenrothschen Chininderivaten) 32. 

Achylia gastrica, Zunge und 192. 

Adaptionsbrille 91. 

Akne, Röntgenbehandlung 91. 

Alkohol, Tuberkulose und 128. 

Anämia perniciosa, Zunge bei 192. 

Antikörperbildung, spontane, in der Haut und 
ihre Heilwirkung bei äußerer und innerer 
Tuberkulose 92. 

Aphasie, motorische, und Halbseitenlähmung 
nach fieberhafter Erkrankung 262. 

Appendizitis. Überempfindlichkeit und 161. 

Arsonvalisation bei Spondylitis deformans 403. 

Arthritiden, chronische, nichtchirurgische Be¬ 
handlung 434, 467. 

Ärztekammervorstand, Bericht über die von 
dems. berufene Versammlung zur Aufklärung 
Ober Nabrungsmittelfragen 157. 

Augen-Gonoblennorrhoe,Milchinjektionen bei 96. 

Augenleiden, Lichtbehandlung und 159. 

Aureollampe, Siemens-, Erfahrungen 26. 

Bäder, hydrostatischer Druck als therapeutische 
Komponente ders. 223, —■ Nachbehandlung 
rheumatischer und ähnlicher Kriegserkran¬ 
kungen durch 411. 

Bäderbehandlung bei Erkrankungen der Harn¬ 
organe 443, — Kur- und, in der öster¬ 

reichisch-ungarischen Armee 59, — Kur- 
und, in der deutschen Armee, Organisation 
der 58. 

Balneologie, Zentralstelle für, Bericht über die 
Tagnng ders. in Rostock (3. und 4. Sept. 
1916) 23. 

Balneologische Behandlung herzkranker Sol¬ 
daten 446. 

Balneotherapie, Kriegsbeschädigtenfürsorge und 
57. 


Bestrahlungsmethode, neue, in der Gynäkologie 

122 . 

Bittersalzlösungen, Kochsalz- und, für Glyzerin 
bei Verwendung zu Klysmen 410. 

Blasenexpression bei Detrusorlähmungen durch 
Rückenmarksverletzung 121. 

Bluffotherapie 190. 

Blut, Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf 
den Harnsäuregehalt dess. 348. 

Blutdruckuntersuchungen, Puls- und, bei Kriegs¬ 
teilnehmern 311. 

Bluttransfusion, Technik 486. 

Blutungen, okkulte, bei Karzinom des Verdau¬ 
ungsapparats, diagnostische Bewertung 31. 

Blutzucker, Wirkung von Temperatur und 
Feuchtigkeit auf die Arbeitskraft der 
Muskeln und den 158. 

Brachialneuraigien 286. 

Bromsalze, Dosierung bei Epilepsie und De¬ 
pressionszuständen 489. 

Brot, Zabnkaries und 22. 

Calorose, Infusion mit 406. 

Cauda equina-Verletzungen 295. 

Centre neurologique de Lyon 126. 

Chininderivate, Morgenrothsche, bei heißen Ab¬ 
szessen, infizierten und infektionsverdäch¬ 
tigen Wunden 32. 

Chirurgische Nachbehandlung 475. 

Choleraimmunität bei Schutzgeimpften 408. 

Chorea, künstliche Schwangerschaftsunter¬ 
brechung bei 489. 

Conus medullaris, Verletzungen des 295. 

Coolidgeröhren in der Tiefentherapie 159. 

Cremasterreflex, Fußsohlen-, bei akuter Ischias 
487. 

Ilampfdusche, Wundbehandlung und 17. 

Darm, der sog. lange russische 449. 

Darmerkrankungen, infektiöse, Diagnose und 
Therapie 448, — Magen- und Röntgen¬ 
diagnostik 87*. 


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VI 


Sachregister. 


Depressionszustände, Bromsalze und ihre Do¬ 
sierung bei dens. 489. 

Detrusorlähmüngen durch Rückenmarksver- 
verletzung, Blasenexpression bei dens. 121. 

Deutschland, Kriegsernährung in England und 
119. 

Dia-Sorcym-Plazentapräparate, serodiagnosti¬ 
sche Sehwangerschaftsreaktion unter Ver¬ 
wendung ders. 28. 

Diabetes mellitus, Behandlung 450, — Kriegs¬ 
lehren für die Ernährung bei 481. 

Diagnostik, Funktion des Magendarms als 
Grundlage der 218. 

Diagnostische und therapeutische Irrtümer und 
deren Verhütung (Schwalbe) 123, 409. 

Diät, eiweißarme, bei Nephritis acuta 9. 

Diathermiebehandlung 248. 

Diätkuren bei kardialen Hydropsien 23. 

Diphtheriebekämpfung, Berliner, Fortschritte 
ders. 453. 

Diplegia facialis, Polyneuritis ambulatoria mit 
256. 

Durchfälle, Käse und Fleisch bei dens. 158. 

Eierstocksfunktion, Röntgentiefentherapie bei 
Jugendlichen und 92. 

Eiweißarme Diät bei Nephritis acuta 9. 

Elektrizität bei Nervenläsionen und ihre Er¬ 
folge im k. und k. orthopädischen Kriegs¬ 
spital Wien 88. 

Emanation des Wassers 224. 

England, Kriegsernährung in Deutschland und 
119. 

Epilepsie, Bromsalze bei, und ihre Dosierung 
489, — Schwangerschaftsunterbrechung, 

künstliche, bei 489. 

Erkältungskrankheiten, Gefahren und Ver¬ 
hütung 224. 

Ernährung gesunder und kranker Kinder bis 
zum 2. Lebensjahre, künftige Gestaltung 
ders. 85, — der Diabetiker, Kriegslehren 
für dies. 481, — Kriegssachgemäße 88, 
— Roggenkleie und ihre Verwendung für 
die menschliche 406, — Stickstoffbilanz bei 
kalorienarmer 481. 

Ernährungstheräpie, quantitative 451. 

• Ernährungszustand und Muskulatur im Kindes¬ 
alter, Einfluß der Säuglingsernährung auf 
dies. 119. 

Erwerbsfähigkeit bei Lungentuberkulose im 
Invalidenrentenverfahren 808. 

Expressio vesicae bei Detrusorlähmungen durch 
Rückenmarksverletzung 121. 

Feldsoldaten, Funktionsprüfung von Herz- und 
Gefäßzentren bei gesunden und kranken 
65, 97. 


Fettgehalt menschlicher Gallensteine 432. 

Feuchtigkeit, Wirkung von Temperatur und, 
auf die Arbeitskraft der Muskeln und den 
Blutzucker 158. 

Fiebertherapie der kindlichen Gonorrhoe 40? 

Fleckfieber, Rekonvaleszentenbluttransfusion bei 
453. 

Fleckäeber, Serumtherapie 868, — Weil-Felix- 
sche Reaktion bei 88, 488. 

Fleisch, Fleischwurst und, Zusammensetzung’ 
und Untersuchung 223, — Käse und, bei 
Durchfällen 158. 

Flinsberg, klinische Beobachtungen und Behänd ~ 
lungsergebnisse in Bad 86. 

Fremdwörterbuch, medizinisches (Kühn) 490. 

Fruchtbarkeit, weibliche, gewollte und unge¬ 
wollte, Schwankungen ders. 454. 

Fürsorgestelle, Stettiner, für Lungenkranke mit 
offener Tuberkulose, Erfolge und Mi߬ 
erfolge ders. 410. 

Fuß, natürlicher und künstlicher, Abrollung 
dess. 159. 

Fußsohlen-Cremasterreflex bei akuter Ischias 
487. 

Gallensteine, Fettgehalt menschlicher 482. 

Gammastrahlen der radioaktiven Substanzen, 
sekundäre Strahlungen ders. 484. 

Gasbrandinfektion, Chemotherapie, experimen¬ 
telle 31. 

Gasvergiftung im Röntgenzimmer und ihre Ver¬ 
hütung 91. 

Gefäßsyphilis 828. 

Gefäßsystem, Herz- und, Funktionsprüfung bet 
gesunden und kranken Feldsoldaten 65, 97. 

Gehfähigkeit bei Plattfuß und Knickfuß 120. 

Gehirntumoren, Röntgenbehandlung 451. 

Gehirn verletzte und ihre Rückleitung zur Ar¬ 
beit 488. 

Gelenkerkrankungen, Röntgentherapie 91. 

Gelenkrheumatismus, elektrokolloidale Silber¬ 
präparate bei 127, — physikalische Behand¬ 
lung dess. im Lichte der Vakzinenlehre 

115. 

Genickstarre, Therapie 24. 

Geopsychische Erscheinungen 482. 

Getreidepräparate, Kriegsmehl und Malzextrakt 

22 . 

Gichttberapie 848. 

Gliedmaßenmuskeln, nervengelähmte, nach 
Schußverletzungen, Behandlung ders. 87. 

Glühkathodenröhren in der Tiefentherapie 159. 

Glyzerin, Bittersalz- und Kochsalzlösungen für, 
bei Verwendung zu Klysmen 410. 

Gonoblennorrhoe des Auges, Milchinjektion bei 
ders. 96. 


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Sachregister. 


VII 


Gonorrhoe, kindliche, Fiebertherapie ders. 
407. 

Granulom, malignes, Röntgentherapie 288. 

Greifvermögen, Erhaltung dess. bei lang¬ 
dauernder Ruhigstellung der Hand 87. 

Gynäkologie, neue Bestrahlungsmethode in der 
122 . 

Halbseitenlähmung mit motorischer Aphasie 
nach fieberhafter Erkrankung 262. 

Halslymphone, tuberkulöse, Röntgentherapie 
26. 

Hand, Erhaltung des Greifvermögens bei lang¬ 
dauernder Ruhigstelfung der 87. 

Hamorgane, Erkrankungen, Bäder und Klima¬ 
behandlung 443. 

Harnsäuregehalt des Blutes, Einfluß thera¬ 
peutischer Maßnahmen auf den 848. 

Härtegrad, Sekundärstrahlen und 90. 

Haut, spontane Antikörperbildung in der, und 
ihre Heilwirkung auf äußere nnd innere 
Tuberkulose 92, — Topographie der spi¬ 
nalen ScnBibilitätsbezirke der 410. 

Hautkapillaren, Bewegungen der 32. 

Hautkapillaren - Untersuchungen, mikroskopi¬ 
sche, am lebenden Menschen und ihre dia¬ 
gnostische Verwertbarkeit 32. 

Heilanstalten, Nachbehandlung rheumatischer 
und ähnlicher Kriegserkrankungen in 46. 

Heilmethoden, physikalische, Geschichtliches 
187. 

Heilstätten, herzkranke Soldaten und 1, 446. j 

Heliotherapie in der Ebene 160, — Pigmentation 
und 160. 

Herz, FunktionsprQfung mittels Plethysmo¬ 
graphie nach E. Weber 31. 

Herzerweiterungen, Kohlensäurebäder bei 447. 

Herzkranke Soldaten, balneologische und Heil¬ 
sattenbehandlung 446, — Kurort- und Heil¬ 
stättenbehandlung I. 

Herzkrankheiten, Plethysmographie bei 814. 

Herzsyphilis 822. 

Herzsystem, Gefäß- und, Funktionsprüfung 
bei gesunden und kranken Feldsoldaten 
65, 97. 

Hirschsprungsche Krankheit, röntgenologische 
Darstellung ders. 452. 

Höhensonne, künstliche 25, — bei Peritonitis 
tuberculosa 485. 

Hydropsien, kardiale, Diätkuren bei dens. 23. 

Hydrostatischer Druck als therapeutische 
Komponente der Bäder 223. 

Hydrotherapeutische Winke für die Praxis 

229. 

Hypophysenextrakte, nephritische Prozesse und 

454. 


Hypophysis cerebri, neuer Symptomenkomplex 
der 454. 

Hysteriebegriff bei Kriegsneurosen, Gefangenen¬ 
beobachtungen 456. 

Hysterische Taubheit, Behandlung 52. 

Hysterischer Spitzfuß 121. 

Ikterus infectiosus, Sonnenbehandlung 408. 

Innere Sekretion, Schwangerschaftsunter¬ 
brechung bei Störungen ders. 93. 

Invalidenfiirsorge, ärztliche, Grenzen des Er¬ 
reichbaren in der 125. 

Invertzucker, Infusion mit 406. 

Irrttimer, diagnostische, und deren Verhütung 
(Schwalbe) 409, — diagnostische und thera¬ 
peutische (J. Schwalbe) 123. 

Ischias, akute, Fußsohlen-Cremasterreflex bei 
ders. 487. 

Jugend, Kriegsernährung und 119. 

Jugendliche, Einfluß der Kriegskost im dritten 
Kriegsjahre auf Kinder und 85. 

Jugendliche, Röntgentiefentherapie bei dens. 
und Eierstocksfunktion 92. 

Kaliumpermanganatbehandlung der Variola 
410. 

Kalkthcrapie im Kindesalter 158. 

Kammer, feuchte, Wundbehandlung in ders. 

86 . 

Kardiale Hydropsien, Diätkuren 23. 

Karies, Zahn-, Brot und 22. 

Karzinom, Radiumbehandlung 249, - des Ver¬ 

dauungsapparats, diagnostische Bewertung 
von okkulten Blutungen bei 31. 
k Karzinomo^erationen, prophylaktische Be- 
1 Strahlungen nach, und Erfolge der Rezidiv- 

| behandlung mittels Röntgenlicht und Radium 

t 122. 

\ Karzinomrezidiv, Erfolge der Röntgen- und 
Radiumbehandlung bei 122. 

Käse und Fleisch bei Durchfällen 158. 

Kind, Einwirkung äußerer Einflüsse auf die 
Temperatur dess. 407. 

Kinder, Einfluß der Kriegskost im dritten 
Kriegsjahr auf Jugendliche und 85, — ge¬ 
sunde und kranke bis zum 2. Lebensjahre, 
künftige Gestaltung ihrer Ernährung 85. 

Kindesalter, Einfluß der Säuglingsernährung 
auf Ernährungszustand und Muskulatur im 
119, — Fiebertherapie bei Gonorrhoe im 
407, — Ka\fetherapie im 158. 

ßlimabohandlung bei Erkrankungen der Harn¬ 
organe 443. 

Klysmen, Bittersalz- und Kochsalzlösungen 
für Glyzerin bei der Verwendung zu 410. 

Knickfuß und Plattfuß, Gehfähigkeit bei 120. 

Knochenerkrankungen, Röntgentherapie 91. 



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VIII 


Sachregister. 


Kochsalzlösungen, Bittersalz- und, für Glyzerin 
bei Verwendung zu Klysmen 410. 

Kochsalzretention, Wasser- und 845. * 

Kohlensäurebäder bei Herzerweiterungen 447. 

Kongreßberichte, Waffenbrüderliche Ver¬ 
einigungen Deutschlands und Österreich- 
Ungarns (11. bis 13. Oktober 1917) 57, 443, 
475. 

Konus medullaris, Verletzungen des 285. 

Krankendiät, Kriegsmebl und Mehlnährpräparate 
in der 22. 

Krankenemährung, einheitliche Regelung 158. 

Kratze 156, 157. 

Krieg, Magenkrankheiten und 126. 

Kriegsbeschädigte, Thalassotherapie bei dens. 
108. 

Kriegsbeschädigtenfürsorge, Balneotherapie und 
57. 

Kriegserkrankungen, rheumatische und ähnliche, 
Nachbehandlung in Bädern und Heilanstalten 
46. 

Kriegsernährung im dritten Krieg^jahr, Ein¬ 
fluß auf Kinder und Jugendliche 85. 

Kriegsernährung in Deutschland und England, 
entscheidende Spezialfragen 119, — Jugend 
und 119, — sachgemäße 88, 77. 

Kriegsinvalide in Österreich, Krankenfürsorge 
für 60. 

Krieg8ko8t, Magenchemismus und 222. 

Kriegsmehl, Getreidepräparate und Malzextrakt 
22, — Mehlnährpräparate und Krankendiät 
22 . 

/ Kriegsnephritiden 409, — Behandlung 55, — Be¬ 
handlung in Speziallazaretten 459. <v 

Kriegsneurologie, Neurosenproblem im Lichte 
der 96. 

Kriegsneurologische Beobachtungen 409. 

Kriegsneurosen an der Front 265, — Behand¬ 
lung 94, — Behandlung und Beurteilung 
30, — Hysteriebegriff bei, Gefangenenbeob¬ 
achtungen 456, — motorische, Behandlung 
89, 483. 

Kriegsödem 95. 

Kriegsverwundete, Thalassotherapie bei dens. 
108. 

Kropfherz 454. 

Kupferbehandlung bei äußerer Tuberkulose 90. 

Kurbehandlung, Bäder- und, in der deutschen 
Armee, Organisation ders. 58, — Bäder und, 
in der östereicbisch-ungarisdfken Armee 59. 

Kurierzwang und Kurpfuscherfreiheit 95. 

Kurorte, herzkranke Soldaten und 1, — Trink¬ 
kuren in dens. bei habitueller Stuhlträgheit 
888 . 

Kurpfuscherfreiheit und Kurierzwang 95. 


Lähmung der Gliedmaßenmuskeln nach Schwer¬ 
verletzung, Behandlung 87. 

Lebererkrankungen, infektiöse 871. 

Leukämie, lymphatische, Prognose und Röntgen¬ 
therapie durch 240, — Tiefenbestrahlung 
bei 122. 

Licht, absorbiertes, Fernwirkungen 159. 

Lichtbehandlung, Augenleiden und 159, — Phy¬ 
sikalisches und Technisches 149, 176. 

Lungenaffekt, Vibroinhalation bei chronischem 

120 . 

Lungenkranke mit offener Tuberkulose, Erfolge 
und Mißerfolge der Stettiner Fürsorgestelle 
für 410. 

Lungensteckschuß und Retention eines sonden¬ 
artigen Gebildes im Brustraum mit stereo¬ 
skopischer Aufnahme 91. 

Lungensyphilis, Röntgendiagnostik 160. 

Lungentuberkulose, Erwerbsfähigkeit bei, Be¬ 
gutachtung im Invalidenrentenverfahren 
803,. — Psychische Momente und 128. 

Lungenverletzungen, Pneumothorax, künstlicher, 
bei 24. 

Lupinen, Entbitterung ders. 407. 

Lymphone, Hals-, Röntgentherapie tuberkulöser 
26. 

Lyoner neurologische Zentralheilstätte 126. 

Hagen, Zunge als Spiegel dess. 192. 

Magendarm, Funktion dess. als Grundlage der 
Diagnostik 218. 

Magendarmkrankheiten, Röntgendiagnostik 
87. 

. Magenerkrankungen, Krieg und 126. 

Magensaftsekretion, Anomalien der, als Spät¬ 
folge von Ruhr und Unterleibstyphus 
450 . 

Magenschleimhaut, Infektion der ösophagus- 
und 354. 

Malaria, Optochin bei 96. 

Malariarezidiv und Heilung 866. 

Malzdiastase, Verdaulichkeitsprüfung der Stärke 
verschiedener pflanzlicher Futtermittel durch 
406. 

Malzextrakt, Getreidepräparate und Kriegsmehl 

22 . 

Medizinisches Fremdwörterbuch (Kühn) 490. 

Mehlnährpräparate, Kriegsmehl und Kranken¬ 
diät 22. 

Milch, homogenisierte 406. 

Milchinjektion bei Gonoblennorrhoe des Auges 
96. 

Milchtherapie, Optochinum basicum und, bei 
Pneumonie 192. 

Milzbrand, Rindernormalserum bei menschlichem 
92. 


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Sachregister. 


IX 


Morgenrothsche Chininderivate bei heißen Ab¬ 
szessen und infizierten bzw. infektionsver¬ 
dächtigen Wunden 32. 

Multostaten und Pantostaten, Zulässigkeit ders. 
in der Praxis 121. 

Muskeln, Wirkung von Temperatur und 
Feuchtigkeit auf den Blutzucker und die 
Arbeitskraft der 158. 

Muskulatur und Ernährungszustand im Kindes¬ 
alter, * Einfluß der Säuglingsernährung auf 
dies. 119. 

Nachbehandlung, chirurgische 475. 

Nagelerkrankungen, Röntgenbehandlung der483. 

Nahrungsmittel, Nebenprodukte der Schlachtung 
als 407. 

Nahrungsmittel fragen, Bericht über die vom 
Ärztekammervorstand berufene Versammlung 
über 157. 

Nephritiden, Kriegs- (Strauß) 409, — Behandlung 
55, — Behandlung in Speziallazaretten 459. 

Nephritis acuta, eiweißarme Diät bei 9. 

Nephritische Prozesse, Hypophysen extrakte 
und 451. 

Nephropathie, analbuminurische 96. 

Nervenerkrankungen, Schwangerschaftsunter¬ 
brechung, künstliche, bei 489. "* nr ' w 

Nervengelähmte Gliedmaßenmuskeln nach 
Schußverletzung, Behandlung 87. 

Nervenläsionen, Elektrizität bei dens. und ihre 
Erfolge 88. 

Nervenverletzte (‘Operierte), Schicksale ders. 
125. 

Neuralgiediagnose 286. 

Neurologische Fälle 262, — Kriegs-, Beob¬ 
achtungen 409, — Zentralheilstätte in Lyon 
für 126. 

Neurosen, aktive Therapie bei 275, — funk¬ 
tionelle, Suggestionstherapie ders. im 
Feldlazarett 127, — Kriegs-, an der 

Front 265, — Kriegs-, Behandlung 94, 

483, — Kriegs-, Hysteriebegriff bei, Ge¬ 
fangenenbeobachtungen 456, — motorische, 
Kriegs-, Behandlung 89, 483. v 

Neurosenproblem im Lichte der Kriegsneuro- 
logie 96. 

Niere, sekretorische Innervation der 480. 

Nierenkrankheiten bei Feldzugsteilnehmern, 
Prognose 28, — kriegsärztliche Erfahrungen 
bei 490. 

Normalserum, Rinder-, bei menschlichem Milz, 
brand 92. 

Obstipation s. auch Stuhlträgheit. 

Odem, Kriegs- 95. 

Ödembildung durch Salzzufuhr, Theorie ders. 

•46. 


Odemkrankheit, eine analbuminurische Nephro¬ 
pathie 96. 

Okkulte Blutungen bei Karzinom des Verdau¬ 
ungsapparats, diagnostische Bewertung 31. 

Optochin bei Malaria 96. 

Optochinum basicum, Milchtherapie und, bei 
Pneumonie 192. 

Ösophagus, Röntgenbeobachtung über funktio¬ 
nelles Verhalten des 483. 

Ösophagusschleimhaut, Infektion der Magen- 
und 854. 

Pankreasdiastase, Verdaulichkeitsprüfung der 
Stärke verschiedener pflanzlicher Futter¬ 
mittel durch 406. 

Pantostaten und Multostaten, Zulässigkeit ders. 
in der Praxis 121. 

Paralyse, Einfluß von Salvarsan auf den Ver¬ 
lauf der 408. 

Pathologie und Therapie, spezielle, innerer 
Krankheiten (Kraus-Brugsch) 455. 

Peritonitis tuberculosa, Behandlung mit künst¬ 
licher Höhensonne 485. 

Phlegmone, Behandlung 86. 

Physikalische Heilmethoden, zur Geschichte 
dere. 187, — Therapie bei Verwundeten und 
Rekonvaleszenten der französischen Armee 
durch 96. 

Physikotherapie, deutsche, in französischem 
Lichte 190. 

Pigmentation, Heliotherapie und 160. 

Plattfuß, Knickfuß und Gehfähigkeit 120. 

Plazentapräparate, Dia-Sorcym-, serodiagnosti¬ 
sche Schwangerschaftsreaktion unter Ver¬ 
wendung ders. 28. 

Plethysmographie bei Herzkrankheiten 814. 
— Webereche, Funktionsprüfung des Her¬ 
zens mittels dere. 31. 

Pneumonie, Optochinum basicum und Milch¬ 
diät bei 192. 

Pneumothorax, künstlicher, bei Lungenver¬ 
letzungen 24. 

Poliomyelitis acuta anterior bei einem Soldaten 
263. 

Polyarthritis • chronica progressiva destruens, 
Diagnostik und Therapie 124. 

Polycythämie Röntgentherapie 228. 

Polyneuritis ambulatoria mit Diplegia facialis 
256, — Schwangerschaftsunterbrechung, 

künstliche bei 489. 

Proteusreaktion, Weil-Felixsche, bei Fleckfieber 
488. 

Psychische Momente, Lungentuberkulose und 
128. 

Puteuntersuchungen, Blutdruck- und, bei Kriegs¬ 
teilnehmern 311. 


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X 


Sachregister. 


Quarzlampe 25. 

Quellenschriften chemische, Materialien aus 
dens. 187. 

Radioaktive Substanzen, sekundäre Strahlungen 
der Röntgenstrahlen und der y-Strahlen 
ders. 484. 

Radiumbehandlung des Karzinom, insbeson¬ 
dere des Rektumkarzinoms 249, — Erfolge 
der Röntgen- und, bei Karzinomrezidiven 
122 . 

Rekonvaleszenten der französischen Armee, 
physikalische Therapie bei dens. 96. 

Rekonvaleszentenbluttransfusion bei Fleckfieber 
453. 

Rektumkarzinom, Radiumbehandlung 249. 

Rheumatische Kriegserkrankungen, Nachbehand¬ 
lung in Bädern und Heilanstalten 46. 

Rheumatismus 457. 

Rindernormalserum bei menschlichem Milz¬ 
brand 92. 

Roggenkleie, Verwendung für die Ernährung 
des Menschen 406. 

Röntgenbehandlung der Akne 91, —, Gebim- 
und Rückenmarkstumoren 451, — in der 
inneren Medizin, gegenwärtiger Stand und 
Aussichten 452, — der Nagelkrankheiten 
483. 

Röntgenbeobachtung über funktionelles Ver¬ 
halten des Ösophagus 488. 

Röntgenbestrahlungen, prophylaktische, nach 
Karzinomoperation und Erfolge der Rezidiv¬ 
behandlung mittels Röntgenlicht und Ra¬ 
dium 122. 

Röntgendiagnostik des Verdauungskanals 87, 
— HirschsprungBche Krankheit und 452, 
— Lungensyphilis und 160. 

Röntgendurchleuchtungen, Adaptionsbrille für 
91. 

Röntgenenergie, wirksame, in der Tiefenthe¬ 
rapie und ihre Messung'452. 

Röntgenschutzpasten 452. 

Röntgenstrahlen, chemische Wirkung der 408, 
—, Physikalisches über Entstehung und 
Natur der 452, — sekundäre Strahlungen 
der Röntgenstrahlen und der y-Strablen der 
radioaktiven Substanzen 484. 

Röntgentherapie bei chirurgischer Tuberkulose, 
insbesondere bei Knochen- und Gelenker¬ 
krankungen 91, — des malignen Granuloms 
der Polycythämie 233, — Halslymphome, 
tuberkulöse 26, — Prognose und, der 
lymphatischen Leukämie 240. 

Röntgentiefentherapie bei Jugendlichen und 
Eierstocksfunktion 92, — Kleinigkeiten zur 
Technik der 90. 


! Röntgenzimmer, Gasvergiftung im, und ihre 
Verhütung 91. 

Rostock, Bericht über die Tagung der Zentral¬ 
stelle für Balneologie am 3. und 4. Sep¬ 
tember 1916 in 23. 

Rückenmarkstumoren, Röntgenbehandlung 451. 

Rückenmarkverletzung, Bläsenexpression bei 
Detrusorlähmungen durch 121. 

Ruhr, Anomalien der Magensaftsekretion als 
Spätfolge der 450, — chronische 30, — The¬ 
rapie 450. 

Ruhrschutzimpfung im Kriege 453. 

Salvarsan, Einfluß dess. auf Verlauf von Tabes 
und Paralyse 408. 

Salzzufuhr, Ödembildung durch, Theorie ders. 
345. 

Säuglingsernährung, Einfluß auf Erqährungszu- 
stand und Muskulatur im Kindesalter 
119, — Vollmehl in der 222. 

Säuglingskrankheiten, Leitfaden der (Birk) 
160. 

Schlachtung, Nebenprodukte der, als Nahrungs¬ 
mittel 407. 

Schutzimpfung, Choleraimmunität nach 408. 

Schwangerschaft, Tuberkulose und 488. 

Schwangerschaftsreaktion, serodiagnostische, 
unter Verwendung von Dia-Sorcym-Plazenta- 
präparaten 28. 

Schwangerschaftsunterbrechung bei Nerven¬ 
erkrankungen 489, — bei Stoffwechsel¬ 

krankheiten und Störungen der inneren 
Sekretion 93. 

Schweinebestand, Einwände gegen Verringerung 
dess. 120. 

Schwerverletzungen, Behandlung nervenge¬ 
lähmter Gliedmaßenmuskeln nach 87. 

Sekretion, innere, s. auch Innere 

Sekundärstrahlen und Härtegrad 90. 

Sensibilitätsbezirke, spinale, der Haut, Topo¬ 
graphie ders. 410. 

Serum, Rindernormal-, bei menschlichem Milz¬ 
brand 92. 

Serumtherapie bei Fleckfieber 858. 

Siemens-Aureollampe 149, 161, — Erfah¬ 

rungen 26. 

Silberpräparate, elektro-kolloidale, bei akutem 
Gelenkrheumatismus 127. 

Sklerose, multiple, Ursachen 456. 

Soldaten, herzkranke, Behandlung in Kurorten 
und Heilstätten 1. 

Speicheldiastase, Verdaulichkeitsprüfung der 
Stärke verschiedener pflanzlicher Futter¬ 
mittel durch 406. 

Spitzfuß, hysterischer 121. 

Spondylitis deformans, Arsonvalisation bei 406. 

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Sachregister. 


XI 


Stärke verschiedener pflanzlicher Futtermittel, 
Verdaulichkeitsprüfung durch Malz-, Pan¬ 
kreas- und Speicheldiastase 406. 

Stettiner Fürsorgestelle für Lungenkranke mit 
offener Tuberkulose, Erfolge und Mißerfolge 
ders. 410. 

Stickstoffbilanz bei kalorienarmer Ernährung 
481. 

Stoffwechselkrankheiten, Schwangerschafts¬ 
unterbrechung bei 93. 

Strahlen, Sekundär-, und Härtegrad 90, — ultra¬ 
violette, bei Tuberkulose, Theorie ihrer 
Wirkung 89. 

Strahlentiefentherapie 89. 

Strahlungen, sekundäre, der Röntgenstrahlen 
und der y -Strahlen der radioaktiven Sub¬ 
stanzen 484. 

Strahlungserscheinungen 452. 

Stublträgheit, habituelle, Trinkkuren in Kur¬ 
orten bei ders. 838. 

Stümpfe, nicht prothesenreife, Indikation der 
chirurgischen Behandlung 478. 

Suggestionstherapie funktioneller Neurosen im 
Feldlazarett 127. 

Symptomatische. Therapie auf experimentell- 
pharmakologischer Grundlage 28. 

Syphilis des Herzens und der Gefäße 828. 

Tabes, Salvarsan und sein Einfluß auf Verlauf 
der 408. 

Taubheit, hysterische, Behandlung 52, — hyste¬ 
rische, Therapeutisches 224. 

Temperatur des Kindes, Einwirkung äußerer 
Einflüsse auf die 407, —, Wirkung von 
Feuchtigkeit und, auf die Arbeitskraft der 
Muskeln und den Blutzucker 158. 

Thalassotherapie Kriegsverwundeter und -be¬ 
schädigter 106. 

Therapie, symptomatische, auf experimentell- 
pharmakologischer Grundlage 29. 

Tiefenbestrahlung bei Leukämie 122. 

Tiefentherapie, Glühkathodenröhren (Coolidge- 
Röhren) in der 159. 

Trinkkuren in Kurorten bei habitueller Stuhl¬ 
trägheit 888. 

Tuberkulin in der Praxis des Arztes 27. 

Tuberkulinimpfung, seltenerer Reaktionsverlauf 
bei probatorischer 128. 

Tuberkulinimpfungen, Hautreaktion bei dens. 
und ihre Bedeutung für Therapie und Pro¬ 
phylaxe der Tuberkulose 27. 

Tuberkulomucin, Erfahrungen mit dems. bei 
einem großen Krankenmaterial 93. 

Tuberkulose, Alkohol und 128, — äußere, 
Kupferbehandlung 90, —, chirurgische, 

Röntgentherapie 91, — Erfolge und Miß- 


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erfolge der Stettiner Fürsorgestelle für 
Lungenkranke mit offener 410, —, Haut 
reaktion bei Tuberkulinimpfungen und ihre 
Bedeutung für Therapie und Prophylaxe 
der 27, —, Heilwirkung spontaner Anti¬ 
körperbildung in der Haut bei äußerer 
und innerer 92, — primäre, sekundäre 

und tertiäre, folgerichtige Bekämpfung 
ders. 31, — Schwangerschaft und 488, 

—, ultraviolette Strahlen bei, Theorie ihrer 
Wirkung 89. 

Tuberkulosehäufigkeit, anatomische Unter¬ 
suchungen über 457. 

Tuberkulosetherapie, spezifische, und allgemeine 
Praxis 92. 

Tuberkulöse Halslymphome, Röntgentherapie 
26. 

Tumoren, maligne, kritische Studie zur ex¬ 
perimentellen Therapie ders. 450. 

Überdruckapparat, Improvisation des«. 482. 

Überempfindlichkeit, Appendicitis und 161. 
—, krankhafte, und ihre Behandlung 129, 
198, 879, 411. 

Ultraviolette Strahlen bei Tuberkulose, Theorie 
ihrer Wirkung 89. 

Urämiebehandlung, Grundlagen 487. 

Urticaria appendicularis 161. 

Takzinenlehre, physikalische Behandlung des. 
Gelenkrheumatismus im Lichte der 115. 

Variola, Kaliumpermanganatbehandlung 410. 

Verdaulichkeitsprüfung der Stärke verschie¬ 
dener pflanzlicher Futtermittel durch Malz-, 
Pankreas- und Speicheldiastase 406. 

Verdauungsapparate, diagnostische Bewertung 
von okkulten Blutungen bei Karzinomen 
ders. 31. 

Verdauungskanal, Röntgendiagnostik 87. 

Vereinsberichte, siehe Kongresse. 

Verschüttungskrankheit, eigenartige 407. 

Verwundete der französischen Armee, physi¬ 
kalische Therapie bei dens. 96. 

Vibroinhalation bei chronischen Lungen- 
affektionen 120. 

Vollbrot 222. 

Vollmehl in der Säuglingsernährung und Voll¬ 
brot im allgemeinen 222. 

Waffenbrüderliche Vereinigung Deutschlands 
und Österreich-Ungarns, Tagung der medi¬ 
zinischen Abteilung (11. biB 13. Okt 1917) 
57, 443, 475. 

Wasser, Emanation dess. 224. 

Wasserretention, Kochsalz- und, zur Theorie 
der Ödembildung durch Salzzufuhr 845. 

Webereche Plethysmographie, Funktionsprüfung 
des Herzens mittels ders. 31. 


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XII 


Sachregister. 


Weil-Felixsche Reaktion 88, — im Harne Fleck¬ 
fieberkranker 488, — klinische Bedeutung 
der8. 488. 

Wolhynisches Fieber, Beziehungen zu anderen 
Krankheiten 862. 

Wundbehandlung, Dampfdusche und 17, — in 
der feuchten Kammer 86, —, offene, im 
Felde 159. 

Wunden, infizierte und infektionsverdächtige, 


Behandlung (insbesondere mit Morgenroth- 
schen Chininderivaten) 32. 

Zabnkaries, Brot und 22. 

Zentralheilstätte, neurologische, in Lyon 126. 
Zentralstelle für Balneologie, Bericht über die 
Tagung ders. in Rostock (3. und 4. Sept. 
1916) 23. 

Zittern, Behandlung 25. 

Zunge als Spiegel des Magens 192. 


4 


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Autoren-Register 


Alexander, W. 62, 266. 
Rachsteg 96. 

Ballner und Finger 488. 

Bangert 149. 

„ K. 176. 

Barabas 410. , 

Bardachzi und Barabas 410. 
Bauermeister, W. 452. 

Behm 158. 

Benischke, V. 26. j 

Bernoulli 489. 

Beyerhaus 488. 

Bieling, R. 31. 

Bier, A. 32. 

Bienenfeld 450. 

Birk 160. 

Birkner und Deininger 223. 
Boas, J. 31. 

Bockeimann 407. ! 

Boehncke 453. 

Bdkay, A. v. 6p. 

Boenheim 450. 

Boral 64. 

Böttner 128. 

Brauer und Loesner 407. 
Bräuning 410. 

Brieger 229. 

9 Walter 187. 

Brugsch 455. 

Buttersack 159. 

Chvostek 454. 

Christen, Th. 90. 

Cohn, Toby 121. 

Crämer 1?6. 

Caenea 92. 

Dalmady, Z. v. 46. 

Deininger 223. 

Dessauer 159. 

Dteermann 213. 

Deutsch 160. 


Deutsch, Friedrich 64. 
Dienemann 158. 

Dietrich 57. 

Draga, L. Th. E. v. 32. 
Drexel 158. 

Dünner, L. 31, 448. 
Ehrenreich 338. 

Eisenmenger 223. 

| Engelhorn, E. 122. 
j Engelmann 224. 

Faber 192. 

Feer 222, 

Finger 488. 

Fischer, Ilse, 406. 

Fließ, W. 454. 

Franke, Maryan 96. 

Fränkel, S., Bienenfeld und 
Führer 450. 

Fresacher, L. 24. 

Friedmann, Ulr. 364. 

Frisch, Joh. 63. 

Führer 450. 

Fuld, E. 161. 

€1 ähwyler 408. 

Gerbartz 845. 

Glaeßner, E. 454. 

Glax, Jul. 108, 

Goldscheider 129, 193, 379, 
410, 411. 

Goldstein, M. 127. 
y. Golz 303. 

Grau, H. 89. 

Griesbach, H. 119. 
Guggenheimer 223. 

Guhr, Michael 448. 

Guillermin 126. 
y. Hansemann 449. 
v. Hayeck 93. 

Hecht 476. 

Heddaeus 121. 


Heidenheim 408. 

Heinsheimer 222. 

Hellpach 482. 

Herzfeld, Ernst 311. 

His, W. 443, 446. 

Hirschfeld 224, 240. 

Hoefer 368. 

Hoffmann, A. 446. 
v. Hortenau, Jul. 63. 
v. Hoeßlin 27. 
y. Jagic und Salomon 23. 
Jansen 481. 

Jeannerel 160. 

Jellinek, Stefan 121. 
Jerusalem 478. 
i Imboden 96. 

Irenberg 86. 

Kabelik, J. 453. 

Kaminer, S., und Weingärtner 

91. 

Kapelusch und Orel 91. 
Karstedt 62. 

Kathariner 128. 

Kaufmann 30. 

Kaufmann, F. 89, 483. 

„ R. 447. 

Kausch, W. 406. 

Kantor, H. 95. 

Kirchner 444. 

Klare 158. 

Klemperer, G. 22, 448, 481. 
Klinger und Stierlin 486. 
Köhler, Alban 90. 

Kraus und Brugsch 455. 

. F. 124. 

„ Penna und Cuenea 

92. 

I Krebs, Walter 434, 467. 
i Kretschmer 262. 

Kroner 266. 


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XIV 


Autoren-Kegister. 


Kudrnäc, Jos. 24. 

Knhn und Steiner 456. 

Kühn 490. 

Kulka 410. 

Kfimmell 445. 

Uangstein 85. 

Lanz, E. 27. 

Laqueur, A. 17, 248. 485. 
Lasser-Ritscher 485. 

Latzei, Robert 126. 

Lee 158. 

Leo, W. 409. 

Lewandowsky, M. 30. 
Liebennei8ter, (Gr. 94. 

Lobe] 64, 476. 

Lobenhoffer 160. 

Loesner 407. 

• Löwy, Max 445. 

Haase und Zondek 95. 
Mamlock, G. 190. 

Matz, Friedr. 65, 97. 
Mauerhofer 480. 

May, R. E. 119, 120. 

Mayer, A. 406. 

„ Ernst 120. 

Mendel 192. 

Merian 483. 

Messerli 96, 160. 

Meßmer 62. 

Miescher, G. 452. 

Mörchen 456. 

Morgenroth, J., und R. Bieling 
31. 

Moser, E. 87. 

Mosler 862, 459. 

Moewes, C. 127. 

Müller, Otfr. 457. 

Nast, E. 407. 

Neuhäuser 87. 

Neustetter, Otto 95. 

Neutra 479. 

Noorden, C. v. 22. 

„ * „ u. Ilse Fischer 

406. 

Oeder, G. 84, 77. 

Offer 64. 

Ohly, A. 450. 


Oppenheim, G. 25. 

Orel 91. 

Papamarku 408. 

Pauletig, Marius 406. 

Penna 92. 

Petruschky 81. 
v. Pirquet 451. 

Pohorecky 120. 

Porten, Ernst v. d. 408.. 
Reichmann, Frida 23. 
Reimann 478. 

.Reihhart, A. 457. 

Reiß 487. 

Reusch 91. 

Rodella 487. 

Rosenthal, Eug. 122. 

„ Jos. 89. 

Sachs 489. 

Salkowski 482. 

Salomon 23. 

„ Hugo 443. 

Saenger, A. 451. 

Schanz 159. 

ff A. 407 
Scheminzky 224, 452. 
Schirokauer 314. 

Schleißner 490. 

Schlesinger 249. 

^ Emmo 87. 

ff Eugen 85. 

Schmidt, Ad., und Kauffmann 
30. 

Schmidt, H. E. 91, 452. 
Schönfeld, A., und V. Be- 
nischke 26. 

Schrumpf 323. 

Schütz, J. 444. 

n Jul. 59. 

Schütze 483. 

Schwalbe, J. 123, 409. 
Schwiening 58. 

Scott 158. 

Seligmann 453. 

Siebelt 86. 

Siegel, P. W. 454. 

Singer 275. 

Sokolow, Clara 407. 


Spitzy 125, 475. 

Staehelin, R. 450. 
Starkenstein, E. 29. 

Steiger, Max 452. 

Steiner, G. 456. 

Steinitz 848. 

Stemmler 62. 

Sterling, Stephan und Kazi- 
miera 88. 

Stierlin, Eduard 87, 486. 
Stoffel, A. 125. 

Stracker, Osc. 87, 478. 
Strasser, A. 55, 866, 443. 
Strauß, H. 409. 

» A. 90. 

Thenen, J. 60. 

Thoenen, Fritz 5>8. 

Tobias 286. 

Trendelenburg, W. 91. 
Treupel, W. 40^. 

Turban 128. 

Ulrichs und 0. Wagner 26. 
Urtel 159, 482. 

Vitecek 488. 

Voltz 484. 
v. Voornfeld 488. 

Wagner, Karl 25. 

* O. 26. 

Walkhoff 22. 

Walterhöfer 371. 

Wamekros, Kurt 122. 
Wedholm, Karl 119. 

Weiland, W. 28. 

Weingärtner, M. 91. 

Wei8z, Ed. 115. 

Wenckebach 446, 448. 

B ' K. F. 1. 

Werner, Hanns 86. 

* P- 92. 

Wichmann 92. 

Winter, G. 93. 

Winternitz 445. 

Wintz, H. 452. 

Wossidlo, Erich 9. 

Wurmfeld, Armin 96. 

Zondek 95. 

Zörkendorfer 64, 445. 


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32 


Referate über Bücher und Aufsätze. 


maßregeln für seine Lebensführung geben 
können. Auch wird durch die Plethysmographie 
die Unterscheidung zwischen Dilatation und 
Hypertrophie des linken Ventrikels, die be- I 
kanntlich klinisch Schwierigkeiten macht, mög¬ 
lich. Eine konzentrische Hypertrophie wird 
sich durch eine nachträglich ansteigende Kurve ] 
kundtun. Außerdem gestattet die Plethysmo- 
graphie eine Kontrolle weiterer therapeutischer 
Maßnahmen bei Herzkranken; so kann man j 
z. B. vor einer Digitaliskur eine umgekehrte 
Kurve, und nachher eine träge Kurve fest¬ 
stellen. 2. Die Plethysmographie gestattet die 
Trennung der organischen und funktionellen 
Herzstörungen. Nervöse Herzen haben stets 
eine normale Kurve (Weber u. F. Meyer). | 
Gerade jetzt während des Krieges, wo die 
Zahl der Herzkranken sehr groß ist, stehen 
wir sehr häufig vor der schwierigen 
Frage, ob es sich um eine organische oder 
funktionelle Affektion oder um Simulation 
handelt, eine Frage, die wir klinisch nicht 
immer exakt zu beantworten vermögen. Hier 
hat die Plethysmographie vielfach den Aus¬ 
schlag gegeben. Unter dem einschlägigen 
Material befinden sich auch einige Fälle, bei 
denen klinisch zunächst keine Abweichung zu ; 
finden war, die aber plethysmographisch nicht | 
als gesund oder nervös anzusprechen waren. | 
Wiederholte Nachuntersuchungen haben dann 
die Richtigkeit des Plethysmogramms bestätigt. 
Vielleicht Hegt hierin die größte praktische 
Bedeutung der Methode. Es soll freilich 
nicht verschwiegen werden, daß es unter den 
Nervösen Leute gibt, die so aufgeregt und 
unruhig waren, daß die plethysmographische 
Untersuchung aufgegeben werden mußte. 

L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). 

A. Bier, Über die Behandlung von heißen 
Abszessen, infektionsverd&chtigen und in¬ 
fizierten Wunden im aUgemelnen und mit 
Morgenrothschen Chininderivaten im be¬ 
sonderen. B. kl. W. 1917. Nr. 30. 

Die Chininderivate, insbesondere das in 
0,5%iger wässeriger Lösung gebrauchte 


Eucupinum bihydrochloricum haben sich bei 
örtlicher Behandlung geschlossener, durch 
Strepto- und Staphylokokken verursachte Ab¬ 
szesse mit Ausschluß der Pleuraempyeme be¬ 
währt; sie versagten ferner bei fortschreitenden 
Phlegmonen, waren dagegen bei Gelenkver- 
eiterungen wirkungsvoll. * Für die Kriegs- 
Chirurgie käme in erster Linie die prophy¬ 
laktische Behandlung und Versorgung ganz 
frischer Infektionen in Betracht. 

Während w ässerige Lösungen von Eucupi¬ 
num bihydrochloricum starke Reizungserschei¬ 
nungen und Schwellungszustände der Harnröhre, 
ohne genügende Anästhesie zu erzielen, im Ge¬ 
folge haben, erzeugen 1—3%ig© ölige Lösungen 
von Eucupinum basicum eine Daueranästhesie 
der Harnblase; jene zeigt sich hier vor allem 
bei der Tuberkulose in einer bedeutenden Ver¬ 
minderung der Krämpfe und des Harndranges 
sowie einer Vermehrung des Fassungsver¬ 
mögens der Blase. 

J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf). 

L. Tb. E. t. Draga (Zagreb), Zur diagnosti¬ 
schen Verwertbarkeit der mikroskopischen 
Hantkapillaren-Cnter8nchiingen am leben¬ 
den Menschen. Derselbe, Die Bewegungen 
der Haotkapillaren. W. kl. W. 1917. 
Nr. 22. 

Verfasser bestätigt die Befunde von Weiß 
bezüglich der Veränderung der Kapillaren am 
Nagelfalz (Vermehrung der Zahl derselben, 
stärkere Schlängelung, verminderte Strom- 
gescbwindigkeit, Anastomosenbildung der 
Schlingen) bei akuter und chronischerNephritis), 
erleichtert die klinische Verwertbarkeit der 
Methode durch Angabe der direkten Beobachtung 
der Kapillaren, illustriert durch einen Fall 
die differentiell-diagnostische Bedeutung des 
Kapillarverhaltens für die Abgrenzung der 
nephritischen Albuminurien von denen anderer 
Provenienz und schildert die rhythmische, 
aber nicht dem Herzrhythmus entsprechende 
peristaltische Wellenbewegung bei Aorten¬ 
insuffizienz. 

J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf). 


Im Anzeigenteil veröffentlicht das Reichsbank-Direktorium eine Bekanntmachung betreffend 
den Umtausch der Zwischenscheine für die 4 x / 2 % Schatzanweisungen und 5 % Schuldverschrei¬ 
bungen der VI. Kriegsanleihe in die endgültigen Stücke mit Zinsscheinen. Gleichzeitig werden 
die Inhaber von Zwischenscheinen für die I., III., IV. und V. Kriegsanleihe, die noch nicht in die 
endgültigen Stücke mit den bereits seit 1. April 1915, 1. Oktober 1916, 2. Januar, 1. Juli und 
1. Oktober 1917 fällig gewesenen Zinsscheinen umgetauscht worden sind, aufgefordert, diese 
Zinsscheine möglichst bald bei der „Umtauschstelle für die Kriegsanleihen“, Berlin W. 8, Behren¬ 
straße 22, zum Umtausch einzureichen. 

\V. Büxenstcin, l>ruek«r«*i un<1 iVutsehor Verlag 0. in. b. II., Ilnrlin SW. 48. 


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ZEITSCHRIFT 

FÜR 

PHYSIKALISCHE UND DIÄTETISCHE 

THERAPIE 


Begründet von E. v. Leyden und A. Goldscheider 

Herausgeber: 

A. GOLDSCHEIDER L. BRIEGER A. STRASSER 

Dr. W r ALEXANDER, Berlin VP, FHeUrtch-WJIhelm-Stfasse IS. 

te k nä •’« K? x *: : ; ;i - Iff ti '■'* "• ■ n Friedrich* 

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tiätrhoftrS ' - ♦ •:.> Li; /- ^ Korrektur 

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INHALT 


leitender Ant der 


Die pnafmÄHdtoQlscn 
öfeiDenaer Oosiferun 


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Deutsches Opiumprioarat 


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Amputier* 

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Löiaog 

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C. H. Boehringer Sohn 


Literatur u. Pvaben itif Vertagung de' Herr»?« Ante u. Zahnärzte 
C. M, BöehHhger So fw* C^em. ..Fabrik' Nieder - tnggiheim a/Rhem 


Anzeigen werden angenommen bei der 
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Original-Arbeiten. 


i. 

Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. 

Von 

Dr. med. Gustav Oeder, 

leit. Arzt der Dültkuranstalt in Niederlößnitz b. Dresden. 

Es scheint mir an der Zeit, unsere menschlichen Ernährungsverhältnisse im 
Deutschen Reiche einmal einer von politischen Gesichtspunkten freigehaltenen 
rein sachgemäßen Besprechung zu unterziehen. Wir müssen sachverständig 
prüfen, was und wieviel wir zur Erhaltung des Lebens, der Gesundheit und Arbeits¬ 
fähigkeit unserer reichsdeutschen Bevölkerung mindestens jährlich brauchen, und 
was wir mindestens durch die inländische Erzeugung an menschlichen Nah¬ 
rungsstoffen und Nahrungsmitteln dauernd zur Verfügung haben müssen und zu 
haben erwarten dürfen. 


A. Was und wieviel an Nahrung brauchen wir? 

Eine kurze Berechnung soll uns den täglichen und jährlichen Nahrungs¬ 
bedarf in runden Zahlen zeigen. Dazu ist zuerst nötig, die Zahl der reichs- 
deätschen Bevölkerung festzustellen. Ich muß dabei ausgehen von der Volkszählung 
am I. Dezember 1910, weil mir die amtlich festgestellten Zahlen der letzten 
Volkszählung noch nicht zugänglich sind. Nach den Veröffentlichungen des Kaiser¬ 
lichen Statistischen Amtes 1 ) waren am 1. Dezember 1910 ortsanwesend insgesamt 
64 925 993 Personen. Die amtliche Statistik zeigt vielerlei Gliederungen dieser 
Gesamtmasse, von denen uns hier nur die nach Lebensaltern beschäftigen soll. 
Diese Gliederung ist nach einjährigen Abstufungen, und zwar von 0 bis u / u , 
n ; 12 bis l'7i2 Jahren usw. erfolgt. Das 1. Lebensjahr umfaßt also statt 12 nur 
11 Lebensraonate. Für unsere Zwecke brauchen wir nun nicht Einzeljahresstufen; 
es genügen uns zusammengefaßte Altersgruppen von mehreren Jahren, welche 
gemeinsamen, ungefähr gleichen Nabrungsbedarf haben, wobei zu beachten ist, daß 
ceteris paribus die Zeit des Körperwachstums einen höheren Bedarf hat, wie die 
Zeit des Wachstumstillstandes. Eine Sonderstellung nimmt dabei noch das 1. Le¬ 
bensjahr mit dem relativ weitaus stärksten Wachstum und Nahrungsbedarf ein: 


*) Statistik des Deutschen Reiches, 240. Bd., Heft 1 u. 2. Verlag von Puttkamer & Mühl¬ 
brecht, Berlin 1915. 

ZciUchr. L pfcyaik. u. diät. Therapie Bd. XXIL Heft 2. 3 


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34 


Gustav Oeder 


dann kommt eine etwas schwächere 2. Wachstumsperiode, die man bis zum Ende 
des 15. Lebensjahres, und eine noch schwächere 3., die man bis zuin Ende des 
21. Lebensjahres rechnen kann. Danach haben wir 4. die Zeit des Wachstumstill¬ 
standes bis ungefähr zum Ende des 61. Lebensjahres und zuletzt 5. die Periode 
des geringen Rückgangs bis zum Lebensende. Ganz scharf ist eine auf solchem 
Einteilungsprinzip ruhende Gruppierung nicht; doch dürfte sie dem praktischen 
Bedürfnis hier genügen. Ich teile also die Gesamtbevölkerung von 1910 der 


Zahl nach in 
Geschlechter): 

folgende 5 große Altersgruppen (und 

zwar ohne 

Scheidung 

I. von 

0 bis zum vollendeten 1. Lebensjahr (11 Mon.) 

1 527 531 Personen, 

II. vom 2. bis 15. Lebensjahr. 

20 580 399 

V 

m. „ 

16- » 21. , . 

6 286 719 

rt 

IV. „ 

22. , 61. .. . 

31 417 140 

r* 

V. „ 

62. „ 117. „ (älteste Person!) . . 

5114 204 



Nun schätze ich, ebenfalls wieder ohne Trennung nach Geschlechtern, aber 
unter Berücksichtigung des jährlichen Zuwachses für 1. Oktober 1917 die Gesamt¬ 
bevölkerung auf rund 68 000 000 Personen, wovon entfallen 

auf die I. Gruppe ungefähr (11 Monate!) 1750000 Personen, 


ii. » 

V 

. . . 21000 000 


ui. „ 

* 

. . . 6 750000 

7f 

IV. „ 

r 

. . . 33 500 000 

n 

V. „ 

r» • 

. . . 5 000 000 

r> 


Bei dieser Schätzung habe ich berücksichtigt, daß ein Teil der ältesten Leute 
wahrscheinlich in höherem Masse in den letzten Jahren abgestorben ist, als früher; 
deshalb habe ich die Zahl der letzten Altersklasse niedriger eingesetzt, als 1910. 
Ferner ist durch die Kriegsverhältnisse zweifellos auch bei den übrigen Alters¬ 
klassen eine relative Verminderung eingetreten, der ich Rechnung zu tragen hatte; 
sonst hätte ich die Gesamtbevölkerung für 1. Oktober 1917, dem bisherigen Jahres¬ 
zuwachs entsprechend, auf rund 70 000000 schätzen müssen. Besonders in der 
III. Altersklasse ist durch den Krieg wohl ein geringerer Zuwachs, als bisher, wahr¬ 
scheinlich. Dann steht ein nicht unbeträchtlicher Teil der IV. Altersklasse vermntlich 
außer Landes; doch wird der dadurch erzeugte Abgang wieder etwas ausgeglichen 
durch den Zugang an Kriegsgefangenen, welche innerhalb der Reichsgrenzen unter- 1 
gebracht sind. Die angenommene Bevölkerungszahl von rund 68 000 000 dürfte 
daher annähernd mit der Wirklichkeit übereinstimmen; mehr sind es sicher nicht, 
und weniger — das wäre für unsere Zwecke unbedenklich, weil dann der 
Nahrungsbedarf höchstens für eine kleinere Gesamtzahl befriedigt werden müßte, 
also die Deckung kleiner sein könnte. 

Wollen wir uns nun ein Bild von dem Nahruugsbedarf dieser 68 000 000 
Menschen machen, so gehen wir am besten von ihrem Körpergewicht aus, weil 
das Körpergewicht den Ernährungszustand relativ am deutlichsten kennzeichnet. 
Wir können dabei natürlich nur Durchschnittszahlen zugrunde legen, um die 
Rechnung nicht zu sehr zu erschweren. Auf Grund der Queteletschen Durch¬ 
schnittsgewichte nach Lebensaltern 1 ) habe ich 

*) Berechnet nach Prof. Dr. Hermann Vierordt, Daten und Tabellen, S. 13. Jena 1893. 
Verlag von Gustav Fischer. 


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Original fro-rn 

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Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. 


35 


für die I. Altersklasse das Durchschnittsgewicht der ‘/»jährigen mit rund 7,0 kg, 


, . II. 

n n n 


R 

CO 

R 

r, , 22,0 ff 

r „ III. 

V V V 


R 

CO 

R 

„ „ 54 : 0 „ 

, . IV. 

n ff v 


. 44 , 

* » 63,0 „ 

. . V. 

Jf p r 


. 71 . 

„ n 61,0 „ 

angenommen. 

Daraus berechne ich 

fflr 1 750 000 der I. Klasse 

ein 

Gesamtgewicht von 

12 250 000 kg, 


„ 21000000 , II. , 

» 

v rt 

462 000000 p 


„ 6 750000 „ III. „ 

» 

» u 

364 500 000 „ 


ff 33 500 000 „ IV. „ 


n T) 

2110500000 rf 


„ 5 000 000 „ V. „ 

rf 

rt n 

305 000 000 jf 


„ 68 000 000 Menschen 



3 254 250 000 kg 


und für die Durchschnittseinheit 


= 47,86 kg 


68 000 000 

Dieses Gewicht stellt nicht das Gewicht des „normalen“, auch nicht eines „opti¬ 
malen“ Ernährungszustandes, sondern nur eine Art „Friedenszeitdurchschnitt“ dar, 
den man nach allgemeiner Auffassung für die Kriegszeit etwas vermindern darf, 
ohne Leben, Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung zu gefährden; doch 
soll diese Verminderung auf keinen Fall mehr, wie ca. 10°/ 0 betragen = 4,86kg. 
Ich komme so auf ein „Kriegsnotgewleht“ von durchschnittlich . . 43,00 kg. 
M. Rubner hat früher den Friedensdurchschnitt auf etwa 46 kg angegeben. Mein 
„Kriegsnotgewicht“ wäre also um 6,5 °/ 0 kleiner, als das Bubnersche durch¬ 
schnittliche Friedensgewicht. Ich glaube danach, daß meine Annahme eines 
lebensnotwendigen Mindestdurchschnittes von 43 kg für die Kriegszeit 
ernsten Bedenken kaum begegnen wird. 

Der Tagesmindestbedarf 

an Nahrung für dieses Durchschnittskriegsgewicht ist annähernd zu finden, wenn 
man ihn gleichsetzt in seinem Brennwert dem Verbrauch an Energiemengen, die zur 
Erhaltung dieser Mindestkörpermasse nach den bisherigen wissenschaftlichen 
und praktischen Erfahrungen im Lebensbetrieb täglich durchschnittlich unbe¬ 
dingt nötig sind. Ich gehe dabei aus von einem 

täglichen durchschnittlichen Kalorienbedarf (Erhaltungsumsatz) 
bei Bettruhe auf jedes Kilo Körpergewicht Erwachsener von 25 Kalorien, 

Zimmerarbeit „ ,, „ „ „ „ 35 „ 

.. mittlerer Arbeit „ „ „ „ ,, ,, 45 „ 

.. schwerer Arbeit „ „ „ „ „ „ 55 

und nehme an, daß (mit Ausnahme des 1. Lebensjahres) im Wachstumsalter der 
Gruppe II derselbe Erhaltungsumsatz wie bei schwerer Arbeit, im Wachstumsalter 
der Gruppe III der Umsatz wie bei mittlerer Arbeit, im Lebensalter der Gruppe IV 
ein Umsatz, der dem arithmetischen Mittel von mittlerer und Zimmerarbeit ent¬ 
spricht, und im Lebensalter V ein Umsatz vorhanden ist, der dem arithmetischen 
Mittel von Bettruhe und Zimmerarbeit gleichkommt. Für das 1. Lebensjahr rechne 
ich durchschnittlich 100 Kalorien pro Kilo und Tag. Um nun zu sehen, welchen 
Kaloriengesamtdurchschnitt ich meiner Berechnung des täglichen Mindestbedarfs 
zugrunde zu legen habe, habe ich das Kriegsnotgewicht jeder Altersklasse in 
Kilo mit dem entsprechenden Kalorientagesumsatz pro Kilo multipliziert und die 
Gesamtsumme der Kalorien durch die Gesamtsumme der Kilo dividiert. Ich erhalte 

3* 


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36 


Gustav Oeder 


so (Kriegsnotgewicht = Friedensgewicht —10 °/ 0 ): 


für die 


I. Altersklasse 


II. 

III. 

IV. 

V. 


12 250 000 — 1225 000 = 11025 000X 100 = 1 102 500000 KaU 

462 000 000 — 46 200 000 = 415 800000 X 55^= 22 869 000 000 „ 

364 500 000 - 36 450 000 = 328 050 000 X 45 = 14 762 250 000 w 

2 110500 000 — 211050000 = 1899450000 X 40 = 75978 000 000 „ 

305000 000 - 30 500 000 = 274 500 000 X 30 = 8 235 000 000 „ 


für 2 928 825 000 kg 122 946 750 000 Kal. 


oder für 1 kg Kriegsnotgewicht einen täglichen Mindestbedarf von 41,98 
rnnd 42 Kalorien. Ich bin mir wohl bewußt, daß dieser Kaloriendurchschnitt 
etwas niedrig gegriffen ist, weil eine große Zahl der Bevölkerungsgruppen III 
und IV in der Kriegszeit anstrengendere Arbeit, wie im Frieden, zu vollbringen 
hat; insbesondere unsere Feldsoldaten, die Landarbeiter und ein Teil der Rüstungs¬ 
arbeiter; doch haben die mehr als die Hälfte ausmachenden weiblichen Personen im 
allgemeinen wegen ihrer geringeren Muskelmasse einen etwas niedrigeren Bedarf, 
als die männlichen; ich habe aber beide gleich hoch berechnet; dadurch wird 
wohl ein hinreichender Ausgleich geschaffen; auch darf man bedenken, daß der 
Bedarf, den ich für alle 24 Stunden des Tages im Durchschnitt gleich gerechnet 
habe, nur für etwa 10 Stunden dem eigentlichen Arbeitsumsatz der Erwachsenen 
(45 bis 55 Kalorien) gleich ist, während etwa 6 Stunden den Umsatz bei Zimmer¬ 
arbeit, und etwa 8 Stunden nur den Verbrauch bei Bettruhe zu decken verlangen. 
In Berücksichtigung dieser Verhältnisse glaube ich, daß der Durchschnitt von 42 Ka¬ 
lorien pro Kilogramm und Tag zwar knapp, doch ausreichend ist namentlich für 
eine Berechnung, welche nur den durchschnittlichen Mindestbedarf uns beziffern 
soll. Sollte dieser Durchschnitt aber manchen zu hoch gegriffen erscheinen, so 
wollen dieselben sich vergegenwärtigen, daß ein etwaiger niedrigeren Bedarf auch 
gedeckt ist, wenn der Nachweis gelingt, daß die für den höheren Bedarf erforder¬ 
liche Nahrungsmenge vorhanden ist! 

Ich werde also mit den 2 Zahlen: 

43 kg als durchschnittlichem Kriegsnotgewicht und 

42 Kalorien als durchschnittlichem Kriegs-Notbedarf 
für die tägliche Nahrung rechnen dürfen. Der tägliche Nahrungsmindestbe¬ 
darf für die Durchschnittseinheit muß demnach 

mit 43 X 42 = 1806 Kalorien 
in seinem Brennwert berechnet werden. 


B. Deckung. 

Die Deckung muß diesem durchschnittlichen Minimalnahrungsbedarf ent¬ 
sprechen. Sie hat also mindestens täglich 1806 Kalorien auf die Durchschnitts¬ 
einheit, und tägliche Nahrung in diesem Brennwert zu liefern. Innerhalb 
dieser Gesamtdeckungshöhe können die einzelnen Nahrungsstoffe und -mittel für 
den Einzelfall verschieden gemischt werden, wobei aber nicht nur die Gesamthöhe 
sondern auch bestimmte Mindestmengen für die 3 Hauptgrundstoffe der Nahrung 
— Eiweiß, Fett und Kohlehydrate — unverrückbar eingehalten werden müssen. 
Unter keinen Umständen darf die minimale Gesamtdeckung auch nur tage¬ 
lang, geschweige denn dauernd unterschritten werden, weil sonst das 
Leben, die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit ernstlich bedroht, ja 


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Original fro-m 

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Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. 37 

einer mehr oder weniger schnellen völligen Vernichtung preisgegeben 
werden. Bei den folgenden Ausführungen habe ich das Wasser und die so¬ 
genannten „Nährsalze“ außer Betracht gelassen. Sie sind zwar ebenso lebens¬ 
wichtig, wie Eiweiß, Fett und Kohlehydrate, haben aber keinen eigentlichen 
Brennwert und stehen im allgemeinen in unbeschränkter Menge jederzeit zur 
freien Verfügung. Von den 3 Hauptbrennstoffen der Nahrung werde ich auch im 
einzelnen nur die Mindestmengen zugrunde legen, unter die man ohne Schä¬ 
digung des Körpers nicht herabgehen kann. Wenn auch über diese Mindestmengen 
die Meinungen der Sachverständigen in manchen Punkten etwas auseinander gehen, 
so wird man sich doch über eine mittlere Linie verständigen können. Als 

Eiweißminimum 

nehme ich im Durchschnitt 1,0 g reines Eiweiß pro 1 kg Körpergewicht und 1 Tag 
an. Für die Erwachsenen dürfte das reichlich, für die Wachsenden allerdings 
niedrig und für das Gi eisenalter hoch sein; namentlich für das 1. Lebensjahr 
wird man einen erheblich höheren Bedarf (das 2- bis 4fache!) im Auge behalten 
müssen; doch dürfte es nicht schwer sein, diesem Bedarf bei der Nahrungszuteilung 
aus Überschußbeständen besonders Rechnung zu tragen. Das „Optimum“ der 
Eiweißzufuhr dürfte für alle höher sein, als der hier angenommene Durchschnitt. 

Von dem Minimum kann je etwa die Hälfte aus dem tierischen und pflanz¬ 
lichen Eiweiß entnommen werden. Im tierischen Anteil noch weiter herunter zu 
gehen, erscheint mir meiner Erfahrung nach nicht ratsam; es spricht doch manches 
dafür, daß das Pflanzeneiweiß nicht ganz denselben biologischen Wert für den 
Aufbau und Ersatz des menschlichen Zelleiweißes hat, wie das tierische; auch 
für den Menschen nicht denselben Wert, wie für den Pflanzenfresser; einige 
nehmen auf Grund besonderer Erfahrung sogar an, daß die menschliche Fort¬ 
pflanzungsfähigkeit durch pflanzliches Eiweiß nicht so gut erhalten werden 
kann, wie durch tierisches. 

Ich nehme also hier für 43 kg Durchschnittskörpergewicht 43 g reines Eiweiß, 
= 176,3 Kalorien als tägliches Minimum an und decke davon durchnittlich 
täglich 21,5 g durch tierisches Eiweiß im Brennwert von 88,15 Kalorien und 

21,5 g durch pflanzliches „ „ „ „ 88,15 Kalorien. 


Das Fettminimum 


setze ich ebenfalls im Durchschnitt mit 1,0 g reinem Fett auf 1 kg Körpergewicht 
und Tag ein. Dabei braucht wohl biologisch kein Unterschied zwischen tierischem 
und pflanzlichen Fett gemacht zu werden. Ein Herabgehen aber unter die Gesamt¬ 
menge dürfte schon deshalb nicht unbedenklich sein, weil sonst durch die nötige 
äquivalente Vermehrung der Kohlehydratnahrung die gesamte Nahrungsmasse 
zu voluminös würde, und weil die Erfahrungen eine Begünstigung der Ent¬ 
stehung von „Hungerödemen“ und des Manifestwerdens latenter Tuberkulosen durch 
fettärraere Nahrung wahrscheinlich gemacht haben. Das „Fettoptimum“ scheint 
nicht unerheblich über dem hier angenommenen Minimaldurchschnitt zu liegen. 

Ich rechne also für 43 kg Durchschnittsgewicht 

täglich 43 g reines Fett = 399,9 Kalorien. 

Mit dieser Umgrenzung des Mindestbedarfs der täglichen Nahrung an den durch 
diese 2 Komponenten, Eiweiß und Fett, zu deckenden Brennwerten ist auch 


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38 


Gustav Oedcr 




die Kalorienmenge und damit die Menge des täglichen 

Kohlehydratminimums 

ohne weiteres gegeben. Die Kohlehydratnahrungsmittel müssen mindestens 
1806 — 576,2 = 1229,8 Kalorien decken, 
also täglich 299,8 g reines Kohlehydrat liefern. 

Fast V.t des täglichen Kalorienmindestbedarfs ist demnach aus den 

Eiweiß- und Fettspendern, 

etwas über 2 /., aus den Kohlehydratspendern unserer Nahrung zu holen. 

C. Die Nahrungsmittel, 

welche als hauptsächliche Spender für die 3 Nahrungsgrundstoffe von der 
inländischen Produktion geboten werden, sind als 

1. vorzugsweise Eiweißspender: Schlachttierfleisch, Geflügel, Wild, Fische, 
Magerkäse und Vogeleier; 

2. vorzugsweise Fettspender: Butter, Schweineschmalz, Margarine und öle; 

3. vorzugsweise Kohlehydratspender: Zucker, Kartoffeln, Getreide, Hülsen¬ 
früchte, Wurzelgewächse, Kraut-, Kohl- und Blattgemüse, Obst und Bier. 

Den täglichen Gesamtkalorienbedarf für 43 kg und die erforderlichen Eiweiß-, 
Fett- und Kohlehydratmengen können wir beispielsweise im einzelnen aus fol¬ 
genden Nahrungsmitteln in beigefügter abfallfreier Menge und Zusammensetzung 
bekommen: 


1. Eiweißspender: 

E. 

F. 

K. 

40,0 g fettes knochenfreies Schlachtfleisch (Kalb) . 

7,44 

2,84 

— 

10,0 g knochenfreies Geflügel (Hahn). 

2,27 

0,30 

0,25 

5,0 g Fisch ohne Gräten, Kopf u. Flossen (Hering) 

0,75 

0,35 

— 

20,0 g Käse (Magerkäse) .. 

6,76 

2,22 

0,82 

75,0 g 

17,22 

5,71 

1,07 

2. Fettspender: 

100,0 g Vollmilch (Kuh). 

320 

3,50 

4,80 

10,0 g Butter (Kuh). 

0,07 

8,12 

0,05 

15,0 g Schmalz (Schwein). 

0,03 

14,27 

— 

10,0 g Margarine („Sana“). 

0,05 

8,45 

0,04 

135,0 g 

3,35 

34,34 

4,89 

3. Kohlehydratspender: 

150,0 g Mehl (80 % Roggenausmahlung). 

10,05 

1,35 

104,70 

675,0 g Speisekartoffel (geschält). 

10,13 

0,68 

135,00 

45,0 g Zucker (Rübenzuckerraffin.) ...... 

— 

— 

44,06 

75,0 g grünes Gemüse (Schoten). 

3,53 

0,23 

7,80 

3,00 g Obst (Kirschen, entsteint). 

0,27 

— 

3,69 

975,0 g 

23,98 

2,26 

295,25 

1185,0 g Gesamtgewicht 

44,55 

42,31 

301,21 = 1811,1 Kal. 


In dieser Nahrung haben wir auf 1 kg Körpergewicht und Tag 42,12 Kal. 


Ich bemerke dazu, daß der Eiweiß-, Fett- und Kohlehydratgehalt dieser Nahrungs¬ 
mittel hier natürlich nur nach ungefähren Durchschnittszahlen ausgerechnet werden 
konnte; ich habe sie der Nahrungsmitteltabelle von Dr. Schall und Dr. Heisler 1 ) 

') Dr. Hermann Schall und Dr. August Heisler, Nahrungsmitteltabelle. Verlag von 
Kurt Kabitzsch, Wtlrzburg 1910. 


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Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. 


39 


entnommen. Anspruch auf absolute Genauigkeit können diese Zahlen um so weniger 
machen, als die Zusammensetzung der einzelnen Nahrungsmittel immer schwankt. 
Deshalb ist auf die kleine Unterdeckung beim Fett und die geringe anscheinende 
Überdeckung beim Eiweiß und bei der Gesamtsumme auch gar nicht zu achten. 
Bei Ersetzung einzelner durch andere äquivalente Nahrungsmittel kann die erforder¬ 
liche Ersatzmenge auch nicht immer genau abgewogen werden; die Mengengewichte 
sind eben runde Zahlen, bei denen nicht erwartet werden kann, daß die daraus 
errechneten Kalorienmen&en stets auf Tüpfelchen ganz genau den Bedarf decken. 
Annähernd aber stimmt die Rechnung. 

In das Berechnungsbeispiel habe ich aus der großen Zahl der fast regel¬ 
mäßig in Betracht kommenden Nahrungsmittel nur eine kleine Zahl — allerdings 
die wichtigsten — wahlweise eingesetzt. Als Ersatz dafür und zu ihrer Ergänzung 
stehen uns noch zu Gebote und können auch zur nötigen Abwechslung tageweise 
gebraucht werden: 


1. Hühner- und andere Geflügeleier, 

2. Schlachtblut (und Wurst), 

3. Eßbare Eingeweide der Schlachttiere, 

4. Scblacbttiere (außer dem genannten 
Kalb), 

5. Geflügelarten (außer dem genannten 
Hahn), 

6. Wildbret, 

7. Fischarten (außer dem - genannten 
Hering), 

8. Schaltiere, 

9. Gelatinen, 

10. Käsearten (iußer dem genannten 
Magerkäse), 

11. Knochenmark, 

12. Öle aus Samen, Bucheckern und 
Getreidekeimen, 

13. Lebertran, 

14. Speck, Talg, 

15. Sahne, 

16. Vegetabile Milch, 

17. Getreidearten (außer dem Roggen), 

18. Teigwaren, 


19. Mais, 

20. (Reis), 

21. Kastanie, 

22. Hagebutte, 

23. Kohlrübe und Kohlrabi, 

24. Weiße, rote, gelbe Rüben, 

25. Rettiche und Radieschen, 

26. Kraut-, Kohl- und Blattgemüse, 

27. Hülsenfrüchte (außer den genannten 
Schoten), 

28. Spargeln, 

29. Schwarzwurzeln, 

30. Pilze, 

31. Tomaten, Gurken und Kürbisse, 

32. Weintrauben und andere Beeren, 

33. Nüsse und Mandeln, 

34. Kern- und Steinobst (außer den 
Kirschen), 

35. Bienenhonig, 

36. Schokoladen und Malzzucker, 

37. Biere, 

38. Frauenmilch u. a. m. 


Je nach der Jahreszeit, Örtlichkeit, verfügbaren Vorräten, etwaiger Krankheit, 
individuellem Geschmack und Gewohnheit wird tageweise bald das eine, bald das 
andere dieser Nahrungsmittel zum ganzen oder teilweisen Ersatz der im Berechnungs¬ 
beispiel genannten herangezogen werden können; doch wird der Ersatz nur inner¬ 
halb der Eiweiß-, Fett- und Kohlehydratgruppen und immer nur in Mengen von 
gleichem Brennwert 'und annähernd gleichem Gehalt an den 3 Grundnährstoffen 
erfolgen dürfen, wie er für die Beispielsnahrungsmittel angenommen war. Kleine 
Unterschiede in der Zusammensetzung nach Gesamtbrennwert können wochenweise 


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40 


Gustav Oeder 


ausgeglichen werden. Nur so kann die Gesamt- und Einzeldeckung des Bedarfs 
gewährleistet werden. Wenn eben bei der Einsetzung der Ersatzstoffe ins 
Berechnungsbeispiel an einem Tage zuviel Eiweiß oder Fett herauskäme, kann 
der andere Tag durch eiweiß- oder fettärmere Stoffe den Ausgleich bringen. Auf¬ 
fallen könnte, daß ich im Berechnungsbeispiel die Geflügeleier nicht eingestellt 
habe. Das wird seine Erklärung finden dürfen in der Tatsache, daß sie für die 
Kalorienberechnung wegen ihrer unsicheren und kleinen Produktionsmengen keine 
Bedeutung haben; ich habe eben in dem Beispiel nur die wichtigsten und in stets 
erfaßbarer Menge vorhandenen Nahrungsmittel dabei berücksichtigen können. 
Wenn ich beim Schlachtfleisch bloß die Kalorienwerte für das Kalb eingesetzt 
habe, so geschah das, weil in diesem Mittelwert eine Ersetzung leicht durch die 
anderen Schlachttierfleischwerte möglich ist. Den Magerkäse habe ich als 
Beispiel gewählt, weil er sozusagen als Nebenprodukt bei der Butterherstellung 
aus demselben Grundmatevial (Kuhmilch) gewonnen werden kann. Beim Schmalz 
bin ich vom Schweineschmalz ausgegangen, weil das Schwein neben der Kuh 
unser bester Fettproduzent aus allerlei pflanzlichen Kohlehydraten ist. 
Roggenmehl, .Kartoffeln und Rübenzucker, die ich im obigen Beispiel noch 
genannt habe, sind die Grundlagen der menschlichen Kohlehydratnahrung. Änliche 
Erwägungen waren für die Auswahl der anderen Beispiele maßgebend. 

Bei dieser Gelegenheit muß ich noch einmal auf einen Umstand besonders 
aufmerksam machen, der mir gegen eine reichlichere Verwendung pflanzlicher 
Kohlehydratnahrnngsmittel zu sprechen scheint, nämlich auf das Volumen und 
Gewicht der menschlichen Nahrungsmittel. In unserem Berechnungsbeispiel 
wiegt die gesamte tägliche Mindestnahrung für 43 kg Kriegsnotgewicht bereits 
mindestens 1185 g; dazu kommt noch das nötige Wasser. Wenn ich dieses Nahrungs¬ 
gewicht auf das Körpergewicht des Erwachsenen umrechne, kommen für 64,5 kg 
(= l’/sfaches Durchschnittsgewicht) bereits 1780 g heraus; dazu noch 1500 g Wasser! 
Das ergibt täglich 3280 g = über 6 V 2 Pfund tägliches Mindestnahrungs¬ 
gewicht! Mehr können nur wenige Menschen aufnehmen; bei vielen reicht das 
Fassungsvermögen ihres Magen-Darmkanals nicht einmal dazu aus. Da 
die Kohlehydratnahrung am voluminösesten ist, kann sie nicht schrankenlos ver¬ 
mehrt werden. Man wird häufig, um das Nahrungsvolumen dem Fassungsvermögen 
des Magens und Darms anzupassen, sogar die Kohlehydratmenge vermindern und 
den Ausfall durch äquivalente, aber kompendiösere Fettmengen ersetzen müssen, 
die bei kleinerem Gewicht und Volumen den größten Brennwert liefern; oft beträgt 
das Volumen des Fettes nur V 20 äquivalenter Kohlehydratmengen aus den 
Vegetabilien! Dieser Umstand zwingt meist dazu, die pflanzlichen Nahrungsmittel 
durch das Tier erst in das kompendiösere Fett umwandeln zu lassen. Dazu 
brauchen wir vor allem das Schwein. Das mögen die bedenken, die immer nur auf 
den Brennwertverlust hinweisen, der durch diese Umwandlung theoretisch entsteht! 

D. Der jährliche gesamte Mindestnahrungsbedarf 
für die 68 000 000 Menschen im Deutschen Reich läßt sich auf Grund des oben 
berechneten täglichen Durchschnittsbedarfs für 365 Tage leicht in seinem Brenn¬ 
wert beziffern. Die Gesamtkaloriensumme würde sein: 

1806 X 365 X 68 000 000 = 44 8 2 4 92 0 000 000 Kalorien. 

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Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. 


41 


Mit dieser schwindelnd hohen Zahl kann man jedoch keine rechte Vorstellung 
der jährlich nötigen Nahrungsmengen verbinden. Um ein verständlicheres Bild 
davon zu bekommen, müssen wir die Nahrungsmittel selber in ihren einzelnen 
Mengen ausrechnen. Ich gehe dabei von den täglichen Mindestmengen des 
Einzeldurchschnitts aus, die im Berechnungsbeispiel angegeben sind, wobei t ich 
beim Schlachtfleisch die einzelnen Viehsorten, und beim Getreide die wichtigsten 
Getreidesorten einzeln aufführen werde, die hauptsächlich in Betracht kommen. 

Diese Berechnung ergibt in Tonnen (= 1000 kg) rund: 

• täglich jährlich 


1. für täglich -10,0 g abfallfreies Schlachtfleisch von Ochsen, Bullen, 

Stieren, Jungvieh, Kälbern, Schweinen, Schafen 



und Ziegen . . . 

2 720 t 

992 800 t 

'2 

10,0g abfallfreies Gef 1 ügel-u. WiIdfl eisch von Huhn, 
Hahn, Gans, Ente, Rebhuhn, Fasan, Truthahn, 



•V - 

Reh, Hirsch, Hase, Kaninchen usw. 

„ 5,0 g abfallfreies Fleisch der Fluß und Seefische 

680 t 

248 200 t 


(außer Aal) . 

340 t 

124 100 t 

4. . 

20,0 g Magerkäse aus Kuhmilch. 

1360 t 

496 400 t 


100,0 g Kuhvollmilch. 

6800 t 

2482 000 t 

6. - 

10,0 g Kuhbutter. 

680 t 

248 200 t 

4 - 

„ 15,0gSchweineschmalz . 

1020 t 

372 300 t 

8. 

10,0 g Margarine (Sana). 

680 t 

248 200 t 

c* 

45,0 g Zucker aus Zuckerrüben . 

3060 t 

1 116 900 t 

IO. _ 

^ 150,0 g 80% Mehl aus Roggen und Weizen. 

10 200 t 

3 723000 t 

11 - 

675,0 g geschälte = 750 g ungeschälte Kartoffeln 

51 000 t 

18 615 000 t 

12. _ 

75,0g abfallfreies grünes Gemüse. 

5 100 t 

1 861 500 t 

IX . 

30,0 g „ Obst. 

2 040 t 

744 600 t 


Um diesen Jahresbedarf an den einzelnen Nahrungsmitteln zu befriedigen, 


brauchen wir 


I. Fleisch. 


Zur Gewinnung der 992 800 t abfallfreien Schlachtfleisches gehören: 



im Einzel- 

Gesamt- 





Kuocb. 


Scblachttiersorten Schlacht¬ 

Schlacht¬ 

= 

Fleisch 


Fett u. 

und 


gewicht 

gewicht 





Sehnen 

rund 

425 000 Ochsen i 

575 000 Bullen j J ' db ° kg 

350 000 t 

60 % 

= 210 000 t 

25% = 

87 500 t 

15% 


1 700 000 Kühe .... 275 B 

467 500 t 

65% 

= 303 875 t 

20% = 

93 500 t 

15% 


1 000 000 Stiere u. Jung¬ 








rinder . . . 150 „ 

150 000 t 

70% 

= 105 000 t 

15% = 

22 500 t 

15% 


4 000000 Kälber (unter 3 








Monaten) . . 35 kg 

140 000 t 

60% 

= 105 000 t 

10% = 

14 000 t 

15% 

_ 

15 000 0C0 Mastschweine 65 „ 

975 000 t 

50% 

= 487 500 t 

40% = 

390 000 t 

10% 

_ 

1 000 000 Schafe (2 bis 4j.) 30 „ 

30 000 t 

60% 

= 18 000 t 

30 % = 

9 000 t 

10% 

, 

500 000 Ziegen .... 20 , 

10000 t 

70% 

= 70001 

15%,= 

1050 t 

15 % 


24 2u0 000 Schlachttiere 



1 236 375 t 


617 550 t 



Eine solche Zusammenstellung könnte wie ein Phantasiespiel mit Zahlen aus- 
sehen, wenn ihm die Wirklichkeit nicht entspräche. Ich darf daher kurz darauf 
hin weisen, daß im Jahr 1914 nach der Fleischbeschaustatistik tatsächlich 1 ) ge- 


>) Vierteljahrshefte der Statistik des Deutschen Reiches 1915, herausgeg. vom Kaiserl. 
Stat. Amt, Heft H. 


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42 


Gustav Oeder 


schlachtet wurden: 29 302 528 Stück, und zwar 


546 330 Ochsen 
575 761 Bullen 
1 619 932 Kühe 
889 634 Jungvieh 
3 850 263 Kälber (unter 3 Mon.) 
19 441 273 Schweine 
1869 847 Schafe 
509 488 Ziegen 


gegenüber meiner Annahme + 96 330, 

7 > v n + 761, 

* . » - 80 068, 

, „ , - 110 366, 

- » - H9 737, 

+ 4 441 273, 

„ . „ + 869 847, 

„ „ . + 9488. 


Ich habe also einen um rund 5 000 000 Stück niedrigeren Schlachttierbedarf 
angenommen, als wir ihn 1914 tatsächlich zur Benutzung gehabt haben. Dabei 
habe ich das durchschnittliche Schlachtgewicht der einzelnen Tiere mit Rück¬ 
sicht auf den teilweisen Mangel an Mastfutter nicht hoch eingesetzt. Die Zahl 
der Schlachtochsen habe ich herabgesetzt, weil die Ochsen wegen Pferdemangels 
wohl in größerer Zahl wie früher als Zugtiere benutzt werden müssen. Diesen 
Ausfall an Schlachtvieh habe ich durch stärkere Heranziehung der älteren Kühe 
und der Jungrinder ausgeglichen. Die Zahl der jungen Schlachtkälber habe ich 
erhöht, weil ihre Frühabschlachtung die für die menschliche Ernährung frei¬ 
werdende Kuhmilchmenge vermehrt. Die Zahl der Schlachtschweine habe ich 
erheblich vermindert, weil der Mastfuttermangel die Schweineaufzucht erschwert, 
und die alten Schweinebestände durch die bisherigen Abschlachtungen reduziert 
worden sind. Die Zahl der Schlachtschafe habe ich erheblich vermindert, weil 
zum teilweisen Ausgleich unseres Baumwollmangels eine Vermehrung der Woll¬ 
schafe nützlich erscheint. Die Zahl der Schlachtziegen habe ich etwas ver¬ 
mindert, weil eine größere Zahl von Milchziegen zur Deckung des Milchbedarfs 
namentlich für kranke Menschen in die Privathauswirtschaft eingestellt worden 
ist. Ich glaube, durch diese Änderungen der Wirklichkeit in genügender Weise 
Rechnung getragen zu haben. Doch werde ich unsere Viehhaltung noch besonders 
zu besprechen haben. Ich komme nun zur 


H. Kuhmilch. 

Zur Deckung des menschlichen Mindestbedarfs brauchen wir — immer nach 
dem obigen Beispiel betrachtet — jährlich: 

1. Vollmilch zum Trinken und Kochen. 2482000 t 


2. Vollmilch zur Herstellung des 248 2001 Butter (30kg = 29 Liter auf 1kg Butter!) 7 446 000 t 

zusammen Vollmilch 9 928 000 t 

Zur Hervorbringung dieser Vollmilchmenge gehören 

rund 2 000 000 Kühe, denen die Kälber nach 20 Tagen weggenommen werden. Diese 
Kühe liefern durchschnittlich in 280 kalbbefreiten Tagen je 6500 g 
täglich, also in der ganzen Milcbperiode je 1720 kg (= 1667 Liter), zus. 3 440 000 t 
rund 2 000 000 Kühe, denen die Kälber nach40Tagen weggenommen werden, 260 kalb¬ 
befreite Tage zu je 6000 g ergeben pro Kuh 1560 kg (= 1512 Liter), zus. 3 120 000 t 
rund 4 500 000 Kühe, denen die Kälber nach 120 Tagen weggenommen werden, 180 kalb¬ 
befreite Tage zu je 5000 g ergeben pro Kuh 900 kg (= 872 Liter), zus. 4 050 000 t 
Diese 8 500 000 Milchkühe liefern für den Menschen verfügbare Vollmilch im Jahre 10 610 000 t 


Gebraucht werden.,. 9 928 000 t 

Wir würden dabei einen Jahresüberschuß haben von. 682 000 t 


als Sicherung für Verderb u. a. also = 670 000000 Liter. 


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Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. 43 

Der für den Menschen nutzbare Milchertrag ist, wie mir praktische Landwirte 
bestätigt haben, hier durchweg sehr niedrig angenommen. Ich habe die in die 
Saugzeit des Kalbes fallende Kuhmilchabsonderung völlig außer Berechnung ge¬ 
lesen, obgleich ich weiß, daß das Kalb in der Regel nur Vs bis ’/s der täglichen 
Muttermilch braucht und säuft. Auch sind im Durchschnitt nur 300tägige Milch- 
und 65tägige völlige Trockenstellungsperioden zugrunde gelegt, obgleich die Mehr¬ 
zahl der Kühe jährlich länger Milch gibt. Es darf daher als wahrscheinlich be¬ 
zeichnet werden, daß mindestens mit dem angenommenen Milchertrag dauernd 
gerechnet werden kann, solange das nötige Milchvieh der Zahl nach und das nötige 
Futter vorhanden ist, wobei zu beachten ist, daß das „Kalben“ einen viel größeren 
Einfluß auf die Milchproduktion hat, wie das Futter! Auch die für die Butter¬ 
bereitung angesetzte Vollmilchmenge ist mit 29 Litern für 1,0 kg Butter als relativ 
hoch zu bezeichnen; man rechnet wohl im allgemeinen nur mit 28 Litern. Statt 
des Hohlmaßes habe ich grundsätzlich das Gewicht eingesetzt, da ich die Tages¬ 
portion für 43 kg Mensch auch dem Gewicht nach mit 100 g angenommen habe. 
Die Umrechnung in Litern basiert auf einem spezifischen Durchschnittsgewicht von 
1032 (pro Liter). Aus der verfügbaren Vollmilch für Butterbereitung wird gleich¬ 
zeitig die Magermilch für die Herstellung von 469 000 t Magerkäse ge¬ 
wonnen. Man braucht dazu rund.. 6 000000 t Magermilch. 

♦ Es bleiben dabei noch etwa 220 000 t Magermilch aus der für die Butter¬ 
bereitung verfügbaren Vollmilch übrig, weil mit dem Rahm nur etwa 1 225 000 t 
Milch weggenommen werden. Aus dieser Rahmmenge bleiben nach der Ent- 
bntterung noch etwa 975 000 t Buttermilch übrig. Bei der Bereitung des Mager¬ 
käses verbleiben weiter noch etwa 5 000 000 t Molken. 

Diese Prüfung der Milchwirtschaft ergibt also, daß der angenommene 
jährliche Milchertrag unter Berücksichtigung des Verarbeitungsverlustes von 
ca. 5 °/ 0 hinreicht für 

1. 2 482 000 t Vollmilch zum Trinken, 

2. 682 000 t Vollmilchreserve, 

3. 248 200 t Butter, 

4. 469 000 t Magerkäse, 

5. 220 000 t Magermilch, 

6. 975 000 t Buttermilch, - 

7. 5 000 000 t Molken. 

III. Schweineschmalz 

gewinnen wir bei der Schlachtung von 15 Mill. Mastschweinen (siehe oben!), 
ca. 40 °/ 0 des Schlachtgewichts = 390 000 t, wodurch die geforderten jährlichen 
372 000 t reichlich gedeckt sind. 

IV. Margarine. 

Ich habe dabei die „Sana“ - Margarine ins Auge gefaßt, weil zu ihrer 
Herstellung keine Kuhmilch, sondern Mandelmilch genommen wird. Die Fabri¬ 
kation dieser Margarine ist mir allerdings nicht genau bekannt. Ich weiß 
nicht, wie viele Mandeln (oder Kürbiskerne) zur Gewinnung von 1 Tonne Sana 
gehören. 


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44 


Gustav Oeder 


Für den Fettanteil können wir aus dem Schlachttierfett 

etwa 220 000 t Rinder- und Schaftalg und noch 
„ 18 000 t Schweineschmalz benutzen; außerdem braucht man 

wohl noch . . . 23 800 t Sesamöl, eine Menge, von der ich nicht weiß, ob 

wir sie haben; auch nicht, ob sie teilweise durch Lein-, Raps-, Mohn-, Sonnen¬ 
blumensamen-, Erdnuß-, Walnuß-, Buchecker-Öl ersetzt oder ergänzt werden 
könnte. Immerhin kann die vollwertige Ersetzungsmöglichkeit der obigen 
jährlichen Margarinegesamtmenge schon durch die verfügbaren Speisefette als 
vollkommen gesichert angesehen werden, wenn es nicht möglich sein sollte, 
daraus Sana in der nötigen Menge zu fabrizieren. 

Wenn ich die zur Gewinnung des Fleisches, der Kuhmilch, der Butter, des 
Magerkäses und der Margarine nötige Viehwirtschaft zusammenfassend be¬ 
trachte, so würden zweifellos die eingestellten Viehzahlen nach jeder Richtung 
ausreichend sein. Was aber 


V. Geflügel und namentlich Wild 

angeht, so muß ich in Ermangelung zuverlässiger Durchschnittszahlen für die Zahl 
des Geflügels und Wildes, für das Lebendgewicht und die Abfälle, von einer Unter¬ 
suchung über die für die Gewinnung von jährlich 248 200 t nötigen Geflügelfleisch¬ 
mengen hier absehen und kann das glücklicherweise auch, weil die angenom¬ 
mene Zahl der Sc^hlachttiere schon 1 235 875 t Fleisch lieferte, also über die 

eingestellte Schlachtfleischmenge . . 992 800 t hinaus eine Überschußreserve 

von. 243 075 t ergab. 

Es blieben also von den . . . 248 200 t durch Geflügel und Wild selber 

im Notfall nur ca. . . . . . . . 5 125 t zu decken — eine relativ so 

kleine Menge, daß an ihrer Beschaffbarkeit ein Zweifel nicht bestehen kann. Von 
Sachverständigen wird der jährliche Fleischertrag aus Wildabschuß auf etwa 
30 OOO t geschätzt. 

VI. Fluß- und Seefische. 

Im allgemeinen wird man dabei 50 bis 55 °/ 0 Abfälle rechnen, also rund 
jährlich 500 000 t brutto brauchen. Einzelheiten über die verfügbaren Mengen 
sind nicht bekannt, sie wechseln auch sehr; doch spielen die Fische keine so 
erhebliche Rolle zur Deckung des menschlichen Eiweiß- und Nahrungsbedarfs, 
daß die Nichtlösung dieser Frage das Gesamtergebnis meiner Berechnung ins 
Schwanken bringen könnte. Denn zum Teil könnte der Ausfall (wenigstens im 
Eiweiß) durch Vermehrung der Käseproduktion aus der überschüssigen Magermilch 
und durch' Eier gedeckt werden. 

Wichtiger als die Einzelerörterung des Fluß und Seefischbedarfs ist die 
Besprechung des Kohlehydratbedarfs und seine Gewinnung aus Zucker, Kartoffeln 
und Getreide. 


Bei Besprechung der Kohlehydratspender beginne ich mit dem 

VII. Zucker; 

denn er stellt die reinste Form der Kohlehydratnahrung dar. Da die Gewinnung 
des Zuckers aus Zuckerrohr u. a. in Deutschland ausgeschlossen erscheint, kommt 


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Sachgemäße menschliche Kriegsernährung. 4C> 

hier nnr die Zuckerrübe als Zuckerlieferant in Betracht. Um die im Beispiel an 
genommenen 45 g pro Durchschnittseinheit und Tag zu haben, brauchen wir fiir 
die Gesamtbevölkerung 

jährlich 1 116 900 t Zucker. 

Za ihrer Herstellung ist ungefähr die 7 V 2 fache Menge an Zuckerrüben, also 
jährlich rund 8 500 000 t Zuckerrüben 

erforderlich. 


VIII. Kartoffeln. 

Sie sind neben Fett und Mehl das Rückgrat unserer ganzen Volksernährung 
weil sie auch die Haupt-Fleisch- und Fett Spender unter unseren Haustieren — 
die Schweine — mit zu ernähren und zu mästen haben. Um täglich dem Durch¬ 
schnittsmenschen 675 g geschälte Kartoffeln liefern zu können, brauchen wir 
täglich etwa 750 g ungeschälte Kartoffeln, also für die Gesamtbevölkerung 
jährlich 18 615 000 t Speisekartoffeln. 

Da die Kartoffel beim Aufbewahren durch Verdunstung, Keimen und Faulen teil¬ 
weise schwindet, so müssen wir dafür etwa 15 % dazu nehmen, also bereitstellen 
jährlich rund 21 500 000 t Speisekartoffeln. 

IX. Mehl. 

Für die Herstellung der auf täglich 150 g 80 % Roggenmehl oder äquivalente 
Mengen anderer Mehle angenommenen Durchschnittsmenge brauchen wir Mehl¬ 
getreide. Ich will beispielshalber nur Weizen und Roggen als Hauptmehlspender 
hier heranziehen und den gesamten Mehlbedarf 

mit ’/ 3 aus Weizen und 2 / s aus Roggen 

berechnen. (Die objektiv geringe Menge von 150 g täglichem Mehl ist unsere* 
diesjährigen Getreideernte schon angepaßt.) Bei täglich 50 g Weizenmehl brauchen 
wir jährlich 1241000 t Weizenmehl und dabei bei 80 % Ausmahlung des 
Weizens (unter Einrechnung von 5 °/ 0 Mahlverlust) für 751 Mehl 100 t Getreide, als« 

jährlich 1654 000 t Weizen. 

Bei 100 g täglichem Roggenmehl pro Durchschnittseinheit brauchen wir 

jährlich 2 482 000 t Roggenmehl 

und dazu 1001 Getreide auf 651 Mehl, bei 15% Spelzabgang und Mahlverlust, folglich 

jährlich 3 820 000 t Roggen. 

Für X. die grünen Gemüse und XI. das Obst ist es schwierig, bestimmte 
Gesamtzahlen] anzugeben, weil viel zu viele Sorten davon in Betracht kommen, 
und eine genaue Statistik über die Produktion fehlt. Da die durch diese 
Nahrungsmittel zu deckenden Brennwerte nur etwa VöO des Kalorienbedarfs aus- 
machen, ist eine genaue Berechnung wohl auch überflüssig. Natürlich will ich 
damit den Wert der grünen Gemüse und des Obstes für die menschliche Ernährung 
nicht unterschätzen. Sie sind besonders ihres Nährsalzgehaltes wegen absolut 
unentbehrliche Nahrungsmittel. 

Gewürze (Knollen u. a.) bedürfen hier keiner Besprechung. 

(Schluß folgt.) 


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46 


Z. v. Dalmady 


ii. 

Oie Nachbehandlung rheumatischer und ähnlicher Kriegs¬ 
erkrankungen in Bädern und Heilanstalten 1 ). 

Mitteilung ans der Nachbehandlungsanstalt des kgl. ung. Landesfürsorgeamtes 

„Csäsäzrfürdö“ in Badapest. 

Von 

Doz. Dr. Z. t. Dalmady. 

Die Nachbehandlung von Kriegsrheumatismus und ähnlichen Erkrankungen 
unterscheidet sich in mehreren Beziehungen von der Art, mit welcher wir diese 
Krankheiten in Friedenszeiten zu behandeln gewohnt sind. Der Unterschied wird 
hauptsächlich durch folgende Umstände bedingt: 

1. Eine große Anzahl der Fälle zeigt eine von der gewohnten abweichende 
Form, und die Differentaldiagnose muß auch solche Möglichkeiten in Betracht 
ziehen, an welche wir in Friedenszeiten kaum zu denken hatten. 

2. Die Beurteilung der subjektiven Beschwerden und rein funktio¬ 
nellen Störungen muß eine andere sein, als zu Friedenszeiten, und kann höchstens 
mit der in der Versicherungspraxis geübten verglichen werden. 

3. Es muß eine so große Anzahl der Kranken gleichzeitig behandelt werden, 
daß wir unsere Einrichtungen und die Auswahl der Methoden diesem Umstande 
anzupassen gezwungen sind. 

Um ein klares Bild zu gewinnen, müssen wir diese Momente nachher betrachten. 

Es ist vor allem festzustellen, daß den besprochenen speziellen Heilanstalten 
mit der stereotypen Diagnose „Rheumatismus“ alle mögliche Krankheiten, die mit 
Gliederschmerzen einhergehen, zugeschoben werden. (Es scheint, daß in der 
Praxis die Konstatierung von Gliederschmerzen sozusagen automatisch die Ver¬ 
ordnung einer physikalischen Therapie nach sich zieht, welche gegen rheumatische 
Beschwerden angewandt wird. So kommt es, daß im Krankenmaterial der Anstalten 
alle mögliche durch Gliederschmerzen charakterisierte Krankheiten vertreten sind, 
— von Lungentuberkulose bis zur Tabes, von Zuckerkrankheit bis zum Plattfuß, 
ja es kommen selbst echte Rheumatismusfälle dazwischen vor.) Daraus folgt, 
daß die genaue Diagnose eigentlich im Bade, bzw. in der Heilanstalt gestellt 
wird, woraus die wichtige Forderung gezogen werden muß, daß die speziellen 
Nachbehandlungsanstalten mit allen Einrichtungen und Mitteln der Diagnostik 
ausgestattet sein müssen. 

') Vortrag gehalten an der gemeinschaftlichen Tagung der ärztlichen Abteilung der 
Waffenbrüderlichen Vereinigung in Baden bei Wien. 


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Die Nachbehandlung rheumatischer und ähnlicher Kriegserkrankungen usw. 


47 


Die Diagnose wird Erschwert durch den Umstand, daß wir sehr oft Fällen 
begegnen, die in keine der bekannten Krankheitsgruppen einzustellen sind, und 
andererseits, daß wir auch solche Krankheiten bei der Differentaldiagnose in 
Betracht ziehen müssen, an welche wir in der Friedenspraxis kaum zu denken 
batten. 

Es ist schon seit Beginn des Krieges bekannt, daß die Gliederschmerzen in 
überwiegender Mehrzahl unserer Fälle die unteren Gliedmaßen ergreifen. 
Man kann wohl behaupten, daß in 90 °/ 0 die unteren Gliedmaßen erkrankt sind. 
Es ist weiterhin festgestellt worden, daß eigentliche Rheumatismen verhält¬ 
nismäßig selten Vorkommen. 

Die rheumatischen Schmerzen der unteren Extremitäten werden oft 
durch organische Erkrankungen und Veränderungen erklärt. So sind der schmerz¬ 
hafte Plattfaß, die Metatarsalgie, die Tarsalgie, bedingt durch einen Calca- 
oenssporn, Folgezustände von Verrenkungen, Distorsionen oder anderer 
traumatischer Verletzungen oft als Ursache der Schmerzen zu erkennen. 
Manchmal scheinen Varikositäten die Schmerzen zu verursachen. In anderen 
Fällen sind die Sehnenscheiden oder die Schleimbeutel entzündlich erkrankt. 
Eine entzündliche Erkrankung der Gelenke ist verhältnismäßig selten und wird, 
am häufigsten am Kniegelenk gefunden. Daß alle möglichen Gelenkerkrankungen 
Vorkommen, sei nur nebenbei bemerkt. Echte Neuritiden — mit allen charakte¬ 
ristischen Symptomen — kommen auch häufig vor, besonders der Ischias, wie 
iies schon von Professor Blind eingehend beschrieben wurde. 

Es kommen jedoch Fälle mit objektiven Krankheitszeichen vor, die gewisser¬ 
maßen charakteristisch für die Kriegspraxis sind. Es sind in erster Linie die 
Gliederschmerzen nach Erfrierungen und überhaupt die Spätfolgen der Erfrierun¬ 
gen zu erwähnen. Schon Volk und Stiefler beschrieben die Muskelschmerzen 
bei Erfrierungen, — und besonders Schneyer schilderte eingehend die Gefühls- 
störungen als Spätfolgen derselben. Wir konnten auch eine Anzahl von Fällen 
beobachten, bei denen das Krankheitsbild nur als eine Spätfolge von Erfrierungen 
zu denken war. Die Kranken beklagen sich über heftige Fuß- und Unter¬ 
schenkelschmerzen, die besonders bei kühler und feuchter Witterung und% 
nach Anstrengungen heftig werden. Bei feuchtkühler Witterung werden auch 
Brennen und Jucken erwähnt. In der Anamnese — deren Angaben durch die 
raitgebrachten Vermerkblätter bestätigt worden sind — fällt der Beginn der 
Krankheit mit einer Erfrierung der Füße zusammen. Der Fuß ist häufig rötlich 
oder zyanotisch verfärbt und diese Verfärbung kann bis zur Mitte des Unter¬ 
schenkels, in seltenen Fällen noch höher reichen. Die Kapillaren der Haut 
scheinen atoniscb zu sein. Die Haut in einem Teile der Fälle mit Schuppen 
bedeckt, ist im anderen dünn und glänzend. Es besteht eine außerordentliche 
Neigung zu Anschwellungen und Ödemen, besonders nach Anstrengungen. Die 
Nägel zeigen oft trophische Störungen, selbst in Fällen, die keine Verstümmlungen 
oder andere Zeichen einer schweren Erfrierung aufweisen. Die aktive Beweglich¬ 
keit des Fußes ist oft bedeutend vermindert, die passive Beweglichkeit im Gegen¬ 
teil oft außerordentlich frei, falls Ödeme und Schmerzhaftigkeit die Bewegung 
nicht hindern. Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln und Nerven .ist herab¬ 
gesetzt. Die Muskulatur ist in den meisten Fällen gut erhalten. In einer kleinen 


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48 Z. v. Dalmady 

Gruppe der Fälle ist der Fuß in equino-varus Stellung, von welcher er schwer 
reponibel ist. Die Röntgenuntersuchung zeigt oft ein eigentümliches Klaffen 
sämtlicher Gelenke und die Knorpelüberzüge der Gelenkoberflächen scheinen 
verdickt zu sein. An den Knochen ist oft eine diffuse Atrophie zu beobachten. 
Diese Erscheinungen kommen selbstverständlich nicht in jedem Falle der Erfrierung 
vor, sind jedoch sehr beachtenswert, um so mehr als die Pathologie der Spätfolgen 
von Erfrierungen noch viele Lücken aufweist. Wie ersichtlich, sind die meisten 
Symptome auf eine Läsion der Nerven, eine Neuritis, .zurückzuführen, es scheinen 
jedoch nicht nur die Nerven, sondern sämtliche Gewebe des betroffenen 
Körperteils gelitten zu haben. Auch R. Winternitz konnte Knochenatrophien 
als Folgen von Erfrierungen nachweisen. Ein Erfolg ist schwer zu erreichen, 
der Verlauf ist äußerst chronisch. 

Infiltrationen in den Muskeln, wie sie Strasser beim Kriegsrheumatis¬ 
mus beschrieben hat und die auf echte Myositiden hinweisen könnten, wurden bei 
unseren Kranken äußerst selten gefunden. Verhältnismäßig häufiger fanden wir 
eine andere Infiltration der Muskeln, die zweifellos in der Kriegspraxis von 
Bedeutung ist, nämlich die skorbutische Infiltration. Skorbut ist, wie bekannt, 
auch bei unseren Truppen öfters vorgekommen; sie konnte jedoch in erschreckenden 
Dimensionen in den sibirischen Gefangenenlagern wüten, da wir eine ganze Reihe 
von Austauschinvaliden zur Sicht bekommen, die die schrecklichsten Folgen des 
schwersten Skorbuts aufweisen. Bezeichnend ist die brettharte Infiltration, 
besonders an der unteren Hälfte des Unterschenkels, wo die Muskeln und Sehnen, 
mit dem Unterhautgewebe zu einer Masse verschmolzen, die normalen Umrisse 
vollständig verwischen. Die Muskulatur ist häufig atrophisch, oft beinahe ver¬ 
schwunden. Es besteht eine Kontraktur im Kniegelenk und auch das Knöchel¬ 
gelenk ist mehr oder weniger steif. In schweren Fällen reichen die beschriebenen 
Veränderungen bis zur Mitte des Oberschenkels. Häufig sind nur diese Folgen 
des Skorbuts nachzuweisen, in einer Minderzahl der Fälle sind noch Spuren der 
Sugillationen sichtbar, und selbst das ZahnfleiSbh kann noch krankhafte Ver¬ 
änderungen aufweisen. — Auch diese Kranken beklagen sich über heftige reißende 
und bohrende Muskelschmerzen. — Ich habe den Eindruck, daß mit Ausnahme 
der verzweifeltesten Fälle eine langsame allmähliche Besserung durch entsprechende 
Maßnahmen zu erreichen ist. 

Wir dürfen nicht vergessen, daß nachgewiesenermaßen die ersten Symptome 
des Skorbuts Wadenmuskel- und Schienbeinschmerzen sind, und daß abortive 
Fälle des Skorbuts nur diese Symptome aufweisen. 

Hiermit sind wir bei den Krankheitsformen angelangt, bei denen außer den 
subjektiven Beschwerden und den Funktionsstörungen keine objektiven Symptome 
zu finden sind. Die Beurteilung dieser Fälle bei Militärpersonen ist eine äußerst 
schwere Sache, da wir auch mit Simulation und Aggravation rechnen müssen. Wir 
müssen bedenken, daß eine ganze Reihe von Krankheiten mit subjektiven Glieder¬ 
schmerzen ohne anderweitige objektive Symptome einhergehen kann, so die echten 
Myalgien, die neurasthenischen Schmerzen, leichte Fälle von Neuritiden 
und Neuralgien, der eben erwähnte Skorbut usw., ja selbst die Möglichkeit 
der Beri-beri muß in Betracht gezogen werden. Die Diagnose wird außerordentlich 
erschwert, wenn auch Verletzungen die Krankheit komplizieren. 


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Die Nachbehandlung rheumatischer und ähnlicher Kriegserkrankungen usw. 49 


Es ist auffallend, daß wir den gewohnten Lokalisationen der i heuraatischen 
Schmerzen ziemlich selten begegnen. Schulter-, Hals- und Nackenschmerzen sind 
ziemlich selten, Schmerzen der Lendengegend kommen häufiger vor, und zwar 
beide Seiten befallend, im Gegensatz zu der gewöhnlichen, meist einseitigen 
Lumbago. Die Lumbalschmerzen sind häufig nur Begleiterscheinungen oder Vor¬ 
läufer von einer Ischias, wie dies besonders Blind betont. Auch müssen wir 
immer an die Spondylitis ankylotisans denken, die unter den Kriegserkrankten 
etwas häufiger vorzukommen scheint. — Strasser hat die Aufmerksamkeit auf 
eine eigentümliche Kriegserkrankung, den „Tornisterrheumatismus“ gelenkt. 
Es bestehen Rückenschmerzen besonders an den Stellen, wo gewisse Teile des 
Tornisters einen ständigen Druck auf die Haut und Muskulatur ausüben. 

Wie schon erwähnt, sind in überwiegender Mehrzahl der Fälle die unteren 
Gliedmaßen erkrankt. Dies wurde schon frühzeitig erkannt. Die Arbeiten von 
E. Freund, Schrötter, Schüller, Stransky, Labor usw. beschrieben eingehend 
diese eigentümlichen Krankheitsformen und sonderten einen Teil unter den Namen 
..Tibialgie“ „Gamaschenneuritis“ usw. ab. Es steht fest, daß die meisten zur 
Behandlung kommenden Fälle sich in mehreren Beziehungen von dem Bilde der 
gewohnten Myalgien bzw. Neuritiden unterscheiden. Nach unseren Erfahrungen 
treten die Schmerzen gewöhnlich symmetrisch auf; sie beschränken sich nicht auf 
einzelne Muskelgruppen, verbreiten sich eher auf ganze Teile der Glieder-. Es 
werden auch bei vollständiger Ruhe Schmerzen empfunden, ihre Exazerbation bei 
den Bewegungen scheint jedoch nicht so heftig zu sein und so konsequent aufzu¬ 
treten, wie bei den echten Myalgien. Verschlimmerungen kommen seltener' vor, 
wie beim echten „Muskelrheumatismus“, es besteht aber auch keine ausgesprochene 
Neigung zur Besserung. In einem Teil der Fälle sind die Schmerzen weniger 
auf die Muskeln, als auf das Schienbein und die Knöchel lokalisiert. Das sind 
eben die Fälle, die als spezielle Krankheitsformen abgeschieden worden sind. Tn 
der Praxis gelingt es jedoch nicht immer eine scharfe Grenze zu ziehen. Der 
Moskeltonus scheint nicht gesteigert zu sein. Druckschmerzen werden oft angegeben; 
typische Druckpunkte sind jedoch selten aufzufinden. „Muskelknötchen“ konnte 
ich nie finden. 

Das ganze Krankheitsbild ist ziemlich verschwommen und unbestimmt, wodurch 
der Verdacht nahe liegt, daß bei der Deduktion entweder verschiedene Krankheiten 
oder auch die Angaben von aggravierenden und simulierenden Kranken in Betracht 
gezogen worden sind. — Dem entsprechen auch die Erfahrungen, die bezüglich 
der Therapie gemacht worden sind. Die meisten Fälle verhalten sich refraktär 
gegen eine jede Behandlung, ein anderes Mal können die verschiedensten Prozeduren 
recht befriedigende, sogar verblüffende Erfolge zeitigen. 

Es sei erwähnt, daß auch Patienten mit „traumatischer Neurose“ sich 
sehr oft über Gliederschmerzen beschweren, welche sie jedoch nicht im mindesten 
in der Ausführung der verschiedensten Zuckungen und krampfhaften Bewegungen 
za hindern scheinen. Die Kombination von Schmerzhaftigkeit und gesteigerter 
Bewegung macht den Fall immer verdächtig, um so mehr, als Schmerzen nicht 
in das eigentliche Krankheitsbild der Hysterie gehören. 

Wie ersichtlich, ist unser heutiges Krankenmaterial nicht dazu geeignet, 
um aus den Erfahrungen Schlüsse auf Beeinflußbarkeit der rein mit subjektiven 

ZeiUfhr. f. physfk. 11 . diät. Therapie Bd. XXII. Heft 2. 4 


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50 Z. v. Dalmady 

Symptomen verlaufenden Krankheiten und Wirksamkeit und Wert der verwendeten 
Prozeduren zu ziehen. 

Wir haben als die dritte Eigentümlichkeit der Nachbehandlung von Kriegs¬ 
erkrankungen die Notwendigkeit der Massenbehandlung erwähnt. Wenn wir auch 
bei Untersuchung, Diagnose und Indikationsstellung einen jeden Fall gründlich, 
eingehend und individualisierend vornehmen, sind wir bei der Ausübung der 
Therapie zu einer gewissen Schematisierung gezwungen, um so mehr als selbst bei 
sehr verschiedenen Erkrankungen dieselben Eingriffe angezeigt sein können. 

Zur Ausübung der Thermotherapie kommen in erster Linie die Thermalbäder 
in Betracht, besonders, wo große Bassins zur Verfügung stehen. Für Vollbäder 
ist eine Temperatur von 39 bis 40° C zu wählen, für Teilbäder sind auch Tempera¬ 
turen von 42 bis 44° C zulässig. In großen Bassins soll das Wasser nicht tiefer 
als 60 bis 70 cm sein. Für entsprechende Schief ebenen und Rutschbahnen für 
schwergehende Patienten ist zu sorgen. Die hygienischen Vorschriften der gemein¬ 
samen Bäder sind strengstens einzuhalten, so ist die Vorwaschung strengstens 
durcbzuführen, Reinigung des Bassins, Erneuerung des Badewassers, Spucknäpfe 
am Rande des Wassers, gute Ventilation usw. sind unvermeidliche Forderungen. 
Für eine Abkühlung der Patienten muß durch Duschen, Ruheräume usw. gesorgt 
werden, obzwar die heißen Bäder nach meinen Erfahrungen ebensogut gegen die 
für Rheumatismus schädlichen Kältewirkungen schützen, wie gegen eine jede 
Erkältung. Es ist besser mit wirklich erhitzten Körper in die Winterkälte heraus¬ 
zutreten, als nach einer unvollständigen Abkühlung. 

Ob die Thermen, Schwefelbäder usw. auch spezifische, neben der Wärme 
wirksame Faktoren haben, ist — wie erwähnt — bei unserem Krankenmaterial 
nicht festzustellen. Es ist als erwiesen zu betrachten, daß auch gewöhnliches 
erwärmtes Wasser erfolgreich angewendet werden kann. — Den heißen Solbädern 
kommen auch die von Frankenhäuser nachgewiesenen Nachwirkungen zu, sie 
sind deshalb für unsere Zwecke sehr geeignet. 

Die Heißluftbäder haben den Vorteil, leicht improvisiert werden zu können 
und sind durch ihre relative Ungefährlichkeit zur Massenbehandlung gut geeignet. 
Eigentlich ist ein jedes überheiztes Zimmer, in welchem eine gute Ventilation 
mit Vermeidung eines fühlbaren Luftzuges zu erreichen ist, tadellos verwendbar, 
wie dies z. B. die nachahmungswürdigen Einrichtungen Langes, der in einem 
Kriegslazarett ein Rheumatikerbad improvisieren konnte, beweisen. — Die Dampf¬ 
bäder sind für Massenbehandlung viel weniger geeignet, da selbst die eingehendste 
Untersuchung nicht genau voraus bestimmen kann, wie der Patient die Wärme- 
Stauung vertragen wird. Wo die Einrichtungen gegeben sind, sind sie anzu¬ 
wenden, jedoch mit sorgfältiger Individualisierung und unter ständiger Kontrolle. 

Zur Behandlung einzelner Glieder haben sich besonders die Sandbäder 
und auch die Schlamm- und Moorumschläge beim Massenverkehr bewährt In 
meinem Institut wird hauptsächlich der radioaktive Schlamm von Kolop verwendet, 
mit sehr gutem Erfolge. Es sei bemerkt, daß auch der gewöhnliche Lehm, be¬ 
sonders der sogenannte, zur Ziegelfabrikation verwandte „blaue Lehm“ ganz gut 
für unsere Zwecke verwendbar ist. 

Endlich seien die Sonnenbäder als zur Massenbehandlung geeignete Kur 
erwähnt. 


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Die Nachbehandlung rheumatischer und ähnlicher Kriegserkrankungen usw. 51 

Die übrigen Methoden der Thermotherapie wie die Heißlnftbäder für 
einzelne Glieder mit sehr hohen Temperaturen, die Glühlampenbäder und be¬ 
sonders die Diathermie sind nur in ausgewählten Fälleu und mit besonderer Sorg¬ 
falt und individualisierend zu verwenden. Ich kann die Bestrebungen, die auch 
diese Methoden für eine Massenbehandlung anzupassen bestrebt sind, nicht 
billigen. 

Die Thermalkur wird selten allein verwendet, es werden beinahe immer 
auch die Eingriffe der Mechanotherapie, Kinesitherapie usw. vorgenommen. Es 
ist Regel, daß immer die Wärmeprozeduren in der Reihenfolge die ersten sein 
müssen, der Patient muß mit hyperämischen, erhitzten Gliedern zur Massage 
oder Gymnastik komnten. 

Die Notwendigkeit, Zeit und Kräfte zu sparen, hat solchen Prozeduren eine 
besondere Bedeutung verliehen, bei denen mehrere Heilkräfte gleichzeitig 
verwendet werden. Die Kombination führt oft zu einer gegenseitigen Potenzierung 
der Wirkung und zeitigt sehr günstige Erfolge. 

Solche Kombinationen sind z. B. die subaquale Massage und die Dusch¬ 
massage mit heißem Wasser, das heiße Bügeleisen und überhaupt die von Gold¬ 
scheider inaugurierte Thermomassage in jeder praktischen Form. Die Kombina¬ 
tion von Elektrizitätsanwendung und Massage ist keine glückliche zu nennen. 
Der Zweck der Massage, den Muskelparenchym durchzukneten, die Blut- und 
Lymphgefäße durch Druck zu entleeren, ist nur am weichen, ungespannten Muskel 
zu erreichen. Der durch den faradischen Strom kontrahierte steinharte Muskel 
ist der Massage nicht zugänglich. Die Kombination hat nur dann einen Sinn, 
wenn nicht die Muskeln selbst, sondern die oberhalb des Muskels gelegenen Ge¬ 
webe massiert werden sollen. In diesem Falle bildet der hart gewordene Muskel 
die harte Grundlage, gegen welche die massierten Gewebe gedrückt werden 
können. Die gebräuchlichen Instrumente, besonders die faradische Rolle, sind 
nicht als ernste Massageinstrumente zu betrachten. Der Sch nee sehe E-las-to- 
Massageapparat allein kann, mit dem faradischen Strom verbunden, beide Kräfte 
wirksam vereinigen und ist zur Massage der außerhalb der Muskeln gelegenen 
Teile gut verwendbar. — Es ist zwar richtig, daß Massage und faradische 
Reizung in vielen Fällen gleichermaßen indiziert sind. Die Applikation darf je¬ 
doch nicht simultan erfolgen. 

Die Kombination von thermischen Eingriffen mit Elektrisieren hat sich 
besser bewährt. Selbstverständlich werden hier hauptsächlich die „katalytischen 1 ’ 
Wirkungen des Stromes angestrebt und weniger die reizende Bewegungen her¬ 
vorrufende Wirkung. Solche Kombinationen sind die elektrischen Bäder mit 
heißem Wasser ev. in Form der Vierzellenbäder. Wir haben sehr gute Er¬ 
fahrungen durch die Verwendung der Schlammumschläge als Elektroden, wie in 
meiner Anstalt auf Anregung Dr. Balassas seit längerer Zeit gebraucht. Die 
aufgelegten Schlammkataplasmen werden mit entsprechend geformten und dimen¬ 
sionierten Zinkblechelektroden bedeckt und mit der Stromquelle verbunden. Es 
können beide Elektroden solche Schlammumschläge sein, anderenfalls nehmen wir 
eine indifferente feuchte Elektrode. Die Schlammkompressen sind auch bei der 
Diathermie zu verwenden, wodurch die perkutan zugeführte und im Innern ent¬ 
standene Wärme gleichzeitig zur Wirkung kommen. 

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52 W. Alexander 

Die gleichzeitige Anwendung von thermischen Eingriffen und Kinesitherapie 
kommt einerseits in Form der kinesitherapeutischen Bäder, andererseits als 
Kombination von Wärmeapplikationen und adressierenden und mobilisierenden 
Plingriffen in Betracht. Die Einpackung der durch entsprechende Apparate ge¬ 
spannten Gelenke in Schlamm, wie sie Laqueur, E. Fischer und andere ver¬ 
wenden, führt schneller und in schonenderer Weise zum Ziele, als die getrennte 
Verwendung der Prozeduren. Die Adamsche Kombination von Diathermie und 
Apparatengymnastik scheint auch sehr günstig zu wirken, ihre Ausführung fordert 
jedoch große Sorgfalt und tadellose Applikation der Elektroden. Es sei erwähnt, 
daß sich in unserer Praxis folgende Elektroden am besten bewährten: gewöhn¬ 
licher Glafeerkitt wird zu entsprechender Platte geformt, allseitig vollständig mit 
Stanniol bedeckt und mit leichtem Druck dem ebenfalls mit Stanniol bedecktem 
Körperteil angepaßt. 

Was die Auswahl und Dosierung der einzelnen physikalischen Eingriffe be¬ 
trifft, müssen wir immer bestrebt sein, dieselbe Individualisierung erreichen zu 
können, an die wir aus Friedenszeiteu gewohnt sind und der wir unsere Erfolge 
zu verdanken haben. Die Massenbehandlung darf nur formell eine solche sein, 
die sorgfältige Überwachung muß jederzeit eine jede Schematisierung zu verhüten 
trachten. Unter solchen Bedingungen werden unsere Bäder und Anstalten 
auch in der Nachbehandlung von Kriegserkrankungen ihrem alten Ruhme 
entsprechen. 


III. 

Beitrag zur Behandlung der hysterischen Taubheit. 

Von 

W. Alexander 

in Berlin. 

Die suggestive Heilung der hysterischen Taubheit ist umständlicher und un¬ 
sicherer, als die Heilung anderer psychogener Symptome, weil der Hauptträger 
der Heilwirkung, das gesprochene Wort, nicht in Betracht kommt. Dieses ist 
durch das geschriebene Wort auch nicht annähernd zu ersetzen, weil, mehr noch 
als der sachliche Inhalt, Tonfall und Klangfarbe wirksam werden. Wäre dem 
nicht so, so könnte man die hysterisch Tauben durch gedruckte Vorschriften 
heilen, die Person des Arztes wäre gleichgültig. Es entspricht auch meiner Er¬ 
fahrung, daß viele Fälle hysterischer Taubheit von selbst oder zugleich mit an¬ 
deren hysterischen Symptomen, z. B. Stummheit, verschwinden, wenn man die 
Suggestion auch nur gegen die letztere gerichtet hat. Doch bleiben genug Fälle 
übrig, in denen das nicht geschieht, und andere, in denen die hysterische Taub¬ 
heit von vornherein das einzige Symptom war. Dann verlangt es eine besondere 


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Beitrag zur Behandlung der hysterischen Taubheit. 


53 


Behandlungstechnik, welche die Sperre zwischen dem gesunden Gehörorgan und 
der Stelle der bewußten Perzeption durchbricht oder umgeht. 

Wie bei der motorischen Lähmung psychogenen Ursprungs die faradische 
Reizung dem Kranken die Bewegungsmöglichkeit der gelähmten Extremität de¬ 
monstriert und die Vorstellung des „Nichtkönnens“ auslöscht, so muß auch bei 
sensorischen Ausfallserscheinungen ein adäquater Reiz die spezifische Sinneswaht- 
nehmung auslösen, um den Kranken zu überzeugen, daß die Ansprechbarkeit nicht 
erloschen ist. R. Hirschfeld hat sich hierzu bei der hysterischen Blindheit des 
Phänomens des galvanischen Lichtblitzes bedient und empfiehlt neuerdings 1 ) bei 
hysterischer Taubheit das galvanische Klangphänomen (Klangerzeugung durch 
Ka. Schl.-Zuckung am Warzenfortsatz). 

Das Wirksame dieser beiden Methoden liegt darin, daß, die verloren ge¬ 
glaubte Sinnesfunktion durch die Person des Arztes dem Kranken sofort wieder¬ 
gegeben wird; ermöglicht wird die Wirkung wohl durch die Überrumpelung, die 
darin liegt, daß Gesicht und Gehör erstmalig auf einem Wege erzeugt (für den 
Kranken „wiedererweckt“) werden, der dem Laien unbekannt ist. Ist der moto¬ 
rische oder sensorische Effekt aber erst einmal wieder ausgelöst, so ist dem weiteren 
suggestiven Ausbau der Heilung der Weg geebnet. 

Die Hirschfeldsche Mitteilung über seine Behandlung der hysterischen 
Taubheit veranlaßt mich, eine andere, von mir seit längerer Zeit geübte Technik 
bekanntzugeben, die auf demselben Prinzip beruht; nur erzeugt sie den ersten 
Klang auf andere Weise: nämlich mit der Stimmgabel durch Knochenleitung. 
Das eigenartige Phänomen des Hörens durch Knochenleitung kommt dem psycho¬ 
gen Tauben so überraschend und frappiert ihn so, daß sich die Überrumpelung 
deutlich in seinem veränderten Gesichtsausdruck zeigt: der Ausdruck der freudigen 
Überraschung, den ich bisher ausnahmslos beobachtet habe, dürfte zugleich diffe¬ 
rentialdiagnostisch gegen Simulation sprechen, von der ich allerdings noch keinen 
sicheren Fall gesehen habe 2 ). 

Nach genauester Ohruntersuchung schreibe ich dem Kranken auf, daß das 
Ohr gesund ist und daß durch den Knall 3 ) nur die Nervenleitung etwas gestört 
ist. Er werde die Stimmgabel sofort hören, dann käme auch gleich das normale 
Gehör wieder. Die angeschlagene Stimmgabel wird nun auf den Warzenfortsatz 
aufgesetzt: in den meisten Fällen gibt der Kranke sofort mit freudigem Lächeln 
zu, einen Ton zu hören. Damit ist das Spiel gewonnen. Gewöhnlich gibt er 
dann auch sofort das Hören lauten Sprechens zu und ist damit praktisch geheilt. 
In wenigen Fällen wird nicht sofort der Ton zugegeben; einer der Kranken sagte: 
„es brummt wie ein Flieger“; ein anderer: er fühlte es nur „Zittern“. In diesen 
Fällen begnügt man sich mit dem Anfangserfolg und erweitert ihn mit Sicherheit 
in wenigen weiteren Sitzungen zur Heilung. 

Auf diese Weise habe ich bisher eine lückenlose Serie von 12 Fällen geheilt. 
Xnr einen habe ich bisher noch in Beobachtung, bei dem ich nichts erreicht habe. 

«) Med. Klinik 1917. Nr. 33. 

*) Weitere sehr wertvolle Hinweise auf das rein äußerliche Verhalten des Taubheit-Simulanten 
gibt F. Auerbach (Deutsche mllitärärztl. Ztschr. 1917. Heft 23, 24) und Oppenheim (B. kl. W. 
1917. Nr. 52. S. 1248). 

*) Es handelte sich in allen Fällen um Detonationsfolgen ohne Verwundung. 


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54 W. Alexander, Beitrag zur Behandlung der hysterischen Taubheit. 

Er war stumm und taub. Die Sprachstörung heilte in einer faradischen Sitzung, 
die Taubheit ist bisher refraktär. Spezialistische Untersuchung erklärte das Ohr 
für gesund und Simulation für ausgeschlossen. Dazu kommt, daß das gleichzeitige 
und gleichbedingte Auftreten der sicher hysterischen Sprachstörung mit genügender 
Sicherheit für hysterische Taubheit spricht. Auch das von Muck (Med. Klin. 1917, 
Nr. 35) beschriebene Symptom des Stimmbandzuckens bei unerwartetem Geräusch 
war positiv. In diesem Falle versagte auch der Trick, den ich in einem anderen 
Falle mit Erfolg an wandte: ich verband den Stimmgabelfuß mit einer Elektrode 
des faradischen Apparates. Der Kranke, der die Stimmgabel allein nicht hören 
wollte, gab auf meine Suggestion an, er höre den Ton nur, wenn er gleichzeitig 
den Strom fühle. Bei langsamer Abschwächung des Stromes in zwei weiteren 
Sitzungen hörte er, die Stimmgabel ohne Strom und wurde geheilt. Ich glaube 
den Grund des erwähnten Versagers darin gefunden zu haben, daß der Kranke, 
ein ziemlich stumpfsinniger Bauernknecht, die Stimmgabel nicht kannte, sich, aber 
trotz schriftlicher Erklärung wohl keine, für sein Auffassungsvermögen ausreichend 
plastische Vorstellung machen konnte, was vor sich gehen sollte 1 ). 

Mein bisheriger Heilungsprozentsatz von 12:1 rechtfertigt es, wenn ich die 
Methode als wirksam empfehle. Sie wäre, auch wenn die galvanische Methode, 
woran ich nicht zweifle, sich als ebenso wirksam erweisen sollte, nicht überflüssig, 
weil jede Abwechslung und Bereicherung der suggestiven Methoden willkommen 
ist. Sie hat mit der galvanischen Methode gemeinsam die Einfachheit und Aus¬ 
führbarkeit ohne otologische oder neurologische Spezial-Kenntnisse. Als einen 
Vorzug sehe ich es an, daß sie auch in den vordersten Sanitätsformationen, ein¬ 
schließlich dem Kriegslazarett, in denen der galvanische Apparat fehlt, anwend¬ 
bar ist, weil die Stimmgabel im Sammelbesteck vorhanden ist. 

Je früher die Behandlung aber einsetzt, je weniger die Vorstellung des 
Nichthörenkönnens fixiert ist, desto besser die Prognose. Auch Hirschfeld gibt 
an, daß in nicht schnell geheilten Fällen sich die Heilung gewöhnlich sehr lange 
verzögert, wenn sie überhaupt noch eintritt. 

Da die Differentialdiagnose zwischen hysterischer und organischer Taubheit 
oft sehr schwierig sein kann, dürfte die große Sicherheit der Methode sie vor 
der Heranziehung zeitraubenderer Methoden auch als Diagnosticum ex juvantibus 
anzuwenden gestatten; als solches übertrifft sie sogar die von Nonne 2 ) in dem¬ 
selben Sinne empfohlene Hypnose noch an Einfachheit und Schnelligkeit. 

Da mir im Felde nur ein Bruchteil der Literatur, und dieser nicht einmal 
regelmäßig, zur Verfügung steht, kann ich nicht behaupten, daß die Stimmgabel¬ 
methode nicht schon bekannt und in Anwendung ist. Weder Hirschfeld erwähnt 
sie in seiner zitierten Arbeit, noch K. Gold stein (Med. Klinik 1917. Nr. 28), 
der eine gute, wohl vollständige Übersicht über die verschiedenen Behandlungs¬ 
methoden der Kriegsneurosen gibt, wobei er mit besonderem Nachdruck gerade 
für einfache Methoden und deren frühzeitige Anwendung eintritt. 

') Doch dürfte es nicht viele Menschen geben, denen die Stimmgabel nicht in der 
Schule, einem Gesangverein oder dergleichen bekannt geworden wäre. 

*) Neurol. Zentralbl. 1917. Nr. 19. S. 830. 


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Alois Strasser, Diskussionsbemerkungen zur Debatte Uber die Behandlung usw. 55 


IV. 

Diskussionsbemerkungen zur Debatte über die Behandlung der 
Kriegsnephritiden (Geh. Rat Prof. His). 

Ärztetagung der Waffenbrüdernchen Vereinigung in Baden vom 11. bis 13. Oktober 1917. 

Von 

Professor Dr. Alois Strassen 

Im Verlaufe des langen Krieges bekamen wir verschiedene Formen von Nierenerkrankungen 
zur Beobachtung. Wir waren darauf vorbereitet, daß die Menge von Infektionsgelegenheiten, 
die großen Muskelerraüdungen und Kälteschädlicbkeiten die Nephritiden in großer Zahl erzeugen 
werden, zumal auch bei der sorgfältigsten Untersuchung sehr viele Leute ins Feld gegangen 
sind, die großenteils, wenn auch nicht manifest nierenkrank, doch auch nicht ganz nierengesund 
waren. Die Statistik hat hierfür sichere Beweise gebracht. 

Die Flut von Nierenerkrankungen schwerer Art brachte uns zunächst das Frühjahr 1915, 
für uns vorwiegend aus den ersten großen Karpathenschlachten, und wir müssen gestehen, daß 
nicht nur die Menge der Fälle, sondern auch deren Art uns überraschte. Nicht die mitunter 
enorme Eiweißausscheidung und auch nicht die kolossalen Ödeme waren überraschend, sondern 
für mich die starke Blutung aus der Niere, die in ihrer Größe und besonders Hartnäckigkeit 
bis dahin nur selten beobachte wurde. Ieh kann sagen, daß von den 400 bis 500 Fällen, die auf 
meiner Abteilung lagen, sicher 90 % durch besonders starke Hämaturie ausgezeichnet waren. Die 
anfänglich starke Blutung verminderte sich recht bald, aber wenn auch alle anderen nephritischen 
Symptome bis auf Spuren zurückgegangen waren, blieb eine noch immer beträchtliche Blutung 
und ich kann mich an sehr viele Fälle erinnern, die nach 5 bis 6 Monaten und länger noch immer 
bluteten. Eine zweite hervorragende Eigenschaft dieser’Kriegsnephritiker war die Polyurie. 
Selbst Fälle, die anfänglich beträchtliche Verminderung der Harnsekretion aufwiesen, zeigten nach 
unglaublich kurzer Zeit eine Polyurie, die sie zwar meist von den Ödemen befreite, an der 
Hämatnrie aber nichts änderte. 

Ich will kurz berichten, daß sorgfältige Analysen, die Verdünnungs- und Verdichtungs¬ 
proben mit Wasser und die Ambardsche Blutanalyse, die in 36 Fällen durchgeführt wurde, bei 
den ödematösen Fällen mit Oligurie und mitunter mit urämischen Symptomen die bekannte Störung 
der Wasser- und Salzsekretion zeigten, bei den anderen, also in der überwiegenden Zahl der Fälle, 
aber ein normales Verhalten, so daß man eine eminent nephritische Störung auf diesem Wege 
kaum beweisen könnte. 

Diese Umstände ließen mich denken, daß es auch in der überwiegenden Zahl der Fälle 
nicht um Nephritiden handelt, wie wir sie nach Scharlach, Diphtherie, Streptokokkeninfektion 
zu sehen gewöhnt waren, sondern um eine andere Schädigung, die den Epithelbelag des Harn¬ 
apparates der Niere in anderer Weise befällt, wie die bakteriell toxische Schädigung, wie sie 
uns bekannt ist. leb glaube, es handelt sich um eine in viel größerem Maßstabe ein¬ 
tretende Abstoßung des Epithelbelages, um eine förmliche Abrasion und zwar 
sowohl der glomerulären als auch der tubulären Epithelien. Für den Verlust 
der glomerulären Epithelien spricht die große Blutung, für den der tubulären Epithelien die 
Polyurie und beide finden den selbstverständlichen Ausdruck im Bilde des Sedimentes, wo in 
den ersten Wochen Unmassen von Epithelien und Zylindern stets zu finden waren. — Für das 


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56 Alois StraBser, Diskussionsbemerkungeil zur Debatte über die Behandlung usw. 


Erscheinen massenhafter Epithelien und Zylinder im Sedimente genügen allerdings relativ ge¬ 
ringe akut nephritische Schädigungen, wie dann auch starke Hämaturien von langer Dauer bei 
Scharlachnephritis, wenn auch nicht sehr oft, doch auch nicht allzu selten Vorkommen und nach 
Angina auftretende Hämaturien als hartnäckige wohlbekannt sind. Indessen ist die Angina in 
der Anamnese unserer Nepbritiker geradezu außerordentlich selten erwähnt. — Betrachtungen 
über die Ätiologie der Kriegsnephritiden sind heute nicht in erster Reihe an der Tagesordnung 
und darum will ich nur kurz erwähnen, daß ich als vorwiegende, wenn auch vielleicht nicht 
»alleinige Ätiologie in der brutalen Durchkühlung in Verbindung mit bedeutender Muskel- 
anstrengung suche. — Ob und welche Infektionsmomente noch eine Rolle spielen, müßte sich 
erst herausfinden lassen. Bisher ist’s nicht gelungen und ich fürchte, daß, was man bisher nicht 
festzustellen in der Lage war, wohl auch nicht festzustellen sein wird; denn die Fälle sind als 
akute Fälle uns aus der Hand geglitten, aber auch die massenhafte Erkrankung ist in den zwei 
folgenden Winterfeldzügen nicht vorgekommen und dadurch die Möglichkeit der Klarstellung 
auch heute einigermaßen gering. — Man hat in der Kriegführung auch gelernt, die Mannschaft 
vor den brutalen Kälteschäden zu schützen. 

Da nun heute mehr von Therapie die Rede sein soll, habe ich die Ansicht über die Art 
der Nierenschädigung darum näher präzisiert, weil ich durch sie Ausblicke auf die Prognose 
gewinnen wollte. 

Ich habe ursprünglich die Prognose als sehr ungünstig angesehen und bin sehr erfreut, 
daß ich die Sache anscheinend zu schwarz beurteilt habe. — Ich habe die Prognose aus folgender 
Oberlegung schlecht gestellt. — Die Schwere der Veränderung des gloraerulären Apparates ist 
sicher maßgebend für die nachfolgende Veränderung, insbesondere für den tubulären Apparat, 
und dessen Epithelbelag. — In der Nierenpathologie wird dieser Vorgang so dargestellt, daß 
die Kanälchen bei Verödung des Glomerulus durch Inaktivität auch veröden und man würdigt 
die vorwiegend auf Oscar Störks Untersuchungen basierende Ansicht nicht zur Genüge, daß 
die Kanälchen bei Verödung der Glomeruli nicht so sehr durch Inaktivität atrophieren, sondern 
mehr durch direkte Ernährungsstörung, weil sie vielfach nicht durch direkte Abzweigungen der 
intertubulären Gefäße versorgt werden, sondern von Arterienästchen, die aus den Vasa afferentia 
stammen und selbstverständlich mit der Verödung des Glomerulus zugrunde gehen. — Ich kenne 
nun eine größere Anzahl von Leuten, die nach schwerster Form der Kriegsnephritis vorläufig 
fast gesund sind, einige, die wieder ins Feld gezogen sind und dort gut geblieben sind. 

Über die Regenerationsfähigkeit in der erkrankten Niere kann man verschiedener Ansicht 
sein, sie ist auch bei entzündlichen Nierenerkrankungen (infektiös-toxischen) sicher nicht gering, 
aber eine so große Besserung, wie ich sie bei den Kriegsnephritiden gesehen habe, ist 'bei den 
infektiös-toxischen Formen schwerer Art geradezu eine Seltenheit — Die freudige Enttäuschung, 
die ich nun durch den vielfach unerwartet guten Verlauf gesehen habe, bestärkt mich in meiner 
geschilderten Auffassung der Schädigungsart, weil ich die Vorstellung habe, daß der biologische 
Ablauf entzündlicher Vorgänge in geschlossenen Organen, die eine absolute Schonung nicht 
erfahren können, anders sein muß, als die Regeneration abrasierter Epithelbelege ohne die ent¬ 
zündliche Schädigung der Zellen. — Zur Ergänzung muß ich wohl auch angeben, daß ich den 
schädlichen Vorgang in einer bedeutenden Ischämie und starken Stasen in- der Niere sehe, also 
in schweren Kreislaufstörungen, die durch übermäßige Muskelarbeit, durch statische (ortho- 
statische) Belastung und durch brutale Kältewirkung entstehen. 

Es soll damit nicht gesagt sein, daß eine so zur Not gebesserte oder scheinbar geheilte 
Niere nicht sehr vulnerabel sei, und darum erwächst für uns die Pflicht der Nachbehandlung 
dieser Fälle. 

Das therapeutische Prinzip im akuten und subakuten Stadium ist sicherlich das der 
Schonung des erkrankten Organs, in späterer Zeit, also in der Zeit der Nachbehandlung, ist 
schon die Übungsbehandlung von großer Wichtigkeit. 

Bei der Schonungsbehandlung ist sowohl die diätetische als auch die baineohydrothera¬ 
peutische Behandlung von Wichtigkeit, bei der Übungsbehandlung mehr die letztere. Ich habe 
die feste Überzeugung, daß die Regeneration durch die letzteren Behandlungsmethoden in be¬ 
deutender Weise gefördert werden kann, zumal wir durch sie die Kreislaufsverhältnisse im all¬ 
gemeinen und die der Niere im speziellen außerordentlich gut beeinflussen können; gleichzeitig 
erwächst der diätetischen Behandlung die Pflicht der Schonung, die Sorge um Vermeidung der 


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bekannten diätetischen Schäden insolange, als man genügend Anhaltspunkte fiir die Annahme 
bat, daß die Regeneration des Epithels einen erwünscht hohen Grad erreicht hat. 

Diese ganz schematischen Hinweise auf die Richtung der Behandlung genügen schon, um 
festxustellen, daß die Nachbehandlung der Kriegsnephritiden in Kurorten und Anstalten mit 
großer Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden kann und muß. 

Gestatten Sie, daß ich noch ganz kurz einige Spezialformen der Behandlung erwähne, die 
ich auf meiner Abteilung geübt habe. — Medikamente gab ich fast keine, außer wenn augen¬ 
blickliche dringende Indikationen sie erforderten. — Meine Nephritiker wurden schematisch, wie 
es bei der zeitweise sehr großen Zahl der Fälle nicht anders möglich war, folgendermaßen be¬ 
handelt. — Sie bekamen dreimal wöchentlich ein protrahiertes Bad von 35° C von 30 bis 40 
Minuten, dreimal eine Überhitzung im Bette, 50° C 30 Minuten. Sonntag Pause. 

Von den großen absoluten Milchkuren bin Ich sehr bald abgekommen, da die Flüssigkeits- 
znfuhr mir zu groß schien. — Es bewährte sich im.Prinzipe die Karelische Methode viel besser, 
wenn auch die Ernährung unter ihr naturgemäß litt. 

Ich führte sonst Kohlehydratkuren durch und zwar mit allergrößtem Erfolge. — Ich 
gab durch einige Zeit einer Reihe von Kranken Semmel, dann wieder ausschließlich Kar¬ 
toffeln zu essen, und zwar 7 bis 8 Semmeln oder 1 kg Kartoffeln täglich, daneben bis 500 g 
Milclu kein Wasser. — Diese Stickstoff-, salz- und wasserarme Diät wurde ausgezeichnet ver¬ 
tragen, die Diurese stieg mitunter ganz enorm (von 600 g auf 4")00 in 3 bis 4 Tagen). Die Ent¬ 
wässerung ging flott von statten und ich konnte meist nach 8 bis 9 Tagen zu einer gemischten 
Xienndiär übergehen, bei der sich die Kranken dann sehr wohl fühlten. 

Ich verhehle mir nicht, daß diese Kuren im Prinzip? nichts anderes darstellen, als Modi¬ 
fikationen der Karelischen Kur und sich mit zahlreichen in der Literatur beschriebenen ähn¬ 
lichen Methoden im wesentlichen decken. 


Berichte über Kongresse und Vereine. 


Waffenbrüderliche Vereinigungen Deutschlands und Österreich-Ungarns. 

1.Tagung der medizinischen Abteilungen vom 11. bis 13. Oktober 1917 in Baden b. Wien. 

Sitzung vom 11. Oktober 1917 nachmittags. 

Vorsitzender: Hofrat Prof. Dr. Hans Horst Meyer, Hofrat Prof. Dr. v. Grösz, 
GStA. Dr. Johann Frisch. 

Schriftführer: Dr. Thenen, Dr. v. Aufschnaiter. 

Wirklicher Geheimer Obermedizinalrat Professor Dr. Dietrich (Berlin): Balneotherapie 
und Kriegsheschädigtenfürsorge. Der Weltkrieg schwächt die Volkskraft der kämpfenden 
Nationen am meisten durch die Schäden, die Leben und Gesundheit der Kriegsteilnehmer 
bedrohen. Um sie zu vermindern, haben die Mittelmächte schon seit Beginn des Krieges eine 
besondere Fürsorge für die geschädigten Kriegsteilnehmer eintreten lassen. In erster Linie 
stehen die Heeresverwaltungen mit ihren neuzeitlichen Einrichtungen, sodann die bürgerliche 
Kriegsbeschädigtenfürsorge mit ihren verschiedenen Gebieten. Von diesen geht uns Ärzte und 
unseren Verhandlungsgegenstand am meisten das Heilverfahren an. Für dieses haben wir 
vor unseren Feinden viel voraus, wir haben einen hoben Stand der medizinischen Wissenschaft, 
ein vortreffliches Heeressanitätswesen, ejne große Zahl tüchtiger Ärzte und die kostbaren 
Schätze an Heilfaktoren, die unsere Kur- und Badeorte bergen. 

Die bisherigen Kriegserfahrungen stimmen darin überein, daß diese Heilfaktoren für die 
meinten Kriegskrankungen von wesentlicher Bedeutung sind, selbst für die chirurgischen Kriegs- 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 


kranken, für die Kriegsverstümmelten, denen klimatische Kuren und in geeigneten Fällen 
auch Kuren in Wild- und Moorbädern, auch Jodbädern, von großem Nutzen sind. Der Haupt¬ 
gegenstand der baineotherapeutischen Fürsorge sind jedoch die innerlich kranken Kriegsteil¬ 
nehmer, die Kriegskranken. 

Bei den Kriegserschöpften wirken die ärztlich dosierten klimatischen Kuren sowie die 
Eisen- und Arsenquellen; bei den Eikrankungen der Verdauungswerkzeuge die erdigen, die 
alkalisch-salinischen, die alkalisch-muriatischen Quellen, die alkalischen Thermalwässer und die 
Bitterwässer, je nach der Art des Leidens; die Erkrankungen der Atmungswerkszeuge werden 
durch die verschiedensten klimatischen Heilmittel, durch Kochsalzthermen, alkalische und erdige 
Quellen, auch alkalisch-sulfatische Wässer auf das beste beeinflußt; bei den Herzerkrankungen 
der Kriegsteilnehmer wirken die kohlensäurehaltigen Bäder, die Thermalsolbäder, die Eisen¬ 
säuerlinge, auch die Bitterwässer, dazu kommen sorgfältige ausgewählte klimatische Faktoren; 
bei Nierenerkraökungen können milde alkalisch-muriatische oder erdige Quellen als Nachkur 
gebraucht werden; Nervenkrankheiten werden durch Wildbäder, Solthermen, Moorbäder, auch 
durch die verschiedene Einwirkung des Klimas günstig beeinflußt; bei den rheumatischen 
Erkrankungen sind die Thermalbäder, Heißsolquellen und die Schlamm- und Moorbäder von 
anerkanntem Erfolg. Alle diese Wirkungen werden in ihren Beziehungen zu den Kriegserkran¬ 
kungen in den späteren Vorträgen näher gekennzeichnet werden. 

Auf zwei allgemeine Gesichtspunkte muß wie überhaupt bei jeder Behandlung der erkrankten 
Kriegsteilnehmer, so namentlich auch bei der baineotherapeutischen Fürsorge mit besonderer 
Sorgfalt geachtet werden: Erstens muß die durch den Krieg und seine Eindrücke verursachte 
seelische Veränderung der Kriegsteilnehmer berücksichtigt werden. Bei jeder therapeutischen 
Maßnahme, ist die seelische Behandlung nicht außer acht zu lassen. Sodann ist bei 
der Behandlung der erkrankten Kriegsteilnehmer auf eine möglichst frühzeitig einzuleitende 
geeignete Beschäftigung Bedacht zu nehmen, die in zahlreichen Fällen an sich schon 
lindernd und heilend wirkt. Das gilt besonders auch für die Heilanstalten, Kur- und Badeorte. 

Endlich noch eine Frage der Organisation. Die vorauszusehende gewaltige Inan¬ 
spruchnahme der baineotherapeutischen Fürsorge |ordert eine besondere Zentralstelle, von der 
aus alle vorhandenen Heilschätze des Landes gesammelt und nutzbar gemacht, durch die eine 
Beschleunigung und Verbilligung der Fürsorgearbeit erreicht und Doppelunterstützungen ver¬ 
mieden werden können. Die von dem Zentralkomitee der deutschen Vereine vom Roten Kreuz 
geschaffene Abteilung „Bäderfürsorge“ hat sich als eine derartige Zentralstelle für alle deutschen 
Kur- und Badeorte sowie alle in Betracht kommenden Ärzte, Apotheker, Anstalts- und Heim* 
besitzer gut bewährt. In ähnlicher Weise wirkt auch die Zentralstelle für Kriegskrankenfürsorge 
der Österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz in Wien. 


OStA. Professor Dr. Schwiening (Berlin): Organisation der Kur- und Bäder¬ 
behandlung in der deutschen Armee. 

Schwiening schildert in kurzen Umrissen die Bäderfürsorge im deutschen Heere, gedenkt 
der Errichtung des Militärkurhauses in Landeck und der Wilhelmsheilanstalt in Wiesbaden und 
ffihrt an graphischen Darstellungen die Frequenz der deutschen Kurorte durch Militärkurgäste 
vor. Die folgende Tabelle ist besonders lehrreich. 


Kurorte für 
Heeres¬ 
angehörige 


Offiziers- Mannschafts- 
Plätze 


Unmittelbar vor dem Kriege 

Anfang 1915. 

Mitte 1915 ....... 

Anfang 1916. 

Mitte 1917. 


70 

163 

2076 

94 

2 335 

16 950 

170 

5 339 

27 438 

190 

6135 

37 045 

189 

6122 

35 490 


Schwiening schließt mit folgenden Worten: Die Ausführungen zeigen, daß die deutsche 
Heeresverwaltung wie im Frieden so auch im Kriege der Kur- und Bäderbehandlung der 
Heeresangehörigen die ihr gebührende Beachtung geschenkt hat. Die getroffenen Vorkehrungen, 
bei deren Durchführung sich die Heeresverwaltung der Unterstützung aller beteiligten Stellen 
der Kur- und Badeorte in weitestgehendem Maße zu erfreuen hatte, werden gestatten, noch 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 59 


erheblich mehr Heeresangehörige, als tatsächlich geschehen, zu derartigen Kuren- zuzulassen. 
Wenn die Vorkehrungen das Bedürfnis übersteigen, so ist das ja ein erfreuliches Zeichen, das 
darauf hinweist, daß die Zahl der Kurbedürftigen nicht so groß ist, wie ursprünglich angenommen, 
and wiederum auf die Güte des allgemeinen Gesundheitszustandes des Heeres sowohl wie auf 
die günstigen Ergebnisse der sonstigen Behandlungsarten in den Lazaretten schließen läßt. 
Dieses Übersteigen der vorhandenen Vorkehrungen gegenüber dem Bedarf in den nichtdeutschen 
Kuranstalten läßt es auch verständlich erscheinen, daß die deutsche Heeresverwaltung bisher 
nur in beschränktem Maße von den außerdeutschen Kurorten Gebrauch gemacht hat. Immerhin 
sind ja auch einige österreichische Kurorte, Teplitz, Karlsbad, Marienbad, in stärkerem Maße 
von deutschen Militärkurgästen besucht worden, wie ja auch anderseits eine ganze Reihe von 
Angehörigen der österreichisch ungarischen Armee in deutschen Bädern Heilung und Erholung 
von den Kriegseinwirkungen gesucht und hoffentlich gefunden hat. 

Daß die Heeresverwaltung sich auch in Zukunft den Ausbau der Kur- und Bäderbehandlung 
für Heereszwecke, insbesondere für die Kriegsbeschädigten, wird angelegen sein lassen, braucht 
kaum noch besonders erwähnt zu werden; wie sich im einzelnen die Organisation hierfür 
gestalten wird, darüber schweben zurzeit noch Verhandlungen zwischen den beteiligten Dienst¬ 
stellen. Die Heeresverwaltung, die Organe der sozialen Versicherung, das Rote Kreuz mit 
seinen ausgezeichneten weitschauenden Vorkehrungen für die Bäderfürsorge für die heeres- 
entlassenen Krieger, die bürgerliche Organisation für die Kriegsbeschädigtenfürsorge — alle sind 
bestrebt und am Werke, den kurbedürftigen Kriegsbeschädigten die Heilschätze unserer Bäder 
zugute kommen zu lassen. Gerade diese Vielseitigkeit der dazu berufenen Stellen und zahl¬ 
reichen privaten Organisationen, die sich dazu berufen fühlen, bergen eine gewisse Gefahr, die 
zu umgehen unser derzeitiges Bestreben ist. Soweit die Heeresverwaltung selbst in Frage 
kommt, so kann versichert werden, daß sie das Wort König Friedrich Wilhelms IV.: „So gut 
wie möglich, nicht so billig wie möglich, soll der kranke Soldat gepflegt werden“, auch auf die 
siechen, krank und verwundet gewesenen Soldaten anzuwenden bestrebt sein wird. 

RA. Privatdozent Dr. Julius Schütz (Wien): Organisation der Kur- und Bäder¬ 
behandlung in der österreichisch-ungarischen Armee. Trotz teilweise ungünstiger 
geographischer Verhältnisse (viele Kurorte in der Kampfzone!) wurden die Kurorte in weit¬ 
gehendem Maße für die Behandlung kranker und verwundeter Krieger herangezogen. Sogar 
im Bereiche der Armee im Felde und in den besetzten Gebieten sind einige Kurorte im Betrieb. 
Die eigentliche Kurortebehandlung wird durch weitgehende Anwendung physikalisch-diätetischer 
Methoden außerhalb der Kurorte ergänzt. Ref. zeigt, daß es zweckmäßig war, für einzelne 
Krankheitsgruppen bestimmte Organisationstypen zu schaffen und mit der physikalisch-diätetischen 
Behandlung so frühzeitig als möglich zu beginnen. Am intensivsten wurde dieses Prinzip bei 
«ler Nephritis durcbgeführt. Schilderung der betreffenden Organisation, welche für jeden 
einzelnen Mann eine spezialistische Fürsorge von der Front bis ins Hinterland ermöglicht. 

Hierbei zeigte sich die Wichtigkeit der Verknüpfung von klassifikatorisch- 
diagnostischen mit therapeutischen Maßnahmen. Auch für Magen-, Darm-, Herz- 
und Lungenkrankheiten sind außerhalb der Kurorte Spezialanstalten errichtet, doch fällt 
bier den Kurorten immerhin der Hauptanteil der Behandlung zu. Im Laufe des Krieges sind 
fortschreitend Verbesserungen in der Organisation der Verteilung in die einzelnen Kurorte, 
Vereinfachungen der betreffenden Transferierungsvorschriften erfolgt und Vorsorge getroffen 
worden, möglichst weiten Kreisen die hohe Bedeutung der balneotherapeutiscben und physikalisch- 
diätetischen Methoden für die Kriegsbehandlung und die Verhütung dauernder Invalidität — 
speziell bei InternkraDken — ständig in Erinnerung zu bringen. Wichtig ist u. a. der Grund¬ 
satz, daß die in den Kurorten etablierten Sanitätsanstalten für Kranke des betreffenden 
Indikationskreises reserviert bleiben und daß nach Abschluß der baineotherapeutischen Be¬ 
handlung der Kranke wieder an die Sanitätsanstalt transferiert werden muß, welche ihn zuge¬ 
wiesen hatte. 

Die Erfahrungen des Krieges haben gezeigt, daß die baineologischen und physikalisch¬ 
diätetischen Behandlungsmethoden sich den übrigen ebenbürtig gezeigt haben und für die 
Behandlung interner Kriegsbeschädigten geradezu eine dominierende Rolle spielen. Ref. spricht 
die Hoffnung aus, daß diese Erkenntnis nach dem Kriege dazu führen möge, diese Methoden 
den breiten Massen der Unbemittelten und Armen mehr als bisher zugänglich zu machen. 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 


Hofrat Professor Dr. A. v. Bökay (Budapest): Organisation der klimatischen Kur- 
und Bäderbehandlung für Kriegsinvalide in Ungarn. Drei Faktoren wirken dahin, die 
ungarischen Heilquellen und klimatischen Kurorte zur Heilung der kriegsverwundeten und 
kranken Krieger segensreich zu verwenden: 1. das Landeskriegsfürsorgeamt, 2. der Ungar¬ 
ländische Verein vom Roten Kreuz, 3. die Heeressanitätsverwaltung. 

Aus den angeführten Daten erhellt, daß die ungarischen Heilbäder zur Behandlung 
unserer kriegsverwundeten und kranken Soldaten genug intensiv benützt wurden und daß wir 
nach bestem Können zur Erhaltung unserer Schlagfertigkeit beigetragen haben. Das Landes¬ 
kriegsfürsorgeamt, der Ungarländische Verein vom Roten Kreuz und die Heeresverwaltung 
haben insgesamt 10 Thermalbäder, 7 über andere Heilquellen verfügende Heilbäder und 9 klima¬ 
tische Kurorte in Anspruch genommen. Wenn ich die Zahl aller in Anspruch genommenen 
summiere, so ist das Resultat 26. Es ist das eine Ziffer, der man alle Achtung zollen muß und 
in den 16422 zählenden Belegräuraen dieser Orte wurden bisher 149935 kriegsverwundete und 
kranke Soldaten behandelt, unter diesen einige tausend Offiziere. Aus der Summierung der 
Daten geht hervor, daß die balneologischen Institutionen Ungarns bestrebt waren, ihre Pflicht 
zu erfüllen. 

Dr. J. Thenen (Wien): Organisation der Kurbäderfürsorge für Kriegsinvalide 
in Österreich. 

Die österreichische Zivilstaatsverwaltung hat mit dem am 16. Februar 1915 vom Minister 
des Innern hinausgegebenen Erlaß zur Bildung von „Landeskoramissioncn zur Fürsorge für 
beimkehrende Krieger“ ihre Tätigkeit auf dem Gebiete der Kriegsfürsorge zur Wiederherstellung 
der Arbeitsfähigkeit Kriegsinvalider eingeleitet. In der großzügigen programmatischen Erklärung 
dieses Erlasses bestimmt die Zivilverwaltung das Ziel, in Ergänzung der Fürsorge der KriegB- 
verwaltung und der segensreichen Wirksamkeit des Roten Kreuzes, den aus dem Felde zurück - 
kehrenden Kriegern zur möglichsten Widerherstellung ihrer Arbeitskraft zu 
verhelfen, sie dadurch dem Erwerbsleben als nützliche Mitglieder der Gesell¬ 
schaft wieder zuzuführen und so vor dem Schicksale mit sich und der Welt 
zerfallener Almosenempfänger zu bewahren. In den Rahmen der Aktion fällt 
'die wirksame Spezialbehandlung von kranken oder verletzten Kriegern in Heilstätten, 
Badeorten, orthopädischen Anstalten, die Unterbringung in Genesungsheimen, die Beschaffung 
von therapeutischen Behelfen, in der Absicht, die Arbeitsfähigkeit in möglichst hohem Grade 
wiederherzustellen. 

Die Zivilverwaltung erblickt in der Invalidenfürsorge die Erfüllung einer Pflicht im 
Interesse des einzelnen Individuums sowie im Interesse der Allgemeinheit. Dieser 
Auffassung wird in zahlreichen weiteren Erlässen immer wieder der prägnanteste Ausdruck 
verliehen. Es wird somit für alle Zukunft zum Leitsätze erhoben, daß die Invalidenfürsorge 
als eine die Gesamtheit und den Staat verpflichtende Wohlfahrtsinstitution zu betrachten sei. 
Die organisatorische Grundlage der Invalidenfürsorge beruht auf den am Sitze der politischen 
Landesbehörden der einzelnen Kronländer errichten Landeskommission zur Fürsorge für heim¬ 
kehrende Krieger — in Böhmen der staatlichen Landeszentrale für das Königreich Böhmen —, 
welche, im verwaltungstechnischen Sinne autonom, an der Durchführung der Aufgaben der 
Kriegsfürsorge mitwirken sollen. 

Ein großer Teil der in das Arbeitsgebiet der Zivilstaatsverwaltung fallenden Aufgaben 
obliegt derzeit noch der Heeresverwaltung, da diese während der Dauer der Mobilität die 
bestehenden militärischen Anstalten den Heilbedürftigen im weitesten Ausmaße zugänglich 
machen und gleichzeitig einen Überblick über den gesamten Krankenstand gewinnen kann. 

Mit der Beendigung des Krieges, insbesondere nach durchgeführter Demobilisierung, wird 
sich das Arbeitsgebiet der Zivilstaatsverwaltung ganz bedeutend erweitern und es wird an sie 
die Pflicht herantreten, auch für diejenigen Personen, welche durch Internierung in Feindes¬ 
land oder Verschleppung in dieses an ihrer Gesundheit Schaden gelitten haben, Obsorgen 
au treffen. 

Auf dem Gebiete der Heilfürsorge widmen sich die Landeskommissionen gegenwärtig 
der Ausgestaltung des Heilstättenwesens zur Bekämpfung der Tuberkulose, zur Behandlung von 
Nervenkrankheiten, zur Unterbringung von Geisteskranken und zur Erhaltung orthopädischer 
Anstalten. Die Vorsorgen zur Bekämpfung der Tuberkulose haben in den letzten Jahren in 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 61 

Österreich anerkennenswerte Forschritte anzuweisen, nachdem die unermüdliche Aufklärungs¬ 
arbeit der Ärzte durch die Erfahrungen im Kriege eine zwingende Beweisunterlage gefunden 
haben, und sich allenthalben die Erkenntnis Bahn gebrochen hat, daß die Bekämpfung der 
Tuberkulose zu den dringendsten Aufgaben eines auf die Erhaltung und Förderung des Volks 
wohles bedachten Staatswesens gezählt werden müsse. 

Der Forderung nach Unterbringung kurbedürftiger Kriegsbeschädigter [in Badeorten und 
klimatischen Stationen können die Lahdeskommissionen nur in geringem Maße entsprechen, da 
sie ihre Fürsorgetätigkeit aus verwaltungstechnichen Gründen nur auf die eigenen Kronländer 
beschränken müssen und sie grundsätzlich nur ihren landeszugehörigen oder den vor dem Kriege 
ansässigen Militärpersonen zuteil werden lassen. Die Hauptbedingung einer sachgemäßen 
Unterbringung von Kurbedürftigen ist jedoch, daß der Kranke an den geeigneten Platz 
gesendet wird. Die Erfüllung dieser Forderung läßt sich mit territorialer Abgrenzung des 
Wirkungsgebietes der Landeskommissionen nicht vereinigen. 

Nach den bisherigen Erfahrungen bildet aber die Unterbringung Kriegskranker in Kur 
orten, die Bereitstellung der dortselbst. geübten Heilmethoden, eine wuchtige, von vielen 
Kranken als besonders w’ohltuend empfundene Ergänzung der therapeutischen Maßnahmen. 
Um nun alle verwaltungstechnischen Schwierigkeiten anszuscbalten und den Kriegskranken alle 
Behelfe, die überhaupt verfügbar sind, und deren Anwendung erprobt ist, zugänglich zu machen 
hat die Österreichische Gesellschaft vom Koten Kreuz diesen Zweig der Fürsorgetätigkeit in 
eigene Verwaltung übernommen und mit der materiellen und moralischen Unterstützung der 
Militär- und Zivilstaatsverwaltung durchgeführt. 

Die Zentralstelle für Kriegskranken- (Kur- und Bäder ) Fürsorge der Österreichischei; 
Gesellschaft vom Koten Kreuze wird in Anbetracht ihrer umfassenden Aufgaben von der 
Militär und Zivilstaatsverwaltung subventioniert; um jedoch jene Entwicklung zu erlangen» 
welche die übernommene Aufgabe einer im Staate eng angegliederten Wohlfahrtsinstitution 
erfüllen soll, wird es einer umfassenden Mithilfe der privaten Wohltätigkeit bedürfen. Es kann 
nämlich keinem Zweifel unterliegen, daß die Zentrale gleichfalls nach eingetretener DemobiU 
Nation gesteigerten Anforderungen gerecht werden muß und auch in der Kurversorgung der au* 
der Gefangenschaft zurückkehrenden Krieger bedeutende Aufgaben zu erfüllen haben w r ird. Es 
wird ferner zu erwägen sein, daß diese Wohlfahrtsaktion auf diejenigen Maßnahmen ausgedehnt 
werden soll, welche die Regierung als notwendige Fürsorgeaktionen für die zuriiekkehrenden 
Internierten oder Verschleppten einleiten wird. 

Zur erfolgreichen Ausgestaltung der Kur- und Bäderfürsorge gehört auch die Beschaffung 
dauernder Unterkünfte und geeigneter Ileime unter Beaufsichtigung und mit eigen-: 
Bewirtschaftung, letztere, um den Kurgebrauch auf eine möglichst lange Zeit dos Jahres aus 
zudehnen und sich von dem aus wirtschaftlichen Bedingungen hervorgegangenen Brauch d*-: 
,Kursaison* freizumachen. Für Kranke kann nur eine Indikation Geltung haben, das ist die¬ 
jenige, welche in den klimatischen Verhältnissen gelegen ist. Es würde sich aus vielen, in 
Zwecke des Heilverfahrens gelegenen Gründen nicht minder im Interesse der wirtschaftliches 
Kunintemehmungen empfehlen, kurbedlirftige Kriegsteilnehmer vorwiegend außerhalb jener 
Zeit, an welcher zahlreiche private Kurgäste zusammenströmen, in die Badeorte zu senden. 
Eine überaus erfolgreiche Tätigkeit auf dem Gebiete der Heilfürsorge für kriegskranke 
Offiziere entwickelt gegenwärtig die seit 35 Jahren bestehende k. k. Gesellschaft vom 
Weißen Kreuz. 

Vor wenigen Wochen wurde in Österreich das Fundament zu einem der bedeutendsten 
staatlichen Reformwerke gelegt Es wurden eigene Ministerien für Gesundheitswesen und 
Soziale Fürsorge geschaffen. Im Kriege entstanden, haben diese Stellen in erster Hinsicht an 
der Behebung der durch die Kriegsereignisse hervorgerufenen Schäden an Volksgesundheit 
mitzuwirken; in weiterer Zukunft haben sie die hohe Aufgabe zu erfassen, ein auf modernen 
Grundsätzen beruhendes Gesundheitswesen und ein vom Geiste der Zeit getragenes Wohlfahrts¬ 
wesen auszugestalten. Wir Ärzte hegen die Zuversicht, daß alle Erwartungen nicht nur 
erfüllt, sondern weit übertroffen werden müssen, wenn die der Volkswohlfahrt gewidmete Arbeit 
sich frei und abseits vom Getriebe der Politik entfalten kann. Die im harten Krieg gereifte 
Erkenntnis, daß der Mensch das kostbarste Gut des Staates ist, darf auch in dauernder Friedens- 
zeit nicht mehr in Vergessenheit geraten. 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 


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Aussprache. Dr. Karstedt (Berlin), Vertreter des Zentralkomitees der Deutschen 
Vereine vom Roten Kreuz und stellvertretender Vorsitzender der Abteilung „Bäder- und 
Anstaltsfürsorge beim Roten Kreuz“: Namens des Zentralkomitees der Deutschen Vereine vom 
Roten Kreuz und insbesondere im Namen der Abteilung Bäder- und Anstaltsftirsorge und deren 
Vorsitzenden, Herrn Oberbürgermeister Geib, möchte ich, wenn auch etwas verspätet, nicht 
unterlassen, der hochansehnlichen Versammlung den Gruß zu entbieten. Gestatten Sie mir, 
nach den sachverständigen Ausführungen meiner Herren Vorredner nur einen kurzen Hinweis 
auf eine breitere Anfassung des Themas. Es ist bereits hier von vielen Seiten in ehrender und 
anerkennender Weise der Tätigkeit unserer Abteilung „Bäder- und Anstaltsfürsorge“ gedacht 
worden. Große Schwierigkeiten und Bedenken waren zu überwinden. 

Vorbauend als Fundament Ihrer weiteren Verhandlungen haben wir bereits am 25. Juli 1. J. 
einen Vertrag mit Wien geschlossen, der in bezug auf Kur- und Anstaltsfürsorge die Gegen¬ 
seitigkeit zwischen der deutschen Abteilung „Bäder- und Anstaltsfürsorge“ und der gleichartigen 
Wiener Organisation in feste Form gießt. Ich darf der Hoffnung Ausdruck geben, daß dieses 
Werk praktischer waffenbrüderlicher Betätigung zum Segen beider Staaten auf lange hinaus 
wirken und sich auswirken möge. 

San.-Rat Dr. Stemmler (Bad Ems): Im Anschluß an die Vorträge vom Geh. Rat 
Prof. Dr. Dietrich und Dr. Karstedt möchte ich nur kurz ausführen, in welcher Weise dem 
Zentralkomitee der Deutschen Vereine vom Roten Kreuz für seine in die Bäder- und Kurorte 
entsandten Patienten die ärztliche Hilfe garantiert ist. 

Als die Frage der Kriegsfürsorge für das Rote Kreuz brennend wurde und diese Frage 
in einer glänzenden Versammlung im Herrenhause in Berlin erörtet und erläutert worden war, 
hat das Rote Kreuz mit dem Standes verein der reichsdeutschen Badeärzte einen Vertrag 
geschlossen, der ihm die ärztliche Hilfe voll und ganz gewährleistet. Auf die Einzelheiten 
dieses Vertrages will ich nicht weiter eingehen, sondern nur erwähnen, daß derselbe die freie 
Ärzte wähl garantierte und die Kasernierung der Patienten in den offenen Kurorten ausschließt. 

Dieser Vertrag ist für uns Badeärzte natürlich auch ein Opfervertrag, den wir aber gern 
als patriotische Opfergabe auf den Altar des Vaterlandes gelegt, um die Opfer an Gut, Leben 
und Gesundheit, die unsere Kinder an der Front dargebracht haben, mit offener Hand reichlich 
zu vergelten. Dieser Vertrag stellte dem Roten Kreuz die Hilfe von 600 deutschen Bade¬ 
ärzten zur Verfügung, die bestrebt sind, die hehre Aufgabe des Roten Kreuzes zu erfüllen, die 
Opfer an Leben und Gesundheit durch Opfer an Gut in Vergessenheit zu bringen. 

RA. Dr. H. Meßmer, Leiter der Zentralstelle für Kriegskranken- (Kur- und Bäder ) 
Fürsorge der Österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz: 

Durch die Herren Referenten ist die Notwendigkeit einer erhöhten Fürsorge für jene 
Kriegskranken, die zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit den Gebrauch einer Trink- oder 
Badekur oder des Aufenthaltes in einem Höhenkurorte oder am Meere benötigen, klar vor 
Augen geführt worden. 

Die Heilquellen Österreichs bilden ein Nationalvermögen von unermeßlichem Werte. 
Darum müßte der Staat viel mehr als bis jetzt dafür Sorge tragen, daß diese Werte den 
Erhaltern der Nation, d. s. die arbeitenden Stände und jetzt unsere Helden an 
<ier Front als ein ihnen gebührendes Recht leichter zugänglich gemacht werden. 
Hier einzugreifen, wird eine notwendige und dankenswerte Aufgabe der neuge¬ 
schaffenen Ministerien für Volksgesundheit und soziale Fürsorge sein. 

Die Einrichtungen von Anstalten und Heimen für weniger zahlungsfähige Kurgäste und 
für mittellose darf nicht verhindert werden, weil darin einige eine Geschäftsstörung erblicken. 
Das darf nicht zugelassen werden und dagegen muß mit allen Mitteln auch von 
seiten der Behörden Stellung genommen werden. 

Es sollte dafür Sorge getragen werden, daß in den Kurvorstehungen nicht allein die 
Kurinteressen, sondern auch die Kurgäste und insbesondere die Wohlfahrtsorganisation ihre 
Vertretung haben und auch den Ärzten mehr Rechte eingeräumt werden. 

Schließlich möchte ich noch auf den bestehenden Mangel eines Zentralsammelpunktes für 
alle diese Aktion betreffenden Bestrebungen hinweisen. Gerade die Kur- und Badefürsorge 
für Kriegsteilnehmer darf naturgemäß weder durch Landes- noch durch Reichsgrenzen beengt 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 


63 


sein und muß volle Freizügigkeit im Bereiche der Länder aller Verbündeten besitzen, wie sie 
ja auch allen bedürftigen Kriegsteilnehmern der Mittelmächte zukommen soll. Die Zersplitterung 
einer derartigen Aktion wird nicht nur die für Zwecke der Kur- und Bäderftirsorge aufbring- 
baren Mittel zerstreuen, sondern auch den Kurwerbern die Möglichkeit erschweren, die richtige 
Stelle zur Erfüllung ihrer Ansuchen ausfindig zu machen, wie anderseits ermöglichen, daß 
Gesuchsteller durch Anstrebung von Doppelunterstützungen andere Kurbedürftige schädigen. 
Deshalb muß eine Zentralstelle bestimmt werden und müssen die großen Organisationen, 
die Bich heute schon auf diesem Gebiete betätigen, in engster Fühlungnahme 
miteinander arbeiten. 

GStA. Dr. Johann Frisch (Wien): Ich möchte mitteilen, daß ein Erlaß des Kriegs¬ 
in inisteri ums auf dem Wege ist, welcher allen Militär-, beziehungsweise Spitalkommanden, 
bekanntgibt, welche Bäder und zu welchem Zwecke dieselben den Heeresangehörigen zur 
Verfügung stehen. Die Worte, die viel verheißenden Äußerungen Seiner Exzellenz des Kriegs¬ 
ministers lassen mit voller Beruhigung in die Zukunft schauen, nachdem die Heeresverwaltung 
die große Bedeutung der physikalischen Therapie erkannt hat und bestrebt ist, mit allen ihr 
zu Gebote stehenden Mitteln dieselbe nicht nur aufzubauen, sondern auch in den Bädern eine 
umfassende Forschungsarbeit zu inaugurieren. 

Kaiserlicher Rat Dr. Julius v. Hortenau, Präsident des küstenländischen Fremden¬ 
verkehrsverbandes (Abbazia): Ich wende mich im Namen des küstenländischen Fremden¬ 
verkehrsverbandes an die ärztlichen Abteilungen der Waffenbrüderlichen Vereinigungen mit der 
Bitte um deren tatkräftige Unterstützung einer Aktion, die bei Kriegsbeginn seitens des 
Verbandes geschaffen wurde und den Zweck verfolgt, die hohen Pflichten der Kriegskranken¬ 
fürsorge mit den volkswirtschaftlichen Interessen der österreichischen Adrialänder in Einklang 
zu bringen. Dieses Ziel soll erreicht werden: 

1. durch Systemisierung von Stiftsplätzen in den Hotels und Pensionen an unserer Küste 
zuiu Preise von 4 und 6 Kronen täglich für Erholungsbedürftige; 

2. durch die Errichtung eigener Heilanstalten für Pflegebedürftige; 

3. durch die Aufbringung eines Unterstützungsfonds zu Kurzwecken für mittellose Kriegskranke; 

4. durch Gewährung unverzinslicher Darlehen aus Staatsmitteln für im Kriege notleidend 
gewordene Hotelunternehmungen an der Adria, welche sich an unserer Kriegskrankenfürsorge 
beteiligen. 

Letzteres halten w T ir für eine voraussetzliche Bedingung einer tunlichsten Erweiterung der 
Aktion durch größtmöglichste Beteiligung unseres Hotelgewerbes, das während des Krieges so 
schwere Vermögens Verluste erlitten hat, daß man billigerweise nur dann auch auf dessen Mit¬ 
wirkung an humanitären und patriotischen Aktionen rechnen kann, wenn es seitens der staatlichen 
Verwaltung gestützt und gehalten wird. 

Die Aufnahme, die unser Unternehmen bei der Regierung und den Behörden fand, läßt 
uns hoffen, daß ein großer Teil der 30 000 Fremdenbetten, die an unserer Küste verfügbar sind, 
während eines Teiles des Jahres unserer Aktion zur Verfügung stehen werden, da schon die 
bereits vorliegenden Platzanweisungen bei turnusweiser Vergebung jährlich Tausenden von Kriegs¬ 
kranken den Kuraufenthalt an unserer Küste ermöglichen werden. Eine weitere Voraussetzung 
und Bedingung, die unserseits an die Vergebung dieser Stiftsplätze gebunden wird, ist der Aus¬ 
schluß von offener Tuberkulose. 

Nur durch strikteste Einhaltung dieser Bedingung wird es möglich sein, einerseits die 
heimische Bewohnerschaft, die nach den furchtbaren Entbehrungen des Krieges den günstigsten 
Boden für die schrankenlose Ausbreitung dieser Volksgeißel bieten würde, zu schützen, anderseits 
die österreichische Riviera im Interesse der gesamtstaatlichen Volkswirtschaft dem Fremden¬ 
verkehre zu erhalten. 

Wir hoffen und erwarten von der staatlichen Tuberkulosenfürsorge, daß sie die Heilschätze 
der heimischen Küste unseren Kranken durch die Errichtung eigener Heilstätten zur Verfügung 
stellen werde, die bei entsprechender Führung keinerlei Gefahr für die heimische Bevölkerung 
bedeuten, sind jedoch auch selbst bereit, die durch die Errichtung geeigneter Objekte im 
Rahmen der von uns projektierten eigenen Heilanstalten helfend einzugreifen, wenn der Staat 
uns hierzu berufen sollte. 


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64 Berichte über Kongresse und Vereine. 


Die Gründung der Waffenbrüderlicben Vereinigung beweist uns, daß wir in unserem 
Bestreben nicht allein stehen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den Waffengenossen, 
das auf ungezählten Schlachtfeldern und auf der Hochwacht des Meeres seine Blnttaufe erhielt, 
mit allen Mitteln gegenseitiger Hilfsbereitschaft für alle Zukunft zu stärken und zu erhalten, 
ln Anbetracht der Gemeinschaft unserer Ziele gestatte ich mir daher die Bitte an die hoch¬ 
geehrte Versammlung, uns behilflich zu sein, an den Sonnengestaden der österreichischen 
Adriaküste ein Denkmal der Dankbarkeit zu errichten für alle innerhalb und außerhalb der 
schwarzgelben Grenzpfähle, die für Österreich-Ungarns Bestand und Zukunft kämpften und 
litten. Sie dienen damit den Opfern dieses Krieges und halten Ihrem eigenen Vaterlande 
die Treue. 

RA. Dr. Offer (Wien*: In der Vorraussicht, daß nach erfolgter Demobilisierung für 
Kriegsbeschädigte eine weitgehende Vorsorge getroffen werden muß, habe ich dem k. k. Ministerium 
für Landesverteidigung eine größere Anzahl von Verpflegstagen in meiner Anstalt zur Verfügung 
gestellt, für im Kriege erkrankte Offiziere, welche auch nach der Demobilisierung einer Behand¬ 
lung bedürfen. Die Verteilung dieser Plätze wurde dem Ministerium für Landesverteidigung 
überlassen nach dem Schlüssel, daß je 1000 Verpflegungstage den Angehörigen der Landwehr, 
des gemeinsamen Heeres sowie den Heeresverwaltungen unserer Verbündeten (Deutschland, 
Türkei und Bulgarien) zur Verfügung gestellt wurden. Nach diesem Beispiel können alle An¬ 
stalten Österreichs für die Möglichkeit der Nachbehandlung der Kriegsbeschädigten ihr Scherf¬ 
lein beitragen. 

Regierungsrat Dr. Löbel (Dorna-Watra) weist an der Hand eingehender statistischer 
Ziffern nach, daß der Besuch der Kurorte, wenn man die Jahre 1915 bis 1917 verfolgt, einen 
steten Rückgang aufweist. Man wäre geneigt, diese Tatsachen auf die herrschenden Verpflegs- 
schwierigkeiten zurückzuführen. Das herrschende Schlagwort, daß der Bädergebrauch ein Luxus 
sei, müsse verschwinden. Dies könne nur durch eine wesentliche Verbilligung des Bäder¬ 
gebrauchs bewirkt werden. Redner verweist diesbezüglich auf ein Übereinkommen zwischen 
dem Kriegsrainisterium und dem Ackerbauministerium in betreff der Benützung des Bades 
Dorna-Watra durch Heeresangehörige hin und empfiehlt die Bestimmungen dieses Vertrages 
zur Danachrichtung. 

Medizinalrat Dr. Boral (Wien) betont, daß es von größter Wichtigkeit sei, in den Sammel- 
stellen für Nierenkranke nur spezialistisch ausgebildete Ärzte zu verwenden. 

RA. Dr. Friedrich Deutsch (Karlsbad): Mit Beziehung auf die Ausführungen des 
Herrn RA. Dozenten Dr. Schütz möchte ich mir erlauben, darauf hinzuweisen, daß für alle Kur¬ 
orte, also auch diejenigen, welche bereits stabile Militärsanitätsanstalten besitzen, eine Erweiterung 
derselben, beziehungsweise die Neueinrichtung solcher Anstalten späterhin erforderlich »ein 
wird. Da ist zu bemerken, daß der weitaus größte Teil der Kurbedürftigen im Kriege in den 
nichtstabilen Reservespitälern Aufnahme findet. Sehen wir die durch den Krieg bedingte Ver¬ 
mehrung der Krankheiten, welche einen Kurgebrauch nötig machen, so dürfte diese Anregung 
auf fruchtbaren Boden fallen. Darf ich nur darauf hinweisen, in welch auffallender Weise sich, 
um ein Beispiel zu nennen, die Erkrankungen der Gallenwege vermehrt haben, die vor dem 
Kriege bei Männern eine so unverhältnismäßig geringere Verbreitung hatten. Weiteres möchte 
ich erwähnen, daß in Karlsbad die Aufnahme kurbedürftiger Mannschaftspersonen zwar in 
das Reservespital, nicht aber in die Militärbadeheilanstalt durch bloßes Einvernehmen der 
Spitalskommandanten erfolgen kann. Ebenso ist die Aufnahme von Offizieren an die Ver¬ 
leihung eines Freiplatzes von seiten des Militärkommandos Prag gebunden, was ich mir zu 
bemerken erlaube. 

Stadtphysikus Dr. Karl Zörkendorfer (Marienbad) weist darauf hin, daß die Errichtung 
von Heilstätten durch verspätete Freigabe gesperrter Baumaterialien so verzögert wurde, daß 
die beste Jahreszeit zum Bauen nicht ausgenützt werden konnte, die Herstellung um ein Jahr 
verzögert wurde und wegen der immer mehr zunehmenden Steigerung in den Preisen der Bau¬ 
materialien die Baukosten ungemein vergrößert werden. Er ersucht den Vertreter des Sanitäts¬ 
departements im Kriegsministerium, dahin zu wirken, daß solche Verzögerungen in Zukunft 
vermieden werden. 


W. Ilüxeiifttoin, Druckerei und Deutscher Verlag C». in. b. II., Berlin SW. 48. 


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ZEITSCHRIFT 

. PO* 

PHYSIKALISCHE UND DIÄTETISCHE 

THERAPIE 

Begründet von E. v. Leyden und A. Goldscheider 

Herausgeber: 

A. GOLDSCHEIDER L. BRIEGER A. STRASSER 

Redaktion 

Dr. W. ALEXANDER, zurzeit Marieaburg (Westpr.)* Lazarett Schützetfhaus. 

Manuskripte, Referate tmd Sonderabdrucke Werdeü ab Herrn br. W. Alexander, zurzeit Marienburg (Westpr.J, 
Lazarett Schötzenhtühj portofrei erbeten; die Mafiuskripte aus Oesterreich-Udgftni sind Herrn Prof. Dr. 
A.Strasser,Wien IX, Widerhofergasse 4, zu übersenden. Die gewünschte Anzahl voh Sonderabzügen ist auf der 
Korrektur zu vermerken, 40 Sonderabzüge werden unentgeltlich geliefert. Abbildungen müssen auf besonderen 
Blittcrn (nicht in das Manuskript) und in reproduk tio nsfähiger Ausführung eingesandt werden. 

INHALT 


I. Original-Arbeiten. s«i. 

L Ueber die krankhalte Ucberemplindliohkeit und ihre Behandlung. Von Geh. Med. • Rat Prof. Dr. 

Goldscheider (Foitcetzung).19$ 

il. Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik. Von Prof. Dr. Dst ermann in 

St. Blasien-Freiborg i* Br.. 21$ 

II. Referate über Bücher and Aufsätze. 

Seite Seite 

A. Diätetisches (Ernährungstherapie). C. Elektro-, Licht- und Röntgentherapie. 

Htinsheimer. Kriegskost und Magenchemismus 222 Hirschfeld, Bemerkungen zur Therapie der 

Feer, Ueber die Verwendung des VoTlmehls in der hysterischen Tanbheit.224 

Säuglingsernährung und über das Vollbrot im 


allgemeinen. . . ... 222 D. Verschiedenes. 

Blrkne rund Dein Inge r, Beiträge zur Zusammen- Engelmann, Gefahren und Verhütung der Er¬ 
setzung und Untersuchung von Fleisch und Fleisch- kältungskrankheiten, insbesondere bei Kleidungs-, 

wurst .Schuh- und Kohlenknappheit.224 

B. Hydro-, Balneo- und Klimatotherapie. 

Eisenmenger. Der hydrostatische Druck als thera¬ 
peutische Komponente des Bades.223 

Scheminzky. Die Emanation des Wassers . . . . 224 _ 


Hotel u. Kurhaus St. Blasien 

im südlichen badischen Schwarzwald, 800 m über dem Meer 

mit Anstalt für physikalische Heilmittel 

Alle einschlägigen Kurmittel ✓ Luftbäder / Terrain kuren / Ausgedehnte Tannenwälder 
Lslter der ärztlichen Abteilung: Prof. Dr. DETERMAMN 

Sanatorium Luisenheim. St. Blasien 

ffflr Merz>, Magen., Darm-, Stoffwechsel- und Nervenkranke, Diätkuren 

Laltsaisr Arzt: Prof. Dr. EDENS . In fe.id.n Häusern Infektiös Erkrankt, ausgeschlossen 


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zu verkaufen. 

Bis zum Tode des Inhabers wurde hier ein diätetisch - physikalisches Sanatorium betrieben. 
Gefällige Anfragen erbitte unter J. A. 9902 durdi Rudolf Mosse, Berlin SW 19. 
















Verlag von GEORG THIEME in Leipzig 


Soeben erschien 


Ein Handbuch 

für Aerzte und Bevölkerungspolitiker 


unter Mitwirkung von 


Prof. Br C, Adam, Direktor des Kaiser Friedrich-Hauses in Berlin — Prof. Or. 
Öeirmajin, Direktor derliermatoidgisehen Klinik in Heidelberg — Prof. Dr H H aik* 
■n Berlin ?£ Prof. Dr. M. Henkel in jena - K-und k-Konsul G. von Hoffman:) 
in Berlin. - Geb. Obvr-Med-Rai Dr. Kroime, Vortragender Rai im Ministerium des 
tönern in Berlin — Geh. Rät Prof. Dr. jur. K. v. Lilienthal in Heidelberg — Ge'r. 
Med.-Kar Prof, ßr F, Mjrnius, Direktor der Medizinischen ÜB}versi!ätsklin>k in 
Pas Kn: V, - Dr. pj«c?ek in Berlin Df W. Scballoiayer nt Pl*neggMüne(i«n - 
Prof, Dr, W, Strobmayei in jen* - Dr. W. Weinberg in Snsifgort 


herausgegeben von 


Preis M. 15, 

und 25% Teuerungszuschlag 







Original -Arbeiten 


i. 

Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre 

Behandlung. 

Von 

Geb. Med.-Rat Prof. Dr. Goldseheider. 

(Fortsetzung.) 

II. Überempfindlichkeit durch Übermüdung und Überreizung. 

Die Ermüdung zeigt sich in einem objektiven und subjektiven Tatbestand. 
Ersterer besteht, ganz allgemein ausgedrückt, in der Abnahme der Leistung bzw. 
Leistungsfähigkeit, letzterer in dem subjektiven Gewahrwerden der Ermüdung, 
welches sehr zusammengesetzter Art ist (s. unten). Am Muskel, wo die Verhält¬ 
nisse am übersichtlichsten sind, tritt uns die objektive Ermüdung in der mit 
der Dauer der Arbeitsleistung abnehmenden Größe der letzteren entgegen; die 
„Ermüdungskurve“, gewonnen durch die Registrierung der Hubhöhen bei häufig 
wiederholter Gewichtshebung, ist beim ausgeschnittenen Muskel eine gerade Linie, 
beim Menschen eine individuell verschieden verlaufende Kurve, welche außerdem 
eine ganze Reihe von Abhängigkeiten erkennen läßt: Lebensweise, Aufregungen, 
geistige und körperliche Anstrengungen, Nachtruhe, Verdaungstörungen, endlich die 
Übung sind von Einfluß (Mosso). Die bei der willkürlichen Bewegung erkennbaren 
Ermüdungserscheinungen setzen sich zusammen aus den im Mnskel selbst, den in 
der Nervenzuleitung und den im Willensimpuls (psychisch) ablaufenden Ermüdungs¬ 
vorgängen. Daß die Innervation verändert ist, geht aus den Beobachtungen von 
Pieper 1 ) hervor: der Aktionsstrom des ermüdeten Muskels läßt anstatt normaler 
SO nur 25 bis 20 diphasische Schwankungen erkennen, welche z. T. niedriger und 
von größerer Länge sind und kleine superponierte Zacken zeigen, woraus ge¬ 
schlossen werden muß, daß weniger Impulse vom Nervensystem zum Muskel 
kommen und daß dieselben nicht so gleichzeitig wie in der Norm zu allen Fasern 
des Muskels gelangen. 

Herabsetzung der Empfindungstätigkeit durch Ermüdung ist im Bereiche 
des Gesichts-, Gehörs- und Geruchsinnes festgestellt. 

Die Hautsensibilität läßt Ermüdungserscheinungen weniger sicher er¬ 
kennen. Die nach taktilen Reizungen zurückbleibenden Hypästhesien sind wahr¬ 
scheinlich durch Hemmung bedingt; hierher gehört auch die Aufhebung der feinen 

0 Elektrophysiologie menschlicher Muskeln. 1913. 

Zeitschr. f. physik. u. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 7. 13 


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194 


Goldscheider 


Kitzelempfindung nach Bestreichen der Haut. Die Herabsetzung der Kälte- und 
Wärmeempfindlichkeit durch Kälte- bzw. Wärmereize beruht weniger auf Er¬ 
müdung als auf der Veränderung der Eigentemperatur der peripherischen End¬ 
organe der Haut. Die bei geistiger Ermüdung beobachteten Herabsetzungen der 
Hautsensibilität (Griesbach u. a.) sind auf psychische Prozesse zu beziehen 1 ), 
welche freilich von physiologischer Ermüdung der Gehirn-Ganglienzellen abhängen. 
Daß sowohl die Funktion der empfindenden Rindenzellen wie die den Assoziations-, 
Vorstellungs- und Willensvorgängen zugrunde liegenden materiellen Prozesse 
der physiologischen Ermüdbarkeit unterliegen, ist unzweifelhaft. 

Mechanische, elektrische usw. Reizungen der sensiblen Hautnerven hinter¬ 
lassen eine Hypästhesie, welche ebenso wie die Hyperästhesie eine Irradiation 
erkennen läßt (vgl. Kap. I.). Hypästhesie und Hyperästhesie sind gleichzeitig vor¬ 
handen („relative Hyperästhesie“), derart, daß sehr schwache Reize abgeschwächt, 
etwas stärkere gesteigert empfunden werden. Am auffälligsten tritt dies Ver¬ 
hältnis bei schmerzhafter Erregung der Hautnerven hervor, welche neben einer 
Hyperalgesie eine ausgesprochene Hypästhesie für unterschmerzliche Reize erzeugt. 
Bei dieser Herabsetzung der Empfindung handelt es sich jedoch nicht um eigent¬ 
liche Ermüdung, sondern um Hemmungsvorgänge. Eine Begründung dieser An¬ 
sicht würde hier zu weit führen (vgl. Über Schmerz und Schmerzbehandlung. 
Ztschr. f. phys. und diät. Therapie Bd. 19, 1915.) 

Das Vorkommen von Ermüdung im Bereiche der Reflextätigkeit erscheint 
gesichert. So ist die Abschwächung der Sehnenreflexe nach wiederholter Aus¬ 
lösung vielleicht auf Ermüdung des zentralen Anteils des Reflexbogens zu beziehen, 
falls nicht etwa Hemmungseinflüsse hierbei mitspielen. Der nach großen An¬ 
strengungen beobachtete völlige Verlust der Sehnenreflexe, welcher ein bis mehrere 
Tage anhalten kann, muß auf eine Erschöpfung der Reflexzentren bezogen werden. 
Edinger 2 ) gibt Beispiele dieses Vorkommens an. Für die bloße Abschwächung 
der Reflexe nach anstrengenden Muskelbewegungen kommt auch die Ermüdung 
der Muskeln selbst in Betracht. Der Nachlaß der Hautreflexe bei mehrfach 
hintereinander ausgeführter Prüfung dürfte auf Hemmung zu beziehen sein; die 
Abschwächung des Pupillenreflexes unter gleichen Bedingungen zugleich auf Netz¬ 
hautermüdung. 

Die Ermüdbarkeit der peripherischen Nervenfasern ist außerordentlich gering, 
jedoch läßt sich in sauerstofffreier Atmosphäre Nervenermüdung herbeiführen 
(von Baeyer und Fröhlich). Wahrscheinlich ist die Ermüdbarkeit kranker 
Nerven eine größere (Haberlandt). 

Die Ermüdung verschwindet durch Ruhe. Auch der ausgeschnittene, durch 
elektrische Reizung ermüdete Kaltblütermuskel erholt sich, vorausgesetzt, daß er 
sich in einer sauerstoffhaltigen, Atmosphäre befindet (Joteyko). Die glatte 
Muskulatur ist wie die quergestreifte ermüdbar und erholungsfähig. Ermüdung 
und Erholung sind allgemeine Eigenschaften der lebendigen reizbaren 
Substanz. 

Verworn zeigte, daß bei Einwirkung eines galvanischen Stromes auf Rhi- 
zopoden die Reizerscheinungen (Kontraktion der Pseudopodien und der Körper- 

! ) Vgl. die Zusammenstellung bei M. Lobs ien. Die experimentelle Ermüdungsforschung. 1914. 

Der Anteil der Funktion an der Entstehung von Nervenkrankheiten. 1908. 


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Über die krankhafte Oberempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


195 


Substanz selbst) mit der Dauer des Stromes abnehmen und schließlich ganz auf- 
hüren (Aktinosphärium) und deutet diesen Vorgang als Ermüdung. Die nach 
Steinach beobachteten Ermüdungserscheinungen bei der Reizsummation wurden 
bereits im I. Kap. erwähnt. 

Ermüdete Muskeln werden wieder reaktionsfähig, wenn die Blutgefäße mit 
physiologischer Kochsalzlösung ausgespült werden (Ranke). Noch besser wirkt 
nach Kronecker die Durchspülung mittels einer Lösung von übermangansaurem 
Kali oder mittels sauerstoffhaltigen Blutes. Durch Sauerstoffmangel wird das Ein¬ 
treten der Ermüdung beschleunigt, teils durch die Anhäufung lähmender ungenügend 
oxydierter Stoffe (Zuntz, Winterstein), teils durch den mangelnden Ersatz des 
zur Funktion erforderlichen Sauerstoffs. 

Geistige Ermüdung erhöht die Ermüdbarkeit des Muskels, was Mosso auf 
toxische Stoffe bezieht. 

Bedeutungsvoll ist der von E. Weber durch plethysmographische Unter- 
snchnngen erbrachte Nachweis, daß die während der Arbeit vermehrte Durchblutung 
des Muskels sich beim Ermüdungszustand in das Gegenteil umkehrt. Die Gefäße 
verengern sich, die Sauerstoffzufuhr sowohl wie die Entfernung der Ermüdungs¬ 
stoffe wird erschwert. Der Muskel wird dadurch auf verringerte Arbeitsleistung 
eingestellt, erzwungene Weiterarbeit unter diesen Umständen muß die Zellen 
schädigen. Die Gefäßerweiterung bei der Tätigkeit wie der entgegengesetzte 
Vorgang bei der Ermüdung sind von regulatorischer Bedeutung. Diese Tatsache 
stempelt die Pletyhsmographie zu einer ausgezeichneten objektiven Methode der 
Ermüdungsmessung. Bei dem Zustandekommen der Ermüdung und in umgekehrtem ' 
Sinne der Erholung spielen mehrere Faktoren mit: einerseits die Anhäufung von 
Produkten der bei der Tätigkeit entstehenden Stoffzersetzung, andererseits der 
Verbrauch der zur Tätigkeit bez. zur Restitution der Substanz notwendigen Stoffe 
und zwar in erster Linie des Sauerstoffs und ferner gewisser kohlenstoffhaltiger 
Verbindungen. Verworn bezeichnet als „Ermüdung“ im engeren Sinne die durch 
Vergiftung mit den eigenen* Zersetzungsprodukte entstehende Lähmung, als „Er¬ 
schöpfung“ die „aus dem Verbrauch und mangelnden Wiederersatz der lebendigen 
Substanz entspringende Lähmung“. Auch Kraus läßt diese beiden Vorgänge als 
Ermüdungsbedingungen gelten 1 ). 

Diese Beziehungen haben wahrscheinlich nicht bloß für die Muskeln und 
Neurone, sondern für die lebendige Substanz schlechthin Gültigkeit. 

Die bei der Muskeltätigkeit entstehenden Zersetzungsstoffe („Ermüdungs¬ 
stoffe“) wurden von Ranke, Mosso und vor allem von Weichardt studiert. 
Letzterer stellte durch außerordentlich sorgfältige und schwierige Versuche fest, 
daß bei der Ermüdung ein im Muskelpreßsaft nachweisbares Toxin entsteht, welches 
anderen Tieren injiziert, je nach injizierter Menge, alle Stadien der Ermüdung 
herbeiführt. Weichardt spaltete auch in vitro durch verschiedene Verfahren 
aus Eiweiß hochmolekulare Stoffe ab, welche, Tieren injiziert, Sapor, Atmungsver- 
lang8amuug und Temperaturerniedrigung bewirken („Kenotoxine“) und den bei der 
physiologischen Ermüdung entstehenden entsprechen. Weichardt fand ferner, 
daß bei Tieren, in deren Blntbahn man Ermüdungstoxin bringt, ein spezifisches 


*) Die Ermüdung als ein Maß der Konstitution. 1897. Bibliotheca medica. 

13* 




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19(j Goldscheider 


Antitoxin entsteht, mit welchem man auch in vitro das Toxin absättigen kann. 
Durch Injektion geringer Dosen von Kenotoxin kann man Tiere (z. B. Mäuse) 
leistungsfähiger machen (aktive Immunisierung); desgleichen durch Injektion von 
Serum von mit Kenotoxin (aus Muskelpreßsaft) vorbehandelten Tieren gegen In¬ 
jektion von Kenotoxin sowie gegen natürliche Ermüdung schützen. Auch am 
Menschen sind unter Ausschluß suggestiver Beeinflussungen Versuche mit Anti- 
kenotoxin-Einverleibung mit positivem Ergebnis ausgeführt worden (Weichardt, 
Lorentz, Labsien), deren weitere Nachprüfung freilich erwünscht erscheint. 

Welche Rolle die Antikenotoxinbildung bei der Erholung spielt, muß noch 
weiter aufgeklärt werden. Sie stellt jedenfalls nur einen Teilfaktor der sich ab¬ 
spielenden komplizierten Vorgänge dar. Neben der Bildung und Entfernung der 
Ermüdungsstoffe spielt die Assimililation und zwar sowohl der Ersatz des ver¬ 
brauchten Sauerstoffes wie der zersetzten Substanz eine bedeutsame Rolle. An 
sie knüpft auch die Erhöhung der Leistungsfähigkeit durch Übung an (vgl. I. Kapitel). 

Kenotoxin ist das Giftspoktrum der höhermolekularen Eiweißspaltprodukte. Werden 
solche in zweckmäßiger Dosierung injiziert, so tritt eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit 
ein, welche Weichardt in exakter Weise bestimmt hat. Dieselbe wird von dem auf 
diesem Gebiete bahnbrechenden Forscher als „Protoplasma-Aktivierung 44 aufgefaßt. Auch 
die Injektion gewisser Chemikalien erzeugt eine erhöhte Resistenz gegen die ermüdende 
Wirkung des Kenotoxins, was Weichardt darauf bezieht, daß durch dieselben Kenotoxin 
aus dem Organ-Eiweiß abgespalten wird, welcher Vorgang eine Kenotoxin-Immunität 
herbeiführt. Die nach körperlicher und geistiger Anstrengung beim Menschen anfänglich 
zu beobachtende Erhöhung der Leistungsfähigkeit ist der genannte Autor gleichfalls geneigt, 
auf eine aktive Kenotoxin-Immunisierung zu beziehen. Die Protoplasma-Aktivierung wird 
von Weichardt als ein allgemeiner physiologischer Vorgang bezeichnet, welcher sich 
nicht auf die erhöhte Antitoxinbildung und Antikörperbildung überhaupt beschränkt, sondern 
sich in einer gesteigerten funktionellen Leistung (z. B. Motilität), in der Verminderung 
der allgemeinen Ermüdbarkeit auch bei geistiger Arbeit, ja vielleicht auch in einer 
Erhöhung der Wachstumsreize ausspricht. Näheres über diese Ergebnisse von Weichardt 
und seiner Schule findet man außer in der Schrift „Über Ermüdungsstoffe, 2. Aufl. 44 in 
dem Kapitel über Ermüdungsstoffe im K olle- Was s er mann sehen Handbuch der patho¬ 
genen Mikroorganismen 1913, in „Arbeitshygienische Untersuchungen 44 (mit Lindner), Arch. 
f. Hygiene, Bd. 86, und in einer zusammenfassenden Darstellung „Über Proteintherapie“. 
M. m. W. 1918, Nr. 22. 

Meines Erachtens ist die „Protoplasma-Aktivierung“ auf den Vorgang der kumu¬ 
lativen Assimilation (vgl. Kap. 1) zurückzuführen. 

Von Interesse sind die bei der Tätigkeit bzw. Ermüdung beobachteten anato¬ 
mischen Veränderungen der tätigen Zellen. 

Die Tätigkeit wie die Ermüdung führt in den Nervenzellen zu feinen strukturellen 
Veränderungen. Pugnat ließ Hunde auf der Truthahn bis zur Ermüdung und Erschöpfung 
laufen. Er fand, und zwar lediglich an den oberflächlich gelegenen Zellen der Hirnrinde, 
bei völliger Erschöpfung des Tieres Chromatolyse aller Grade bis zu völligem Fehlen 
der chromatophilen Substanz sowie mangelhafte Färbbarkeit des Kernes und Dislokation 
desselben an die Peripherie der Zelle. Guerrini beobachtete bei langdauemder Ermüdung 
Verkleinerung der Nervenzellen, unregelmäßige Konturierung derselben, Chromatolyse, 
Vakuolen, Zerstörung der achromatischen Substanz, Vergrößerung des perizellulären L\ r mph- 
raums, Ansammlung von Leukozyten um die Zelle. Chiarini studierte die Veränderungen 
in den Ganglienzellen der Netzhaut von Wirbeltieren bei Belichtung und Dunkelheit. 
Licht erzeugt auch hier Chromatolyse, während sich in der Dunkelheit die chromatophile 
Substanz wiederherstellt. Zahlreiche Versuche über den Einfluß der Tätigkeit, Ermüdung 


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Über die krankhafte Cbercmpfindlichkeit und ihre Behandlung. 


und Rohe sind mittels elektrischer Reizungen ansgeführt worden, welche jedoch nicht als 
wesensgleich mit den eigentlich funktionellen Reizen betrachtet werden können. Ihr Er¬ 
gebnis ist im allgemeinen gleichfalls dahingehend, daß während der Tätigkeit die chroma- 
tophile Substanz, welche Marinesco als Kinetoplasma bezeichnet, verzehrt wird, nnd 
zwar nicht bloß an den zerebralen, sondern auch an den spinalen Zellen. 

Marinesco 1 ) faßt die Resultate dahin zusammen, daß die Strukturveränderung der 
Nervenzellen während der Tätigkeit in einer Vergrößerung der Nervenzelle und ihres 
Kerns bestehe, während die chromatophile Substanz sich vermindert und sich in der 
amorphen Grnndsubstanz ansbreitet. Der Kern kann wandständig werden. Bei der Er¬ 
müdung bzw. Erschöpfung kommt es zu einer Volumverminderung der Zelle und des Kerns, 
welcher deformiert werden kann. Die Menge der chromatophilen Substanz wird noch 
mehr reduziert. Während der Ruhe stellt sich die chromatophile Substanz wieder her. 

Diese Beobachtungen gestatten m. E. nicht, eine scharfe Grenze zwischen dem Befund 
bei der Tätigkeit und bei der Ermüdung zu ziehen. Was hier als Ermüdung bezeich¬ 
net wird, ist nach der Art der angestellten Versuche vielmehr das Extrem einer solchen, 
eine völlige Erschöpfung. In Wirklichkeit setzt die Ermüdung alsbald mit der Tätigkeit 
ein nnd wächst mit derselben. Man kann daher die strukturellen Veränderungen, welche 
sich bei der Tätigkeit finden, ebensowohl auf diese wie auf die Ermüdung oder auf 
beide zugleich beziehen. Von grundsätzlicher Bedeutung ist nur, daß während der Tätigkeit 
in sichtbarer Weise eine differenzierte Substanz der Nervenzelle zerfällt bzw. aufgezehrt 
wird. Die Volumveränderungen der Zelle und des Kerns beruhen wahrscheinlich auf ver¬ 
änderten osmotischen Bedingungen^ 

Hierdurch wird die von Claude Bernard und weiterhin von Hering entwickelte 
Vorstellung bestätigt, daß während der Funktion eines Organs ein Zerfall der Substanz, 
während der Ruhe ein Wiederaufbau derselben stattfindet: Dissimilation und Assimilation, 
eine Vorstellung, an welche auch die Verwornsche Forschung und Theorie anknüpft. 

Das subjektive Gewalirwerden der Ermüdurfg beruht auf folgepden die Er¬ 
müdung begleitenden Geschehnissen: erstlich auf gewissen Ernmdungsempfindungen, 
welche sich bis zum Schmerz steigern können; ferner auf einem bei stärkerer Er¬ 
müdung hervortretenden Gefühlston unlustiger Hemmung; endlich auf der urteils¬ 
mäßigen Wahrnehmung der nachlassenden Leistungsfähigkeit, welche sich in dem 
Znrückbleiben des Effektes hinter dem vorgestellten Maß und Ziel ausspricht. 

Daß der Ermüdungsschmerz nicht eine neu hinzutretende, sondern lediglich 
eine quantitativ gesteigerte Ermüdungsempfindung ist, kann nicht zweifelhaft sein. 
Diese Tatsache ist auch für die Theorie der Schmerzempfindung im allge¬ 
meinen von Bedeutung. 

Die Ermüdungsempfindung, — welche nicht selten die Leistungsfähigkeit 
stärker beeinträchtigt als es die Ermüdung selbst tut —, beruht, wie es scheint, nicht 
auf einer Beizung sensibler Muskelnerven durch Stoffwechselprodukte, sondern 
kommt mechanisch an den Nervenenden in den Muskeln und Sehnen zustande, 
da sich Beziehungen zu der C0 2 - Abgabe nicht erweisen lassen' 2 ). Sie steigert 
sich, wie gesagt, vom Schwerfühlen der Gliedmaßen, von der Empfindung der Ab- 
geschlagenheit und Spannung bis zum Schmerz. Der nach anstrengenden oder 
ungewohnten Bewegungen nachträglich auftretende „Turnschmerz“, welcher unter 
Umständen einen geradezu entzündlichen Charakter annehmen kann, ist jeden¬ 
falls zum Teil immerhin auf die Einwirkung reizender Stoffwechselprodukte zu 
beziehen, zum Teil dürfte er durch mechanische Bedingungen (Zerrungen, Dauer- 

*) La Cellule nerveuse. 1909. 

*) Frumerie. Skand. Arch. f. Physiol. Bd. 30. 


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Goldscheider 


kontraktionen usw. der Muskulatur. Kompression von intramuskulären Nerven) 
zu erklären sein. Die sekundär auftretenden Schmerzen in Gelenken, Bändern 
und Sehnen sind offenbar gleichfalls durch mechanische Insultierung veranlaßt. 
Bekanntlich kann nach übermäßigen muskulären Leistungen ein Allgemeinzustand 
eintreten, welcher durch Temperaturerhöhung, allgemeine Abgeschlagenheit und 
andere Störungen an Infektion erinnert, und als Autointoxikation durch reizende 
Muskelstoffwechselprodukte zu deuten ist. Durch Übung der Bewegung und der 
betreffenden Arbeitsleistung tritt bekanntlich nicht allein eine Steigerung der 
motorischen Leistungsfähigkeit, sondern auch eine Milderung der primären Er¬ 
müdungsempfindung wie der geschilderten sekundären Empfindungen und Störungen 
des Allgemeinbefindens auf, welche zum Teil darauf beruht, daß mit größerer 
Ökonomie der Muskelkräfte und demgemäß mit relativ geringerem Stoffwechsel¬ 
umsatz und geringeren mechanischen Zerrungen und Drückungen gearbeitet wird, 
zu einem anderen Teil aber auch auf eine wirkliche Anpassung der sensiblen 
Nerven an die Reizungen bezogen werden muß (chemischmechanische Abhärtung, 
s. Kap. I). 

Außer diesen Reizerscheinungen treten nun bei angestrengter Muskteltätigkeit 
noch andere Reizungen auf, deren Eigenart sicherlich auf eine andere Entstehungs¬ 
bedingung hinweist. Hierher gehört der Krampfzustand der in besonderem Maße 
beteiligten bzw. irgendwie disponierten Muskeln, welcher sich in einer Steifigkeit 
(Kontraktionsrückstand) und schließlich tonischen und klonischen Krämpfen äußert. 
So treten nach Anstrengungen der Arm- und Handmuskeln eine Klammbeit und 
Ungeschicklichkeit derselben, ^Zittern, spontane Zuckungen besonders der kleinen 
Handmuskiflatur auf. Angestrengtes Schwimmen kann zu Wadenkrämpfen führen. 
Bei neuropathischen Individuen arten diese Reizerscheinungen zu sogenannten Be¬ 
schäftigungskrämpfen aus. Auch der in der Physiologie als „Kontraktur“ bezeichnete 
Kontraktionsrückstand ist wahrscheinlich als Reizsymptom anzusehen. Diese bei 
ermüdenden Reizen des Muskels sowohl im Tierexperiment wie beim Menschen 
zu beobachtende Erscheinung, welche in einer die Reizung überdauernden Kon¬ 
traktion bzw. mangelhaften Erschlaffung besteht, wurde zuerst von Kronecker, 
dann von Tiegel, Mosso u. a. studiert. Mosso 1 ) hebt auf Grund seiner Unter¬ 
suchungen am Menschen hervor, daß die Kontraktur bei reizbaren Personen bedeutend 
stärker ausfällt als bei weniger reizbaren. Sie erscheint nur bei exzessiven An¬ 
strengungen. Nach Richet fehlt sie bei lange Zeit gefangen gehaltenen und daher 
wenig reizbaren Krebsen. Mosso sagt: „Die Kontraktur ist eine Reizerscheinung, 
welche der Verlängerung des Muskels bei der Ermüdung entgegen wirkt und diese 
überkompensieren kann. Sie ist ein Regulierungsmittel der Natur und hilft die 
Kontraktion bei den größten Anstrengungen zu verstärken.“ Weiß*) betrachtet 
sie als eine Folge der Schädigung des Muskels. 

Bei akutem Sauerstoffmangel kommt es zu Krämpfen (vgl. I. Kap.). In 
verdünnter Luft, z. B. im pneumatischen Kabinett kann Frostschauern und Zittern 
auftreten. Mosso beobachtete bei periodischer Atmung im Hochgebirge, daß 
während der tiefsten Einatmung Zuckungen der Extremitäten eintraten, was Zuntz 
darauf bezieht, daß während dieser Phase die größte Menge erregender Stoffe im 

') Gesetze der Ermüdung. Arch. f. Anat. und Physiol. Physiol. Abt. 1890. S. 89. 

3 ) Lehrbuch der Physiol. des Menschen. Von Zuntz und Loewy. 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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Blute zirkulierte. Dieser Forscher, welchem ich die letztmitgeteilten Angaben 
entnehme l ), führt somit gewisse Reizsymptome auf die bei Muskelarbeit entstehenden 
chemischen Stoffe zurück. Er sagt über dieselben: „Ob die bei Muskelarbeit und 
die bei Ruhe und Sauerstoffmangel gebildeten Reizstoffe identisch sind, läßt sich 
nicht entscheiden; es ist aber wahrscheinlich, denn im tätigen Muskel wird 
ja stets infolge des großen Verbrauchs ein gewisser Mangel an Sauerstoff be¬ 
stehen“ (1. c. S. 434). 

Nach starken Anstrengungen der Beine können die Kniesehnenreflexe erhöht 
sein. Auerbach fand bei Radrennfahrern nach den Rennfahrten die Sehnenreflexe 
zu einem Teile fast erloschen, bei einigen aber ungewöhnlich gesteigert. Ähnliches 
sahen Knapp und Thomas nach einem Wettmarsch, Oikonomakis bei Wettläufern 
nach Ausführung des Marathon-Marsches; Edinger bestätigt dies bei einem wohl 
trainierten Wettgeher 2 ). Mein früherer Assistent Karl Krön er 3 ) hat gefunden, 
daß aktive Bewegungen imstande sind, einen sonst nicht auslösbaren Patellar- 
reflex deutlich zu machen und bewiesen, daß dieser Erfolg nur auf eine bahnende 
Erregbarkeitserhöhung der motorischen Leitungsbahn bezogen werden kann. Hier¬ 
auf beruht auch die bekannte Erhöhung der Patellarreflexe nach mäßig ermüdenden 
Bewegungen. 

Die genannten Reizerscheinungen treten unter Bedingungen auf, welche 
auch zu dem als „Übermüdung“ bezeichneten Zustande führen, welcher bekannt¬ 
lich mit gewissen Erregungen verbunden zu sein pflegt. Die Übermüdung ist 
stets gleichzeitig eine Überreizung; freilich können die Reizungsfolgen durch 
die lähmende Wirkung der Erschöpfung mehr oder weniger verdeckt sein. 

Übermüdung kann zum Tode führen. Verworn weist auf das klassische 
Beispiel des Läufers von Marathon hin. Bei Tieren ist der Ermüdungstod 
experimentell festgestellt. Nach Weichardt verläuft derselbe wie eine langsam 
wirkende Narkose. Das Tier „verendet ohne jedwede Schmerzensäußerüng, ohne 
Krampf, ganz ähnlich, wie wenn es mit narkotischen Mitteln mehr und mehr 
schwer betäubt worden wäre“. 

Körperliche Übermüdung vermag die erquickende Ruhe, welche der Ermüdung 
folgt, in Unruhe, den wohltuenden Schlaf in Schlaflosigkeit zu verwandeln. 
Unwillkürliche Zuckungen einzelner Muskeln oder des ganzen Körpers stören den 
Ruhebedürftigen aus seiner Erschlaffung auf. Von lästigen, unter Umständen 
schmerzhaften Ermüdungsempfindungen in den Gliedmaßen gepeinigt wirft sich 
der Ermüdete umher, ohne Ruhe zu finden. Lange anhaltendes Herzklopfen, 
beklemmender Druck auf der Brust, beschleunigte Atmung, Sinnestäuschungen, 
Phantasmen (z. B. Hören von Knall und Dröhnen), plötzliches Zusammenfahren 
bezeichnen den übererregten Zustand der Nerven. 

Auch bei geistiger Übermüdung kann eine gesteigerte Reizbarkeit hervor¬ 
treten, während diese sonst bei Ermüdung herabgesetzt ist. Sie äußert sich in 
gereiztem Wesen, labiler Stimmung. Nebenher besteht eine der Ermüdung ent¬ 
sprechende Abstumpfung der Aufmerksamkeit, des Vorstellungs-, Reproduktions- 
nnd Urteilsvermögens. Meumann fand als Ausdruck erhöhter Reizbarkeit eine 

') Höhenklima und Bergwanderungen usw. 1906. 

-' Edinger 1. c. 

3) Neurol. Z.-BI. 1907. Nr. 15. 


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Steigerung der Reflexe, z. B. starkes Zusammenfahren auf starken Knall (vgl. 
Lobsien 1. c. S. 126). 

Von sensiblen Reizerscheinungen bei Übermüdung ist anzuführen das verstärkte 
Auftreten optischer Nachbilder und das Vorkommen von Parästhesien in der Haut. 

Mo88 0 beschäftigt sich in seinem Bache über die Ermüdung auch mit der Erfahrung, 
daß durch dieselbe die Empfindlichkeit gesteigert werden kann. Er führt an, daß wir 
nach größeren körperlichen Anstrengungen reizbarer werden und daß geistige Anstrengung 
aufregend wirken könne. Insbesondere betont er die Reizbarkeit der Stimmung und ist 
geneigt, dieselbe anf ein durch die Ermüdung bedingtes Unvermögen, sich zu beherrschen, 
zurückzuführen. Bei Versuchen über den Einfluß intellektueller Ermüdung auf die Muskel¬ 
kraft ergab sich das interessante Resultat, das die letztere zunächst eine Steigerung 
erfuhr. „In dem M.aße als sich die Energie des Gehirns verbraucht und der Organismus 
schwach wird, nimmt die Erregbarkeit des Nervensystems zu. Hierin offenbart sich eine 
automatische Einrichtung, womit die Natur für eine wirksamere Verteidigung des Orga¬ 
nismus sorgt, sobald dieser anfängt schwächer zu werden. Bei dem Tiere tritt eine Zu¬ 
nahme in der Sinnesschärfe und Erregbarkeit des Nervensystems ein, wenn es durch 
Hunger und Ermüdung weniger tauglich zum Kämpfen wird.“ Mosso erzählt ferner 
einige Beispiele aus dem Leben geistig überbürdeter Männer, welche dartun, wie die 
Übermüdung zu Symptomen von Erregtheit führt, wie: quälender Kopfschmerz, Schlaf¬ 
losigkeit, unruhiger Schlaf, nervöser Reizbarkeit, Herzklopfen, Zittern u. a. m. Daß oft 
schon bis in die Nacht fortgesetzte geistige Anstrengung genügt, um Schlaflosigkeit zu 
erzeugen, ist bekannt. 

Die sogenannte Übermüdung kennzeichnet sich somit durch eine Mischung 
von Symptomen der Ermüdung d. h. der herabgesetzten Leistungsfähigkeit mit 
solchen der Reizung bzw. erhöhten Reizbarkeit; ihre Erscheinungen ähneln 
denen der Neurasthenie: reizbare Schwäche. Der Übergang von Ermüdung in 
Übermüdung ist nicht allein an die Höhe der Arbeitsleistung geknüpft, sondern 
auch von der individuellen Konstitution abhängig, von der Nervenerregbarkeit 
und der Leistungsfähigkeit (s. unten). Kraus (1. c.) hat in der Ermüdbarkeit 
einen Ausdruck der Konstitution gefunden. Die Minderwertigkeit der Konstitution 
spricht sich in einer gesteigerten Ermüdbarkeit und demgemäß auch in dem 
leichteren Auftreten der Erscheinungen der Übermüdung aus. 

Auch bei demselben Individuum-wechselt nach jeweiliger Disposition, Aus¬ 
ruhe, vorhergegangenen Anstrengungen und Erregungen, Ernährung, vorüber¬ 
gehenden Erkrankungszuständen u. a. m. die Grenze zwischen Ermüdung und 
Übermüdung. Bestehen besondere latente Hyperästhesien (s. später), so können 
solche schon bei geringer Ermüdung manifest werden. 

Der Übergang von Ermüdung in Übermüdung vollzieht sich sehr allmählich, 
so daß nicht sofort der ganze Symptomkomplex der letzteren in Erscheinung 
tritt, sondern zunächst das eine und andere Reizungssymptom sich hinzugesellt. 
Dabei ist es keineswegs notwendig, daß der Tätige sich dieser Zeichen während 
der Arbeitsausführung bewußt wird; vielmehr kommt es häufig vor, daß sowohl 
die eigentliche Ermüdung d. h.. die Abnahme der Leistungsfähigkeit wie die 
Reizungssymptome von dem willensmäßig oder gezwungen Angestrengten nicht 
bemerkt oder auch objektiv durch die starke Tätigkeit verdeckt wurden 
und erst nach Beendigung derselben subjektiv und objektiv in Erscheinung treten. 

Ganz ähnliche Empfindungen der Abgeschlagenheit, Spannung, bis zum 
schmerzhaften gesteigert, treten nun auch auf, wenn bei mäßiger und alltäglicher 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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Muskeltätigkeit die gewohnte Ausruhe durch ungenügenden oder ganz mangelnden 
Schlaf fehlt. Bücken- und Brustschmerzen, allgemeines Gefühl der Abgeschlagen- 
heit, verbunden mit Herabsetzung' der motorischen Leistungsfähigkeit, gesteigert 
durch selbst geringfügige Muskeltätigkeit, ganz wie nach starker ermüdender bzw. 
übermüdender Muskelanstrengung. Daneben kommt psychische Reizbarkeit und ein 
negativer Gefühlston vor. Besonders auffällig sind die beklemmenden Brust¬ 
schmerzen, welche sowohl bei vorübergehender starker Ermüdung wie bei dem 
später zu schildernden krankhaften chronischen Ermüdungszustand hervortreten; 
sie sind auf die beständig tätige Atmungsmuskulatur zu beziehen. Der Rücken¬ 
schmerz, dnrch die Tätigkeit der ermüdeten Rückenmuskulatur bei der aufrechten 
Körperhaltung bedingt, verschwindet beim Liegen. Schon das Ersteigen einer 
Treppe erzeugt Ermüdungsschmerzen in den Beinen. Diese Reizerscheinungen 
kontrastieren mit der allgemeinen Apathie, Schläfrigkeit, Verlangsamung körper¬ 
licher und geistiger Verrichtungen, Kraftlosigkeit der Bewegungen und der Stimme. 
Ganz ähnlich diesem durch fehlenden Schlaf erzeugten Zustande ist derjenige bei Unter¬ 
ernährung, nach Magen- und Darmkatarrh, bei Rekonvaleszenten usw. vorhandene 
reizbare Schwächezustand. Dies kann nicht allein auf ungenügend ausgeschiedene 
Ermüdungsstoffe, sondern muß auf unzureichenden Ersatz verbrauchter Substanz 
und daraus folgende gesteigerte Reizwirkung bezogen werden. 

Das Bild der nervösen Erschöpfung und Überreizung ist im Kriege vielfach 
beobachtet worden: Versagen der Nerven- und Gehirnfunktionen mit Reizungs¬ 
symptomen, bestehend in Muskelzuckungen bzw. Muskelkrämpfen, Steigerung der 
Reflexe, Schmerzen, Schreckhaftigkeit, ängstlichen und lebhaften Träumen, Erregtheit, 
Steigerung der emotionellen Reizbarkeit und der Reizbarkeit der Vasomotoren. 

Falsch (d. h. mit ungenügendem Training) betriebener oder übertriebener 
Sport kann zur Übermüdung mit mannigfachen Reizerscheinungen, z. B. von seiten 
des Herzens oder des Nervensystems führen. Die gleiche Folge kann eintreten, 
wenn der Körper im. ganzen oder einzelne Organe den an sich nicht übertriebenen 
sportlichen Anforderungen nicht gewachsen sind. 

Bezüglich der Erklärung der Reizsymptome wird man in erster Linie an 
Reizstoffe zn denken haben, welche sich bei der Muskeltätigkeit bilden. Es ist 
bekannt, daß dieselben eine erregende Wirkung auf Atmung und Herz, Muskeln 
and Nerven ansüben. In welchen Beziehungen diese Stoffe zu den Ermüdungs- 
Stoffen stehen ist ungeklärt. Zuntz nimmt Beziehungen an. Verworn weist 
darauf hin, daß narkotische Stoffe in geringerer Dosierung vielfach reizend 
wirken 1 ). Gegen Identität spricht immerhin, daß die Reizwirkung nicht einer 
vorübergehenden Phase der Ermüdung entspricht, sondern sich gerade bei Über¬ 
müdung in gesteigertem Maße vorfindet. Sind die Reizstoffe anders als die Er¬ 
müdungsstoffe so müßte man, um die Erscheinungen zu erklären, die weitere 
Annahme machen, daß ihre Produktion bei weit getriebener Ermüdung über die¬ 
jenige der Ermüdungsstoffe das Übergewicht erlangt. Gegen die Reizstofftheorie 
spricht jedoch, daß die Injektion der durch die Ermüdung erzeugten giftigen 
Produkte, selbst wenn dieselbe den höchsten Grad erreicht hat,' lediglich narkoti¬ 
sierende und lähmende Wirkungen zu erzeugen scheint. 


l ) Vgl. auch Befche, Allg. Anat. u. Physiol. der Nerven. 


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Goldscheider 


Weichardt hat freilich nachgewiesen, daß bei der Muskeltätigkeit zunächst Reiz¬ 
stoffe entstehen, welche zu der oben besprochenen Protoplasma-Aktivierung und demgemäß 
zu erhöhter Leistungsfähigkeit führen. Diese Reizstoffe wirken aber eben nicht unmittel¬ 
bar auf die Muskeln ein, sondern auf dem Wege einer erhöhten zellulären Leistung, die 
auf einer Aktivierung der zellulären Vorgänge beruht. Ich habe bereits oben bemerkt, 
daß dieser Vorgang wahrscheinlich auf die kumulative Assimilation zurSckzuführen ist, 
und so sehe ich gerade in den Weichardtschen Beobachtungen eine Stütze meiner An¬ 
schauung. Größere Dosen „reiner“ Ermüdungsstoflfe wirken narkotisierend und lähmend. 
Nun entstehen nach Weichardt bei der Eiweißaufspaltung freilich auch neben den höher 
molekularen reinen viele niedermolekulare Substanzen, welche krampferregend wirken. 
Aber es erscheint mir bedenklich, die Übermüdungserscheinungen, welche in ganz ent¬ 
sprechender Weise bei jeder Überreizung nachzuweisen sind, auf solche sozusagen un¬ 
reinen Abfallstoffe zurückzufdhren. 

Bezüglich der Muskelkrämpfe bei Übermüdung ist zu bedenken, daß eine 
gewisse neuropathische Disposition eine große Rolle spielt. Die oft lange Dauer 
der lokalisierten Reizerscheinungen (z. B. des Herzklopfens) spricht gleichfalls 
gegen die ausschließliche Wirkung von chemischen zirkulierenden Reizstoffen, 
welche doch bald aus dem übermüdeten Organ ausgeschieden werden müßten. Das 
gleiche Bedenken ist aus dem Umstande, zu folgern, daß die Reizerscheinungen 
bei einer auf bestimmte Muskelgruppen beschränkten Überanstrengung streng 
lokalisiert an diesen haften. Ferner, daß ganz entsprechende Reizphänomene bei 
übermäßiger sensibler Reizung auftreten. Die Erhöhung der Sehnenreflexe nach 
Überanstrengung stellt sich offenbar als eine Steigerung der physiologischen 
Bahnung der motorischen Leitungsbahn durch die Funktion dar (vgl. die Beob¬ 
achtung von Krön er). Andrerseits ist daran zu denken, daß bei der Entstehung 
der motorischen Reizerscheinungen die reflektorische Übertragung einer sensiblen 
Hyperästhesie mitwirken kann. 

Eine etwa überschießende Antitoxinbildung (Weichardt) kann nicht die Ursache 
der Reizerscheinnngen sein, da in diesem Falle die Ermüdung gemildert sein müßte, was 
bei der Übermüdung wohl für' das subjektive Müdigkeitsgefühl zutrifft (übrigens auch nicht 
regelmäßig), aber nicht für die objektive Abnahme der Leistungsfähigkeit. 

Eiuen Sauerstoffmangel kann man wenigstens als ausschließliche Ursache nicht an¬ 
führen, w’eil der Reizzustand denselben bedeutend überdauert. (Über giftige Substanzen bei 
Sauerstoffmangel vgl/Loeb: Vorlesungen über Dynamik usw. 1906.) 

Es käme dann noch die Möglichkeit in Betracht, daß bei fortschreitender Ermüdung 
korrelative Hilfsapparate herangezogen werden, und daß sie es sind, an welchen die Reiz¬ 
erscheinungen sich abspielen. Aber gerade das am meisten ermüdete Organ zeigt die 
letzteren am stärksten. Auch kommt für die Tätigkeit der Sinnesorgane und für die 
psychische Tätigkeit eine solche Unterstützung kaum in Betracht. 

Die Reizerscheinungen knüpfen vielmehr an die funktionellen Reize und 
die durch sie bedingte Erregbarkeitssteigerung an (vgl. I. Kap. Wirkung 
der Reize.) 

Es wurde gezeigt, daß die Reize eine erregbarkeitssteigernde Wirkung 
haben, welche sich summiert. Dieselbe wurde auf den Vorgang kumulativer 
Assimilation zurückgeführt. Es wurde ferner nachgewiesen, daß die Steigerung 
der Reizbarkeit einen besonders hohen Grad annimmt, wenn ein funktions¬ 
schwaches Organ starken funktionellen Reizen ausgesetzt wird oder wenn letztere 
unter Bedingungen einwirken, wo bereits eine gesteigerte Dissimilation besteht. 
Diese Beziehungen haben für die Übermüdung Geltung. 


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über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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Die Ermüdung ist die Folge der Heizung. Mit der Stärke und Dauer der 
Reize wächst die Ermüdung, welche jene wie ihr Schatten begleitet. Aber die 
Wirkungen- der Reize sind gegensätzlich. Während die Reize erregen und die 
Erregbarkeit erhöhen, bewirkt die Ermüdung eine Verminderung der Reizbarkeit. 
Es treten somit bei jeder anstrengenden Tätigkeit zwei miteinander kämpfende 
Reihen von Erscheinungen auf, von welchen die eine sich auf die Folgen der 
Reizung, die andere auf die Folgen der Ermüdung bezieht. Wir erkennen diese 
Gegensätzlichkeit in dem Kampf, welchen der Wille zur Fortsetzung der Tätig¬ 
keit mit der hereinbrechenden Ermüdung führt, in der Hemmung, welche die 
arbeitende Muskulatur durch die zunehmende Kraftlosigkeit erfährt. Die Er¬ 
regungen klingen auch in der Ruhe nach. Wie oft kämpft der Einschlafende 
mit n&chhaltenden Erregungen nach angestrengter geistiger Arbeit, nach auf¬ 
regenden Erlebnissen, nach körperlicher Üermüduug; wie wird er durch solche 
aus der bereits ihn umfangenden erquickenden Narkose des Schlafes anf- 
gepeitscht. 

Die Ruhe bzw. der Schlaf setzt der Einwirkung der Reize ein Ziel. Dieser 
Effekt wird durch die narkotisierende Wirkung der Ermüdungsstoffe verstärkt: 
zum Mangel der äußeren Reize gesellt sich die Herabsetzung der Reizbarkeit. 
Man kann auch umgekehrt sagen: die durch die chemische Wirkung der Er¬ 
müdungsstoffe erzwungene Herabsetzung der Erregbarkeit stellt mittelbar Be¬ 
dingungen her, bei welchen naturgemäß die Gelegenheit zu äußeren Reizungen 
ausgeschaltet oder stark reduziert wird, weil sie zur Unterbrechung der Tätigkeit 
und körperlichen Abgeschlossenheit führt. Während der Ruhe bzw. während des 
Schlafes klingen somit die Folgezustände der Reizungen ab. Ist die Ruhe von 
zu kurzer Dauer, so verschwinden die von den Reizen zurückgelassenen Erreg¬ 
barkeitserhöhungen nicht vollständig, und es sind daher außer der unvollkommen 
hergestellten Leistungsfähigkeit, außer der Unfrische noch Reizzustände vor¬ 
handen, wie sie sich bei angestrengter Tätigkeit oder starker Beanspruchung 
der Empfindungsnerven einstellen. Auch die Ruhe läßt daher zwei während der¬ 
selben sich abspielende Vorgänge erkennen: das Verschwinden der Ermüdung und 
das Verschwinden der Reizungsrückstände. 

Je mehr letztere zurücktreten, desto tiefer ist die Ruhe und desto voll¬ 
ständiger schwindet die Ermüdung. Die Produkte der kumulativen Assimilation, 
die übermäßig labilen Atomgruppen, müssen durch den Stoffwechsel abgebaut 
werden, der „Reizzustand“ muß verschwinden. Die erschöpften Reservedepots 
müssen aufgefüllt, die abnorm aufgespaltene Substanz durch ausgiebige Assimi¬ 
lation wieder restituiert werden. 

Der Wiederaufbau vollzieht sich beständig auch bei der Tätigkeit während 
der refraktären Perioden. Aber bei länger dauernder funktioneller Beanspruchung 
hinkt er wahrscheinlich mehr und mehr nach. Der vollständige Ersatz erfolgt 
dann erst während der Ruhe. Mann fand im Sehorgan bei Dunkeladaptation 
eine Speicherung der chromatischen Substanz, welche während der Belichtung 
verbraucht war. In demselben Sinne sprechen die oben mitgeteilten Veränderungen 
in den Nervenzellen bei der Tätigkeit. Immerhin wird auch bei stärkster funktio¬ 
neller Beanspruchung die Assimilation kaum je vollständig erschöpft; eher tritt 
ein absoluter Sauerstoffmangel (Erstickung) als ein solcher der übrigen zum Wieder- 


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auf bau nötigen Stoffe ein. Jedoch bedarf es nach langer Tätigkeit auch einer 
langen Ruhe, um den Wiederaufbau in vollständiger Weise herbeizuführen 1 ). 

Unter normalen Verhältnissen vollzieht sich die funktionelle Beanspruchung 
mit gewissen Unterbrechungen. Der Arbeitende macht des öfteren Pausen in der 
Tätigkeit. Dadurch wird einerseits einer zu starken Ermüdung, andererseits 
einem zu starken Anwachsen der Reizbarkeit vorgebeugt. 

Die regulatorische Bedeutung der Ermüdung liegt auf der Hand. Wir 
werden müde, damit wir nicht übermüdet werden — teleologisch gedacht. Die 
Abnahme der Erregbarkeit bei der Ermüdung hat für die Funktion und die ihr 
entsprechende Dissimilation denselben Effekt, als ob die Reize schwächer werden. 
Das Gewahrwerden der Ermüdung hat die Einlegung von Ruhepausen zur Folge. 
Die Rhythmik von Tätigkeit und Erholung beherrscht alle physischen und psy¬ 
chischen Lebensvorgänge. Selbst das Spiel der Assoziationen wird durch die Er¬ 
müdung mit beeinflußt; oft hintereinander erregte Hirnrindengebiete (Assoziations¬ 
komplexe) ziehen durch den Verlust an Reizbarkeit, welchen sie bei der Ermüdung 
erleiden, die Aufmerksamkeit weniger an, welche sich folglich anderen Eindrücken 
zuwendet 2 ). 

Der Umstand, daß gerade die der Erschöpfung sich nähernde Betäti¬ 
gung und Beanspruchung die Reizwirkung am meisten hervortreten 
läßt, ist bemerkenswert Beim normalen, naturgemäßen Betriebe beugt der Orga¬ 
nismus der übertriebenen Beanspruchung dadurch vor, daß die sich bildenden Er¬ 
müdungsstoffe die Reizbarkeit herabsetzen und daß die funktionierende reizbare 
Substanz, von welcher in den Nervenzellen ein gewisser Vorrat angehäuft ist, 
durch die Tätigkeit abnimmt. Wird diese wohltätige, „dauerfördernde“ Regulierung 
durchbrochen, indem durch übermäßige Reizungen die Tätigkeit der Zellen aufge¬ 
peitscht wird, so tritt neben zunehmender Ermüdung eine wachsende Erregbarkeit auf, 
welche sich irradiierend über weitere Gebiete des Nervensystems verbreitet und auch 
die psychischen Vorgänge beteiligt. Wie die Erschöpf ung bei örtlicher Oberleistung den 
Gesamtorganismus als einheitliche Kraftmaschine beteiligt (vgl. Kraus, 1. c. S. 5), so 
muß auch die Überreizung ihre Wellen über das betroffene Gebiet hinaus werfen. Man 
wird dieses Geschehen, wenn man die Anschauung festhält, daß die Tätigkeit 
dissimiliert und daß die reaktive Assimilation die Bedingungen der erhöhten 
Reizbarkeit schafft, (s. oben) darauf beziehen müssen, daß die verminderte und 
bereits zum Teil zersetzte und ungenügend wiederaufgebaute Substanz von den 
Reizungen relativ stärker getroffen, stärker dissimiliert wird und daß daher auch 
der assimilatorische Aufbau erzwungenermaßen ein intensiverer sein muß (s. I. Kap.). 
Wäre er das nicht oder hört er auf, es zu sein, 60 wird es alsbald zur Erschöpfung 
und Reizlosigkeit kommen. Bekanntlich geht die Funktion ermüdeter Organe 
mit erhöhter Schädigung derselben einher; jede Schädigung löst aber die reparato- 


*) Daß selbst bei stärkster funktioneller Inanspruchnahme noch Reservematerial vorhanden 
ist, geht aus der Mossosehen Beobachtung hervor, daß, wenn der Muskel durch elektrische 
Reizung erschöpft ist, der Wille doch noch Kontraktionen auslösen und Arbeit verrichten kann 
und umgekehrt. 

*) Vgl. die Ausführungen von Graßberger Uber die Umstimmung der Empfindungszentren 
durch Ermüdung und seine geistvollen Folgerungen für die Kunst, Pädagogik usw. (Der 
Einfluß der Ermüdung auf die Produktion in Kunst und Wissenschaft 1912). 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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rischen Kräfte in entsprechendem Maße aus, so lange überhaupt noch eine Reparation 
zustande kommt. Die über das physiologische Maß angespannte Regenerations¬ 
tätigkeit der Zelle wird auch einen abnorm gesteigerten Reizzustand der gesamten 
Zelle herbeiführen müssen, so daß eine gewisse Ähnlichkeit des Vorganges mit 
dem durch pathologisch wirkende Reize ausgelösten Entzündungsvorgang besteht 
(„defensive Regulation“ Aschoffs). Man kann sich somit die gesteigerte Reiz¬ 
barkeit sowohl an das durch überspannte Assimilationsarbeit gebildete Ersatz¬ 
material reizbarer Substanz wie an einen gesteigerten Reizzustand der gesamten 
Zelle gebunden denken. 

Der gleichen Erklärung ist die Erfahrung zugänglich, daß auch bei durch 
Blutverluste, chronische Anämie oder Unterernährung geschwächtem Organismus 
die Steigerung der Reizbarkeit hervortritt, was auch Mos so hervorhebt (vgl. I. Kap.). 

Man kann endlich, wie es auch Mosso andeutet, in diesem auf den ersten Blick 
sehr unzweckmäßig erscheinenden Vorgang din Regulationsmittel des Organismus 
erblicken, welcher, nachdem die auf den gewöhnlichen Betrieb eingestellte Regu¬ 
lierung durchbrochen ist, der gesteigerten Beanspruchung dadurch nachzukommen 
sucht, daß er, um den zunehmenden Ermüdnngswirkungen entgegen zu treten, die 
Erregbarkeit abnorm erhöht, wenn auch auf Kosten der funktionierendenZellen selbst. 

Im übrigen stellt diese abnorme Erhöhung der Reizbarkeit nur einen be¬ 
sonderen Fall desjenigen Vorganges dar, welcher bereits bei den in physiologischen 
Grenzen sich haltenden Reizen ersichtlich ist, daß nämlich die Erregbarkeit durch 
sie, trotz der ermüdenden Wirkung, welche von vornherein jedem Reiz innewohnt, 
gesteigert wird. Die Übung, die Bahnung entsprechen dieser Wirkung wieder¬ 
holter Reize. Sie treten um so mehr hervor, je mehr durch rationelle Erholungs¬ 
pausen die Ermüdnng zurückgedämmt wird. 

Ermüd ungs- und Reizwirkungen gehen nebeneinander her. Manches, was 
gemeinhin Ermüdung oder Übermüdung genannt wird, ist in Wirklichkeit Über¬ 
empfindlichkeit durch Reizwirkung. Beispiele von Übererregbarkeit 
durch übermäßige Reizung lassen sich in großer Zahl anführen. 

Angestrengte akkommodative Tätigkeit der Augen kann schmerzhaften 
Akkommodationskrampf, Lidzucken, Lidkrampf, Gesichtszucken, Kopfschmerz nach 
sich ziehen. Sexuelle (körperliche oder psychische) Überreizung führt zu sexueller 
Hyperästhesie mit ihren verschiedenen lokalen und verbreiteten Folgeerscheinungen, 
zu Kreuz-und Rückenschmerz, zu Parästhesien, welche in die Beine ausstrahlen 1 ). 
Cbermäßig langes Anhalten des Urins trotz bestehenden Dranges kann eine erhöhte 
Reizbarkeit der Blase erzeugen, so daß nunmehr der Harndrang in den nächstfolgenden 
Stunden sich abnorm häufig und intensiv schon bei geringer Blasenfüllung meldet. 
Die im Kriege so oft beobachtete Pollakiurie beruht auf einer hauptsächlich durch 
Einwirkung von Kälte und Nässe bedingten Übererregbarkeit der Blase, vielleicht 
auch der Nierensekretion. Bei den Betroffenen meldet sich der Harndrang sehr 
häufig und dann mit einer außerordentlichen Heftigkeit und Plötzlichkeit; bei 

*) Die früher übliche Erklärung durch Hyperämie oder Anämie des Rückenmarks kann 
ernstlich nicht in Frage kommen. Schon in dem Buche von Löwenfeld: Sexualleben und 
Nervenleiden findet sich der Hinweis, daß ganz ähnliche Erscheinungen wie nach sexuellen 
Exzessen in den Beinen sich nach Überanstrengung der Arme durch Schreiben, Zeichnen, 
Yiolin- und Klavierspiel) feinere Handarbeiten an den Armen vorfinden. 


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Goldscheider 


ruhigem Verhalten in warmer Umgebung mildert sich das Leiden; Kältereize, 
namentlich nasse Kälte ruft die Überempfindlichkeit sofort wieder hervor. Auch 
sonst kommt (durch Prostata-Hypertrophie, Urat-Diathese, auf nervöser Basis usw.) 
erhöhte Blasenreizbarkeit vor, welche in gleicher Art eine erhöhte Reaktion auf 
Kältereize zeigt; selbst psychische Erregungen vermögen beim Vorhandensein dieser 
Überempfindlichkeit heftigen plötzlichen Drang auszulösen. Wird demselben nicht 
nachgegeben, so steigert sich die Übererregbarkeit und kann zu stoßweiser 
spontaner Entleerung des Harns, meist nur geringer Mengen desselben, führen. 
Die Vermehrung der Harnmenge, welche man zuweilen bei Prostata-Hypertrophie 
antrifft, beruht wahrscheinlich auf einer Reiz-Irradiation auf die Niere. 

Durch körperliche Überanstrengung oder nervöse bzw. psychische Überreizung 
können Herzneurosen entstehen, welche sich durch eine Steigerung der Puls¬ 
frequenz, Labilität derselben, Schmerzen in der Herzgegend, Beklemmungsgefühl 
u. a. m. kenntlich machen. Diese Fälle, welche bekanntlich auch im Felde be¬ 
obachtet worden sind, betreffen zum großen Teil konstitutionell minderwertige 
Herzen oder Neuropathen (Vasomotoriker), aber nicht ausschließlich. Es handelt 
sich auch hier um eine auf Überreizung zurückzuführende Überempfindlichkeit des 
Herzens. Daß ungewohnte Anstrengungen, wie z. B. Bergsteigen, Sport, lange an¬ 
haltendes, auch bei der nächtlichen Ruhe zunächst nicht verschwindendes Herzklopfen 
hinterlassen können, ist bekannt. Den gleichen Effekt vermögen große psychische 
Erregungen auszulösen. Hierher gehört auch das Bild der Phrenocardie (Herz) 
durch sexuelle Übererregbarkeit. 

Auf die Reizerscheinungen im motorischen Gebiet ist oben bereits hinge¬ 
wiesen worden. 

Eine Steigerung der Reizbarkeit durch gehäufte funktionelle Reizung findet 
sich vielfach bei den Sekretionen. So erzeugt der gewohnheitsmäßige Genuß 
scharfer Speisen dauernde Superazidität des Magensaftes; häufig einwirkende 
Reizung der Tränensekretion schafft eine erhöhte Bereitschaft zum Tränenvergießen. 
Oft ausgeführter Koitus steigert die Samenbereitung und die Libido, welche bei 
seltener oder lange ruhender Geschlechtstätigkeit sich verringert. Wiederholt er¬ 
zeugte Schweißsekretion kann für einige Zeit eine verstärkte Neigung zum Schwitzen 
hinterlassen 1 ). 

Auch im Gebiet des Affekts und der Affekt-Ausdrucksbewegungen 
finden wir eine analoge Erscheinung. Das Lachen steckt an. Ist eine Gesellschaft 
durch lustige Einwirkungen auf Lachen gestimmt, so sinkt der Schwellenwert des 
Lachreizes tief unter den „normalen“ Wert. Ähnliches gilt von der Reizung zu 
rührseligen Affekten. 

Bei allen diesen „bahnenden“ Reizfolgen handelt es sich nicht allein um 
Erregungen, sondern um Zustände erhöhter Erregbarkeit, teils manifester 
teils latenter Art. So auch bei den oben geschilderten Veränderungen des Allge¬ 
meinzustandes nach körperlicher oder geistiger Überanstrengung. Wir finden all¬ 
gemeine Erregtheit, Schlaflosigkeit, Parästhesien, Schmerlen, mannigfache abnorme 
Gefühle wie Schwindel, Beklemmung, Angst usw., Schweißausbrüche, Zittern; 
daneben eine Vertiefung der Reizschwellen und Erhöhung der Reaktionen: selbst 

') Diese und andere Erscheinungen ähnlicher Art stellen wiederum nur eine gesteigerte Aus¬ 
prägung der physiologischen Übungsfähigkeit dar, welche auch dievegetativen Funktionen betrifft 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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geringe Geräusche bewirken heftiges Zusammenfahren und werden oft als uner¬ 
träglich empfunden; alle Sinneseindrücke können von einem unlustigen Gefühls¬ 
ton begleitet sein. Die Psychoreflexe sind erhöht. Die Stimmung ist von er¬ 
höhter Reizbarkeit; geringe Anlässe lösen Wutausbrüche, Tränenfluten, schmerz¬ 
liche Verstimmung, abnorm gesteigerte Rührung aus; die körperlichen Reflexe sind 
erhöht; unbedeutende körperliche oder geistige Beanspruchung kann zum Auftreten 
von Neuralgien, Migräne, schmerzhafter Abgeschlagenheit führen. Kurz es besteht 
ein Zustand, wie wir ihn von der aus erhöhter Reizbarkeit und Erschöpfbarkeit 
gemischten „reizbaren Schwäche“ (Neurasthenie) kennen. Im zentripetalen 
System treten mehr die Reizerscheinungen hervor, im zentrifugalen die Erschöpfung, 
weil dasselbe Arbeit verrichtet. 

Wie eine Häufung von Reizen, so kann auch ein einmaliger übermäßig 
starker Reiz z. B. eine einmalige akute Überanstrengung, eine plötzliche seelische 
Erschütterung Überempfindlichkeit erzeugen. Hierher gehört auch die traumatische 
Hyperästhesie, auf welche ich im III. Kap. zurückkommen werde. 

Wie oben ausgeführt, treten die Reizerscheinungen auf, wenn die Regulation 
durch die Ermüdung gestört ist. Letztere ist von einer Abstumpfung der Reiz¬ 
barkeit begleitet, welche der Ruhe Vorschub leistet und den Schlaf vorbereitet. 
Die Energie der Muskeltätigkeit nimmt ab, der Willensimpuls selbst läßt nach, 
die Sinnesempfindung wird stumpfer, man hört Worte und Geräusche wie aus der 
Ferne, die Gesichtseindrücke werden undeutlicher, die Auffassung und das. Unter¬ 
scheidungsvermögen der sinnlichen Eindrücke wird abgestumpft, die Gedanken¬ 
tätigkeit verlangsamt sich und verliert an Schärfe und Energie, die Eindrucks¬ 
fähigkeit des Gemüts wird vermindert. Die Herabsetzung der Erregbarkeit beugt 
den Folgen der Reizsummation vor und leitet automatisch oder auf dem Wege 
der Willenstätigkeit zu Ruhepausen über. Fallen diese weg, sind sie ungenügend 
oder wirken die Reize so stark, sei es durch ihre Intensität und Dauer, sei es 
durch den begleitenden Gefühlston, daß sie die Ermüdungswirkung ausgleichen 
bzw. sogar überlagern, so kommt es zu Reizerscheinungen und schließlich zur 
Iberempfindlichkeit. Der individuelle Zustand der Erregbarkeit spielt dabei in 
hohem Grade mit. Bei Neuropathen oder bei einer durch Krankheit erworbenen 
allgemein oder lokal erhöhten Erregbarkeit (Rekonvaleszenten usw.) kann eine 
sich in normalen Grenzen haltende Tätigkeit neben der physiologischen Ermüdung 
die Symptome der erhöhten Reizbarkeit auslösen, ja letztere können der Ermüdung 
vorangehen oder sie überflügeln. Auch die letztere vermag andererseits dieWirkungen 
der Reizsummation zeitweise zu überlagern, so daß dieselbe in ihren Folgen sich 
erst zu erkennen gibt, nachdem die Ermüdungsnarkose und Ruhepause abgelaufen 
sind (vgl. die obigen Bemerkungen über nicht abgeklungene Reize bei ungenügender 
Ausruhe). Die Reizwirkung der geistigen Tätigkeit tritt besonders bei den auch 
abnorm erschöpfbaren Psychopathen hervor. 

Es wurde bereits im I. Kapitel ausgeführt, daß eine abnorm gesteigerte Dis¬ 
similation, wie sie bei Sauerstofiarmut und bei erschöpfender funktioneller Reizung 
eintreten muß, zur Erregbarkeitserhöhung führen kann. Wahrscheinlich werden 
unter diesen Umständen nicht bloß die reizangepaßten Rezeptoren zersetzt, sondern 
der Zerfall ergreift die reizbare Substanz in größerem Umfange, zersplittert die 
ßeservevorräte. Dadurch werden Affinitäten frei, welche eine gesteigerte Assi- 


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milation erzwingen und es kommt so zu einer besonders reichlichen Bildung 
hochlabiler Atomgruppen. Dieser Vorgang muß sich unter anderem in einem er¬ 
höhten Sauerstoffbedürfnis ausdrücken. In der Tat findet bei der Fortsetzung 
der Tätigkeit in ermüdetem Zustande und bei übermäßiger Muskelanstrengung 
eine relative Steigerung des Sauerstoffverbrauchs statt; auch kann sich als Nach¬ 
wirkung nach bedeutenden Anstrengungen eine den Ruhewert mehr oder weniger 
übersteigende Steigerung des Gaswechsels zeigen. 

Die von Zuntz für erstere Erscheinung gegebene* Erklärung, daß bei übermäßiger 
Beanspruchung der Muskeln Hilfsmuskeln herangezogen werden, welche ein ungünstigeres 
Drehungsmoment besitzen und infolge mangelhafter Übung weniger ökonomisch arbeiten, 
ist ohne Zweifel richtig. Aber sie schließt nicht aus, daß nebenher noch eine zweite 
Ursache des gesteigerten Sauerstoffverbrauchs besteht, nämlich die oben genannte. Eine 
Bekräftigung dieser Anschauung läßt sich aus den bei Sauerstoffmangel eintretenden 
Stoffwechselveränderungen ableiten. Zuntz hat mit seinen Schülern festgestellt, daß bei 
Sauerstoffverringerung (in Höhenluft) die Muskelarbeit gleichfalls mit einem erhöhten Sauer¬ 
stoffverbrauch einhergeht, ja daß in größerer Höhe sogar in Ruhe ein solcher stattfindet. 

Die mangelhaft mit Sauerstoff gespeisten Organe sind weniger leistungsfähig und 
ermüden leichter. Werden sie zur Tätigkeit gezwungen, wie es z. B. auch bei voll¬ 
kommener Ruhe für Herz und Atmung wie für die drüsigen Apparate gilt, so müssen 
die Funktionsreize eine erhöhte Zersetzung der Substanz und reaktive Erregbarkeits¬ 
steigerung bewirken, falls die Reservekräfte ausreichen, um dem gesteigerten Assimila¬ 
tionsbedürfnis zu genügen und nicht vielmehr sofortige Erschöpfung eintritt. Eine relative 
Erhöhung des Sauerstoffbedarfs und -Verbrauchs muß die Folge sein. Die von Zuntz 1 ) 
gegebenen Erklärungen des erhöhten Sauerstoffverbrauchs bei der unter Sauerstoffarmut 
stattfindenden Muskeltätigkeit sind folgende: Er weist darauf hin, daß auch in der 
Ruhe beständig Muskeltätigkeit stattfindet, und daß diese, z. B. die der Herz- und Atem¬ 
muskulatur auch unter ungünstigeren Umständen erfolgt als bei reichlicher Sauerstoffzufulir. 
,,Für die Atemmuskulatur ist ferner in Betracht zu ziehen, daß sie mehr zu lsisten hat. 
daß wir im Hochgebirge infolge der durch den Sauerstoffmangel erzeugten Reize 
dauernd verstärkt atmen. Es trägt außerdem, namentlich in den ersten Tagen des 
Höhenaufenthaltes, zur Vermehrung der Atemarbeit bei, daß die stärker ausgedehnten 
Darmgase einen Druck auf das Zwerchfell ausüben und dadurch die Atmung erschweren. 
Hinzu kommt, daß die Produkte unvollkommener Verbrennung, welche im Blute zirku¬ 
lieren, schließlich doch (zum Teil in den Lungen) verbrannt werden und hierfür zeit¬ 
weise ein Mehrverbrauch an Sauerstoff nötig ist.“ „Als ein letztes Moment kommt 
vielleicht auch noch die erregende Wirkung der mehrfach besprochenen Produkte der 
unvollkommenen Oxydation auf die motorischen Zentren des Rückenmarks in Betracht.* 4 
Es handelt sich um Muskelkrämpfe bzw. Zittern und Muskelspanhungen, welche in ver¬ 
dünnter Luft auftreten. Zuntz bezieht sie auf die erregende Wirkung gewisser unge¬ 
nügend oxydierter Stoffe, welchen auch eine eben solche für das Atemzentrum beizumessen 
ist. Die Atemgröße ist in größeren Höhen (3000 m) stärker erhöht als der Kohlen¬ 
säurespannung entspricht, welcher bekanntlich neben den bei der Muskelarbeit entstehenden 
Atemreizstoffen die Regulierung der Atmungstätigkeit, zukommt. Bei Sauerstoffmangel 
müssen somit die in den Muskeln entstehenden Atemreizstoffe vermehrt sein. 

Die Lehre, daß „das Blut bei der Arbeit aus den sich kontrahierenden Muskeln 
unbekannte Stoffe aufnimmt, welche das Respirationszentrum reizen 2 )“, stüzt sich auf 
den von Geppert und Zuntz in der zitierten Arbeit erbrachten Nachweis, daß die 
Veränderung der Blutgase (Sauerstoff, Kohlensäure) bei der Muskeltätigkeit nicht im 
stände ist, die Vermehrung der Atmung zu erklären, welche auch trotz Ausschaltung der 

l ) Zuntz, A. Loewy, F. Müller, Caspari: Höhenklima und Bergwanderungen in ihrer 
Wirkung auf den Menschen. 1906. Kap. XVIII. 

a ) GeppertundZuntz. Über die Regulation der Atmung. Pflügers Arch.f.d.ges.Pbys. Bd.42. 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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Nervenverbindungen eintritt. A. Loewy 1 ) zeigte, daß diese Stoffe nicht durch den Harn 
ausgeschieden werden, und daß es sich daher wahrscheinlich um leicht oxydierbare, 
während der Dyspnoe im Körper selbst der Zerstörung anheimfallende Stoffe handelt. Die 
Steigerung der Atmung hielt in den Loewy sehen Versuchen (Kaninchen) nach lOfacher 
Tetanisierung der Hinterläufe von je 5 Sekunden Dauer innerhalb 5 Minuten 8 bis 12 Mi¬ 
nuten, d. h. nach Beendigung der Muskelreizung 3 bis 7 Minuten .an. Die betreffenden 
Reizstoffe verschwinden somit schnell aus dem Blute, was auch Geppert und Zuntz 
aogeben (1. c. S. 245). Es handelt sich nach den von Durig und Zuntz ausgeführten 
Alkaleszenzbestimmungen des Blutes um organische Säuren, speziell Milchsäure. In 
einer späteren Arbeit 2 ) weist Zuntz noch auf folgendes hin: Bei der Muskeltätigkeit mit 
gleichzeitig ungenügender Sauerstoflfzufuhr werden Kohlehydrate (Zucker) als Energiequelle 
herangezogen (gärungsartige Spaltung, Milchsäurebildung); die verbrauchten Kohlehydrate 
werden auf Kosten des Eiweißes bzw. auch Fettes ersetzt, wobei Sauerstolf verbraucht wird. 

Die Nachwirkung der Arbeitsleistung fand Zuntz mit seinen Schülern besonders 
in der Höhe ausgesprochen und erklärt dieselbe einesteils durch die infolge der Arbeit 
erhöhte Körpertemperatur, andererseits durch die vorher erörterten Einflüsse der ver¬ 
ringerten Sauerstoflfzufuhr. 

Immerhin möchte ich auf die Wahrscheinlichkeit hinweisen, daß die Erhöhung der 
Atmungstätigkeit sowohl bei Sauerstoflfarmut wie bei der Nachwirkung nach stärkeren 
Arbeitsleistungen nicht lediglich auf der Vermehrung der Atemreize und den übrigen an¬ 
geführten Momenten, sondern auch auf einer Erregbarkeitssteigerung des Atem¬ 
zentrums selbst beruht. Daß Schwankungen der Erregbarkeit desselben Vorkommen, 
ist bekannt. Die Steigerung der Atemreize und der Funktion des Atemzentrums wird 
anch hier zu einer erhöhten Empfindlichkeit führen müssen; es wäre sonderbar, wenn das 
Atemzentrum eine Ausnahmestellung hätte. 

Zuntz (1. c.) erwähnt eine Erscheinung, welche zu der von mir angenommenen 
Erregbarkeitssteigerung des Atemzentrums sehr wohl in Beziehung gesetzt werden kann: 
die Erregung des letzteren tritt nämlich dann besonders stark hervor, wenn nach längerem 
Sauerstoffmangel wieder normale Luft geatmet wird. Die Zuntz sehe Erklärung lautet: 
„Diese Erscheinung ist dadurch verständlich, daß bei längerem Sauerstoffmangel die Er¬ 
regbarkeit der Zentra allmählich herabgesetzt wird, so daß die in größerer Menge im 
Blute zirkulierenden reizenden Stoffe wenig Effekt haben. Wird dann wieder sauerstoff- 
reiche Luft zugeführt, so erholt sich das Atemzentrum und reagiert nun heftig auf die 
im Blute noch zirkulierenden Reizstoffe.“ Es besteht hier unstreitig eine gewisse 
Schwierigkeit in der Vorstellung, daß die eben durch den Sauerstoffmangel gebildeten un¬ 
genügend oxydierten Stoffe auch nach Zuführung von Sauerstoff noch als in größerer 
Menge im Blute zirkulierend angenommen werden. Man sollte doch vielmehr meinen, daß 
die Sauerstoflfzufuhr in der Zeit, in welcher sie den Wiederaufbau der dissimilierten Sub¬ 
stanz des ermüdeten Atemzentrums besorgt, auch die weitere Oxydation jener Stoffe 
bewirken wird. Dagegen deutet die erwähnte Erscheinung darauf, daß das übererregte 
und übererregbare, dabei ermüdete Atemzentrum, nach seiner Restitution durch den reich¬ 
lich vorhandenen Sauerstoff seine höhere Erregbarkeit noch eine Zeitlang beibehält. 

Aus den auch von Zuntz zitierten Weichardtschen Untersuchungen geht hervor, 
daß das Ermüdnngsgift bei Sauerstoffarmut (in verdünnter Luft) schon durch mäßige 
Arbeit in ebenso reichlicher Menge erzeugt wird als in freier Luft durch hochgradige 
Ermüdung. Die Ermüdbarkeit ist somit bei Sauerstoffmangel erhöht und so würde der 
letztere zur vermehrten Bildung jener beiden gegensätzlichen Stoffe führen, der ermüdenden 
and der reizenden, welche wie man annimmt, bei jeder Muskeltätigkeit entstehen. Wie 
aber die Ermüdung nicht allein auf der Einwirkung der ermüdenden Stoffe, sondern auch 
auf der Erschöpfung des Assimilationsmaterials (besonders des Sauerstoffs) beruht, so 
kommt sicherlich für die Reizungsphänomene nicht allein das Vorhandensein der voraus¬ 
gesetzten Reizstoffe, sondern außerdem die durch die kumulative Assimilation bedingte 
Reizbarkeitserhöhung in Betracht. Die ärztliche Erfahrung spricht für das Vorkommen 

1 ) Pflügers Arch. f. d. ges. Phys. Bd. 42. 

2 ) Durig und Zuntz, Skandinavisches Archiv für Physiologie. Bd. 29. 1913. 

Ztit«chr. f. physik. u. dijit. Therapie Bd. XXII. Heft 7. 14 


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einer Erhöhung der Reizbarkeit des Atmungszentrums bei Dyspnoe. Anch die bei 
Sauerstoffarmut auftretenden Muskelzuckungen möchte ich nicht allein auf chemische 
Reizstoffe, sondern gleichzeitig auf Erregbarkeitserhöhungen beziehen. Es kommen hier 
die im I. Kap. bei dem intermittierenden Hinken usw. besprochenen Verhältnisse in Be¬ 
tracht. Der physiologische Chemiker wird geneigt sein, alles von der Bildung chemischer 
Stoffe ahzuleiten; aber die dynamischen- Vorgänge der Erregbarkeitsveränderung, wie sie 
uns besonders im Nervensystem entgegentreten, erfordern Berücksichtigung. 

Für die Vorstellung, daß bei ungenügender Assimilation bzw. Sauerstoffarmut die 
reizbare Substanz durch die Funktionsreize abnorm stark dissimiliert wird, kann man den 
H. Oppenheimschen Versuch anführen, welcher erkennen läßt, daß bei Überanstrengung 
mit Dyspnoe ein gesteigerter Eiweißzerfall eintritt. In demselben Sinne sprechen Ver¬ 
suche von A. Fraenkel, welcher bei Tieren nach Aufenthalt in stark verdünnter Luft 
eine Erhöhung des Eiweißzerfalles nachwies. Auch Kraus ist geneigt anzunehmen, daß 
das Wachsen des Eiweißzerfalls bei mit Dyspnoe verbundener Mnskelanstrengung „wohl 
hauptsächlich jenen Eiweißmolekülen (Muskelstoffen) entspricht, die bei normaler Funktion 
der kontraktilen Substanz gespalten und entweder stets wieder regeneriert oder deren 
N-haltiger Rest erst im Verlaufe längerer Zeit in den Exkreten zu erscheinen pflegt 1 )“. 
Es hindert meines Erachtens nichts, diese Vorstellung von den Muskelzellen auf diejenigen 
des Nervensystems und auf funktionierende Zellen insgemein auszudehnen. 

Auch die Beobachtung, daß bei ermüdeten Muskeln (Sauerstoff-Verarmung) die 
Wärmebildung im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit gegenüber dem ausgernhten Muskel 
sinkt, könnte dahin gedeutet werden, daß die Leistungsfähigkeit sich trotz geringerer 
Oxydierung auf Grund stärkerer Dissimilierung erhält. 

Chronische Ermüdung tritt uns nicht selten als Krankheitszustand ent¬ 
gegen, dadurch erzeugt, daß die Anforderungen des Lebens oder die besonderen 
Umstände (Mangel an Ruhepausen, an Schlaf, Überanstrengung, übermäßige 
Einwirkung von Sinnesreizen und Gemütseindrücken usw.) die individuelle Leistungs¬ 
fähigkeit überschritten haben. Eine besondere Disposition hierfür bieten kon¬ 
stitutionelle Schwächezustände, organische Erkrankungen (Herz-, Lungen-, Magen-, 
Darm-Erkrankungen), Neurasthenie, Rekonvaleszenz, Unterernährung. Kraus hat 
gezeigt, daß die Ermüdung und gesteigerte Ermüdbarkeit ein Zeichen irgendwelcher 
Schwächung des Organismus darstellt. Die Defatigatio kann unter dem Bilde einer 
dauernden abnormen körperlichen und geistigen Ermüdbarkeit, Gedächtnisschwäche, 
deprimierten Stimmung, Unlust, Willensschwäche auftreten. Häufiger aber finden 
wir außerdem die Symptome einer gesteigerten Reizbarkeit: Neuralgien, Myal¬ 
gien, Parästhesien, Reflexsteigerung, vasomotorische Reizungen, Neigung zu Schwei߬ 
sekretion, Herzklopfen, Oppressionsgefühl, Pulsbeschleunigung, Migräne, reizbare 
Stimmung, mangelhafte Selbstbeherrschung, gesteigerte emotionelle Erregbarkeit, 
Schlaflosigkeit, allgemeine Hyperästhesie gegen Sinneseindrücke, kurz ein Bild reiz¬ 
barer Schwäche, der Neurasthenie. Wie es scheint, können auch Superazidität, 
Glykosurie, Abmagerung und andere vegetative Störungen, vielleicht auch Thyreo- 
toxie auftreten. Bei manchen Übermüdeten wiegen die Ermüdungs-, bei anderen die 
Reizungssymptome vor. Maria de Manaceine stellt hiernach zwei Typen von 
Überarbeiteten auf (Zit. nach Bethge. Der Einfluß geistiger Arbeit auf den Körper. 
1910). Eine so strenge Scheidung ist jedoch gekünstelt. Bestehen irgendwelche 
örtliche Dispositionen oder Organerkrankungen, so können die Reizsymptome an 
dieser Stelle in besonders auffälliger Weise offenbar werden, wodurch das Krankheits¬ 
bild der allgemeinen Übermüdung unterscheidende und individuelle Merkmale erhält. 

(' Die Ermüdung, S. 15. 


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über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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Aach das Krankheitsbild einer isolierten. lokalen Überemptindlichkeit durch 
örtlich beschränkte Überreizung kommt vor, wobei Ausstrahlungen auf den Ge¬ 
samtorganismus in mehr oder weniger hervortretender Art die Regel bilden. 

Vielleicht kann durch Übermüdung die Bereitschaft für.Infektionskrankheiten 
erhöht bezw. der Verlauf letzterer ungünstig beeinflußt werden (Kollarits, Med. 
Kl. 1917. Nr. 51). Für schwere Erschöpfung ist diese Erfahrung (z. B. bei typhös 
erkrankten Kriegsteilnehmern, v. Koranyi) gesichert. 

Die krankhafte Übermüdung, d. h. die Überempfindlichkeit mit gesteigerter 
Erschöpfbarkeit durch Überreizung, ist oft durch den Zwang der Verhältnisse, 
aber auch nicht selten durch die individuelle gewählte Lebensführung veranlaßt. 
Es gibt gewisse Momente, welche zur Folge haben, daß der Gebrauch des Lebens 
allgemeine oder örtliche Schädigungen durch Erschöpfung und Überreizung her¬ 
beiführt. Sie sind in der Hauptsache auf eine Ungleichmäßigkeit der Veran¬ 
lagung in körperlicher oder geistiger Beziehung oder in dem Verhältnis von 
körperlicher zu geistiger Veranlagung zurückzuführen. Ich möchte namentlich 
auf vier Arten von Disharmonie hinweisen. 

1. Im schwachen Körper wohnt ein starker Geist. Der Organismus ist der 
Willenskraft, welche ihn bewegt, nicht gewachsen. 

2. Es bestehen stark hervortretende Neigungen, Triebe, Begierden, welche 
anf die Lebenshaltung bestimmend wirken und einerseits zn einer örtlichen Über¬ 
reizung nnd Übermüdung, andererseits durch die notwendige Anteilnahme des 
gesamten Organismus an der betreffenden Betätigung zu einer allgemeinen Über¬ 
reizung führen. Hierher gehören nicht allein schlechte Leidenschaften, sondern 
auch künstlerische Talente und sehr ausgesprochene geistige Sonderinteressen. 
Der Besitz einer solchen reichen Begabung ist, wie die Erfahrung zur Genüge 
lehrt, stets mit der Gefahr der Überreizung verbunden. 

3. Ganz ähnlich wirkt der Besitz einzelner, besonders hervorragender körper¬ 
licher Anlagen, welcher zu einer Betätigung derselben verleitet, der die anderen 
Organe nicht gewachsen sind. So kann eine athletische Muskulatur durch ent¬ 
sprechenden Gebrauch und Überleistung zu einer übermäßigen Beanspruchung des 
Nervensystems führen: der herkulisch gebaute Neurastheniker. Auch eine unge¬ 
wöhnliche geistige Arbeitskraft, welche zu einer Übermüdung vegetativer Organe 
führt, ist hier mit zu nennen. 

4. Das Vorhandensein eines minderwertigen Organs oder Organsystems 
(vgl. m. Kap.). 

Diese aus Insuffizienz und Reizung (Erethismus) zusammengesetzten Bilder 
der Übermüdung werden in der Praxis häufig verkannt. Sie sind um so wichtiger, 
als sie nur eine therapeutische Maßnahme verlangen: Ruhe. Unter dem Einflüsse 
dieser klingen die Symptome ab, gleichgültig, welche therapeutischen Maßnahmen 
sonst noch ergriffen werden, wenn diese nur nicht die Ruhe stören. Nicht selten 
wird die Besserung mißverständlicherweise auf irgendeine gerade angewandte 
Heilmaßnahme (Badekur oder dergl.) bezogen. Nichts ist bei solchen Fällen 
unrichtiger als eine therapeutische Vielgescbäftigkeit. Man beachte, daß, wie 
bereits hervorgehoben, die allgemeine Übermüdung ausgesprochene örtliche Reiz¬ 
symptome hervorrufen kann. Die durch ein Organleiden bedingten Störungen 
können durch örtliche, der Übermüdung (Überreizung) entstammende Symptome 

14* 


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212 Goldscheider, Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


kompliziert bzw. überlagert sein und so vermag die Ruhe allein schon eine 
wesentliche Besserung des Gesamtbildes zu bewirken. Gewisse Neuralgien, Hyper¬ 
ästhesien und andere Reizznstände verschwinden durch bloße Ruhe oder aus¬ 
reichenden Schlaf. Es ist erstaunlich, wie bei überarbeiteten Personen oft eine 
ganz kurze Ausruhe die Linderung solcher örtlichen Symptome bewirkt. 

Ein anderes Moment von praktischer Wichtigkeit ist dadurch gegeben, daß 
die subjektiven Symptome der Übermüdung in der Psyche des Betroffenen leicht 
Krankheitsvorstellungen hervorrufen können, so daß sich eine nehrasthenieche oder 
psychasthenische Komponente hinzugesellt. Klärt man den Kranken über den 
wahren Charakter der Symptome auf, überzeugt man ihn von seiner fehlerhaften 
Deutung, indem man durch Ruhebehandlung die Beschwerden zum Verschwinden 
bringt, so kann ein Umschwung in dem Sichfühleu des Patienten eintreten, 
welcher bei ihm eine Wunderkur vortäuscht. Die lokalen Organsymptome er¬ 
scheinen gebessert, die Leistungsfähigkeit erscheint erhöht. Bei hochgradigen 
oder komplizierten Fällen von Übermüdung muß die Ruhekur eine sehr voll¬ 
ständige sein. Die bloße „Schonung“ genügt nicht, weil schon die alltäglichen 
Beanspruchungen zu viel sind. 

Nicht immer ist andererseits eine absolute Ruhe erforderlich; vielmehr 
führt oft schon eine individuelle Anpassung der Lebensweise an die durch Kon¬ 
stitution oder Organleiden gegebenen Bedingungen und Grenzen zum Ziel. 

Es ist zu berücksichtigen,' was im I. Kap. über Reizanpassung gesagt worden 
ist. Auch die Empfindungssphäre ist anpassungsfähig, selbst im Zustande der 
Überempfindlichkeit, nur daß die Anpassung hierbei in besonders vorsichtiger und 
abgestufter Weise ausgeführt werden muß. 

Wo gesteigerte Ermüdbarkeit besteht, finden sich auch die Bedingungen 
für die reizbare Übermüdung. So bei Unterernährung, Anämie, konstitutioneller 
Schwäche, sei es, daß dieselbe kongenital oder durch eine Organ- oder Allgemein¬ 
krankheit erworben ist, bei Intoxikationen (Infektionskrankheiten, Fieber, so auch 
bei manchen Fällen von latenter Lues), bei verloren gegangener Übung (z. B. durch 
lange Bettlägerigkeit). Bei der reizbaren Schwäche der Rekonvaleszenten treffen 
oft mehrere dieser Ursachen zusammen. Zahlreiche Krankheitssymptome beruhen 
lediglich auf Ermüdung bzw. reizbarer Ermüdung. 

Auch bei Personen von gesunder Konstitution kann eine durch längere Zeit 
fortgeführte Übermüdung und Überanstrengung einen Zustand krankhafter Ermüd¬ 
barkeit und gesteigerter Reizbarkeit hinterlassen, dessen Heilung einige Zeit 
beansprucht. In erhöhtem Maße ist dies bei Neuropathen der Fall. Bei schwerer 
Neurasthenie können schon die alltäglichen Anforderungen übermüdend und über¬ 
reizend wirken. Gewisse Stoffwechselkrankheiten (Diabetes, Fettsucht) sowie Er¬ 
krankungen, welche die Sauerstoffaufnahme beeinträchtigen (Blutkrankheiten), 
erzeugen in besonders hohem Maße Ermüdbarkeit. Ferner sind die Muskel¬ 
erkrankungen zu nennen (Muskelschwund, Myasthenie). Von organischen Nerven¬ 
erkrankungen ist es besonders die Tabes, welche mit einer oft schog sehr früh¬ 
zeitig hervortretenden gesteigerten Ermüdbarkeit, namentlich mit krankhaft erhöhter 
Ermüdungsempfindung einhergeht. Letztere ist in diesen Fällen auf eine Hyper¬ 
ästhesie der sensiblen Muskelnerven zu beziehen. Bei vorgeschrittener Degene¬ 
ration kann das umgekehrte: ein Mangel der Ermüdungsempfindung vorhanden sein. 


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Detennann, Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik. 213 


Bei nenritischen oder zentral bedingten Paresen steht die Ermüdung im Verhältnis 
zur Mnskelschwäche; bei hyperästhetischer Neuritis kommt außerdem eine krank¬ 
hafte Erhöhung der Ermfldungsempfindung bzw. des Ermüdungsschmerzes vor. 

So führt die Übermüdung als Überlastung mit funktionellen physiologischen Reizen 
bereits in das Gebiet der krankhaften Uberempfindlichkeit. (Fortsetzung folgt.) 


, II. 

Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik. 

Fortbildungsvortrag, gehalten in Freiburg i. Br. 

Von 

Prof. Dr. Detennann 

in St. Blasien-Freiburg i. Br. 

Gewiß stützt sich die Diagnostik teilweise auf Vergleich, Erinnerungen, 
Erfahrung. Besser jedoch beruht, sie auf der Vorstellung dessen, was vorgeht im 
Organismus, auf der Überlegung der Funktion. Soll daher die Diagnostik auf der 
Höhe der Zeit stehen, so muß sie auf den Lehren der Physiologie und der patho¬ 
logischen Physiologie aufgebaut sein. 

Nach diesen Grundsätzen muß man auch aus dem Sammelbegriff Magenstörung 
nnd Dannstörung die einzelnen Funktionsstörungen herausschälen. 

Gestatten Sie mir daher, das Ineinanderspiel aller Vorgänge im Magendarm¬ 
kanal mit ständigem Ausblick auf die praktische Diagnostik zu betrachten. Es ist 
zweckmäßig und zugleich gesichert angelegt. Ein Teil des Magendarmkanals 
beeinflußt den anderen, eine Funktionssphäre kann aber auch häufig die andere 
vertreten; für besonders schwierige Aufgaben sind verschiedene Möglichkeiten der 
Erledigung vorhanden. So wird das Endziel, die gänzliche Zertrümmerung der 
Nahrungsstoffe und ihre Aufsaugung garantiert. 

Ich habe an anderer Stelle einmal den Magendarmkanal verglichen mit einem 
dem Transport von Waren dienenden Kanalsystem. Das Wasser des Kanalsystems 
wären die Sekrete, die vorwärtstreibende Kraft die Magendarm-Muskulatur, das 
Transportgut die Nahrungsstoffe, welche an den Ufern des Kanalsystems hier und 
da gelöscht werden. In dem Kanalsystem befinden sich zwecks Ansammlung von 
Wasser, zwecks Ordnung und Vorbereitung der zu löschenden Ladung, fünf 
Schleusen: Schluckakt, Kardia, Pylorus, Sphincter ileocolicus und Spbincter ani. 

Magen. 

Der Kauakt hat außer der Zerkleinerung der Speisen die Aufgabe der Fernwirkung 
auf die Produktion von Magen- und Pankreassaft. Gleichzeitig wird Speichel sezerniert 
in einer der Art der Speisen angepaßten Menge und Zusammensetzung. Die Anregung 
zur Sekretion erfolgt aber nicht nur vom Muude aus, sondern auch durch Sinneseindrücke 
und Vorstellungen. Bedingte Reflexe nennt das Pawlow. Verdauende Wirkung hat der 
Speichel nur durch das Ptyalin. Die Kardia , die 7.weite Schleuse, bildet einen Muskel¬ 
verschluß, dessen Funktion mancherlei Störungen in Gestalt und Bewegung der Speise¬ 
röhre verständlich macht. Durch eine schräge Einmündung in den Magen entsteht eine 


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Art Ventilverschluß, so daß die Speisen zwar gut in den Magen hinein, aber nicht so 
leicht nach oben herausdrangen können. 

Über Lage , Form und Bewegung des Magens gibt uns besonders das Röntgenverfahren 
Aufschluß. Die Syphonform, bei der durch Höherstellung des Pylorus eine gewisse 
Hubhöhe, also eine gewisse Erschwerung für die Magenentleerung entsteht, ist wohl die 
häufigste und die normale. Jedenfalls sind andere Formen, wie die Stierhornform für 
eine geregelte Entleerung des Magens ungünstiger. Zwei Teile sind am Magen funktionell 
und anatomisch zu unterscheiden: der Fundus und das Antrum pjdori. In den Fundus 
gleiten die Speisen hinein, sie schichten sich unter langsamer Ausdehnung der Wände, 
wobei nur ein gleichmäßiges Zusammenhalten des Speisebreies erfolgt. Gleichzeitig setzt 
die Saftsekretion ein, wodurch die Eiweißstoffe verdaut, die Fette geschmolzen und teil¬ 
weise gespalten, die Kohlehydrate verflüssigt werden. Zugleich erfolgt eine Verdauung 
des Bindegewebes und eines Teiles der pflanzlichen Gerüstsubstanzen. So entsteht in 
den Randpartien des Speisebreies ein dünner Brei, der in das Antrum pylori abgedrängt 
wird. Dort setzen nun rhythmische Kontraktionen von maschinenartiger Regelmäßigkeit 
mit der Richtung zum Pylorus ein, der Speisebrei wird durch dieselben zum geringsten 
Teil in den Darm entleert, zum größten Teil hin- und hergewälzt. .Also der gleichmäßige 
Druck des Fundus , die Sekretion des Fundus und die Antrumkontraktionen bilden die Grund¬ 
lage der Funktion des Magens . Schon hier ist zu bemerken, daß alle drei Tätigkeiten 
hauptsächlich abhängig sind von nervösen und Großhirneinflüssen. Daher ist die Gesamt¬ 
funktion des Magens so ungemein abhängig von den verschiedensten Umständen. Ständige, 
wenn auch kleine Störungen der normalen Einflüsse bewirken eine Änderung des normalen 
Ineinanderspiels, die den Beginn einer schweren Erkrankung bilden kann. 

Die Magensaftsekretion hängt, abgesehen vom Kauakt, zunächst ab von Sinneseiii- 
driieken und von psychischen Vorstellungen. Die Scheinfütterung hat dies schlagend 
erwiesen. Eine Änderung der psychischen Verfassung ändert auch die Magensaftsekretion. 
Diese Versuche bei Tier und Mensch machen es ohne weiteres sicher, daß auch beim 
Menschen Ärger, Hast, Sorgen, besonders während des Essens einen ungünstigen Einfluß 
auf die Magensaftsekretion haben. Weiterhin wird Magensaft hervorgerufen durch ein 
vom Antrum pylori .aus resorbiertes Hormon, endlich vom Duodenum aus durch Fette und 
Seifen. Die beiden letzteren Erregungsarten wirken also retrograd. Vom Magenfundus 
selbst ist kein Einfluß auf die Magensaftsekretion zu ersehen. Verdauende Wirkung hat 
der Magensaft auf Eiweiß durch Salzsäure und Pepsin, auf Fett durch eine Lipase. Eine 
gewisse Anpassungsfähigkeit des Magensaftes in bezug auf Menge und Konzentration an 
die Art der Speisen mag beim Menschen vorhanden sein. 

Zu all dem kommt der fakultative Pylorusverschluß. Vom Magen aus ist eine 
Beeinflussung desselben nur in mäßigem Grade vorhanden durch nicht isotonische Lösungen, 
durch abweichende Temperatur, grobe Beschaffenheit der Speisen, durch Schmerzen. Die 
HauptbeeiDflussung des Pylorusverschlusses ist ebenfalls retrograd vom Duodenum aus 
durch Säuren und Fette. Auch starke Darmreizung mit Durchfall bewirkt langdauernden 
Pylorusverschluß. Das PylontsspicL d. h. die Öffnung und Schließung, tritt besonders 
ein, wenn Säuren oder Fette die Duodenalschleimhaut berühren; dann schließt sich der 
Pylorus, öffnet sich aber sofort wieder, wenn die betreffenden Substanzen neutralisiert 
oder entfernt sind. Dann dringt wieder neue Substanz, die den Pylorus zum Schließen 
bringt, aus dem Magen, prompt schließt sich der Pylorus und wiederholt sich das Spiel. 
So dringen nur kleine Mengen von Speisebrei in den Darm. Bei geschlossenem Pylorus 
‘wird der Mageninhalt nur hin- und hergevvälzt. Daß die verschiedenen Speisen einen ver¬ 
schiedenen langen Aufenthalt im Magen nehmen, w ie Pentzoldtschon vor langer Zeit gefunden 
hat, liegt vor allem am Pylornsspiel. Eiweißhaltige Speisen werden im allgemeinen 
langsam, fetthaltige noch langsamer verdaut. Aber nicht nur die Art der Nahrung, 
sondern vor allem die Zubereitungsform und der Aggregatzustand haben einen Einfluß. 
Ein Hundeversuch ergab, daß bei langdauernder Darreichung von gehacktem Fleisch, 
anstatt rohem Fleisch, oder von vorverdauten Eiweißkörpern Durchfall und schwere Aus¬ 
nutzungsstörungen verursacht wurden. Die Störungen waren gastrogener Natur und bedingt, 
durch zu schnelle Magenentleerung; teils durch zu zarte Beschaffenheit der Speisen, teils 


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Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik. 


durch verminderte Magensaftsekretion war das Pylorusspiel verändert, dasselbe hinderte 
das Durchlaufen der Speisen weniger als normal,, es erfolgte eine schwere Darmüber- 
lastung mit allen Folgen. Dieser Versuch zwingt uns, bei Darmstörungen die Möglichkeit 
einer Veränderung des Entleerungstempos des Magens durch zu zarte und zu wenig feste 
Nahrung in Erwägung zu ziehen . t 

Die diagnostische Wichtigkeit des Pylorusreflexes kann deshalb nicht genügend hervor¬ 
gehoben werden. Er grenzt die Tätigkeit von Magen und Darm ab, er sorgt dafür, daß 
nur kleine Mengen von Speisebrei dem Darm überliefert werden, er verhindert eine Über¬ 
lastung des Darmes. Bei Störungen im Magendarmkanal können wir durch Beobachtung 
des Pvlorusspieles im Röntgenbilde oft sehen, was dabei dem Magen, was dabei dem Darm 
an Schuld zuzuschieben ist. Oft genügt aber auch zur Klarstellung der Zusammenhänge 
die Feststellung von Vorhandensein und Maß der Salzsäure, oft sogar genügen die An¬ 
gaben des Patienten von etwa vorhandenem, häufigem Leeregefühl, Bedürfnis oft etwas zu 
essen, andererseits vom Gefühl zu langen Magenaufenthalts. Wir müssen dabei berück¬ 
sichtigen, daß Anfang und Ende des Verdauungskanals in vollständiger Verbindung mit 
dem Bewußtsein stehen. Je weiter wir zur Mitte kommen, desto weniger spielt das 
Bewußtsein eine Rolle; so ist der Dünndarm demselben fast gan^ entzogen, aber sowohl 
im Magen, als auch im Dickdarm fühlen wir schon etwas die normalen Vorgänge. Daher 
ist der Magen häufig durch Empfindungen gewarnt und geschützt, Diätfehler werden 
daher von ihm rechtzeitig bemerkt und abgestellt. Die Diagnose der Magenerkrankungen 
wird also häufig durch die Angaben des Patienten gestützt. Über die Vorgänge im 
Dünndarm weiß der Patient nichts. Störungen treten immer erst hinterher, d. h. einige 
Zeit nach dem Diätfehler, ein. Die nähere Erkennung der Dünndarmerkrankungen ist 
schon aus diesem Grunde schwieriger. 

Für die Diagnose der Magenerkrankung müssen wir also berücksichtigen die gan :e 
Sfrie der Bewegungsvorgänge , besonders den Entleerungsmcchanismus des Magens , ferner 
die Sekretionsvorgänge. Auf beide wirken psychisch-nervöse Einflüsse und Verfasssung . 

Ist irgendwo ein abnormer Befund erhoben worden, so können wir auf Grund der eben 
erörterten Zusammenhänge annehmen, daß und welche Beziehungen zu anderen Teilen 
des Magendarmkanals gestört sind. Oft wird also durch einen einzelnen Befund ein 
ganzes Krankheitsbild aufgeklärt. 

Einige Beispiel e r müssen dies erläutern, meine Hejyen! 

Finden wir eine dauernde Snbazidität oder eine Achylie, so müssen wir 
natürlich zunächst ernste Ursachen ausschließen: eine schwere Schädigung oder 
Atrophie der Magenschleimhaut auf Grund lange dauernder Gastritis, von Karzinom, 
perniziösen Anämie usw. Sodann denken wir an langjähriges mangelhaftes Kauen, 
schlechte Zähne; — oft fängt die Diagnose bei den Zähnen an — wir denken 
auch an psychisch-nervöse ungünstige Einflüsse, wie Hast, Ärger, besonders 
beim Essen, Kummer, Sorgen, Überarbeitung; ferner dürfen wir diätische Ursachen 
nicht vergessen, und zwar ist viel häufiger, als allgemein angenommen wird, eine 
Ursache für die Achylie ein dauernd verminderter Anreiz zur Magensaftproduktion 
durch eine zu gute mechanische oder chemische Vorbereitung der dargereichten 
Speisen, besonders, wenn sie, wie jetzt in der Kriegszeit, eiweiß- und fettarm sind; 
das ist nach dem Gesagten durchaus verständlich. 

Was sind nun die Folgen der Achylie? — Fast immer wird der Entlcerungs- 
mechanismus mit der Zeit geändert werden. Es liegt für den Pylorus kein ge¬ 
nügender Anlaß zum reflektorischen Schließen vor, wegen des Fehlens der Säure 
kann die Peristaltik des Antrum pylori große Mengen des Speisebreies auf ein¬ 
mal in den Dünndarm schieben, der Magen wird zu früh entleert, er kann mit 
der Zeit kleiner und muskelärmer, die Hubhöhe kann geringer werden. Oft aller- 


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ding8 bildet sich eine Atonie mit vergrößerter Hubhöhe, aber auch dann wird oft 
eine anfänglich starke Ausschüttung aus dem Magen in den Darm nicht gehindert. 
So erfolgt eine Verschiebung der Tätigkeit von Magen und Darm. Der Mägen 
bekommt weniger Arbeit, der Darm viehr als er sollte in qualitativer und, quanti¬ 
tativer Beziehung. Qualitativ deshalb, well der Speisebrei durch den Magen 
mangelhaft vorbereitet ist. Das bezieht sich besonders auf die Gerüstsubstanzen 
(Bindegewebe des Fleisches und Fettes, Wabengerüst des Kornes, Mittellamelle 
der Gemüse), auf die die Salzsäure des Magens auflösend wirkt. Diese Substanzen 
reizen die Darmwände, sie hüllen auch die zu resorbierenden Nahrungsstoffe ein. 
Ferner sind durch den Mangel an Magensaft die Eiweißkörper nicht zu Peptonen 
und Albumosen umgewandelt. Das Eieralburain ist sogar nur durch Pepsin ver¬ 
daubar. Dabei fehlt die hemmende Kraft der Salzsäure für die Bakterientätigkeit. 
Es kann sich deshalb trotz der bakteriziden Kraft der Dünndarmschleimhaut auf 
dem jetzt reichen Nährboden des Dünndarms eine Darmflora entwickeln. Nur 
die Kohlehydrate würden bei Achylie evtl, im Magen besser verdaut sein, da die 
durch Salzsäure sonst gehemmte Ptyalin Wirkung des Speichels sich besser fort¬ 
setzen kann. Sonst ist aber der ganze Speisebrei für den Dünndarm nicht ge¬ 
nügend vorbereitet. Dazu kommen die zu großen quantitativen Ansprüche. 
Während für gewöhnlich nur geringe Mengen auf einmal in den Dünndarm dringen, 
handelt es sich jetzt um große Massen, die ihn auf einmal belasten. So ist eine 
Zerschlagung der Nahrungsstoffe teils unmöglich, teils wegen zu großem Angebot 
nicht in der richtigen Zeit zu erledigen, zumal das Fehlen der Salzsäure eine 
Hinderung für die Erzeugung des Pankreassaftes bedeutet. Die Stuhluntersuchung 
ergibt dann ein „gastrisches Vegetationsbild“ (R. Schmidt), die Dünndarmschleim¬ 
haut wird im Epithelbelag beschädigt, Katarrhe entstehen, die Resorption kann 
leiden, Gewichtsverlust, Blutarmut usw. können dann die Folgen sein. 

Oft allerdings erfolgt ein kompensatorischer Ausgleich. Wie ich eingangs er¬ 
wähnte, kann oft innerhalb des Magendarmkanals eine Funktionssphäre für die 
andere eintreten. So erweisen sich Pankreassaft und Dünndarmsaftsekretion oft 
als fähig, den Ausfall der Magensaftsekretion auszugleichen. So ist es zu er¬ 
klären, daß bei vollständiger Achylie oft wenig oder gar keine krankhaften Er¬ 
scheinungen vorhanden sind. Oft wird bekanntlich ohne Anftreten von irgend¬ 
welchen Störungen eine Achylie und eine sehr schnelle Magenentleerung zufällig 
entdeckt. Erstaunlich ist auch bei Gastroenterostomierten der oft gute Aus¬ 
gleich der schnellen Magenentleerung durch die Darmverdauung. Ich sah in 
letzter Zeit einige Patienten, welche unter Röntgenbeobachtung durch den Magen 
hindurch, direkt in den tief im kleinen Becken liegenden Dünndarm ihre Speise 
beförderten. In einigen Dünndarmschlingen erfolgte dann ein ziemlich langer Auf¬ 
enthalt. Durchfall oder schlechte Ausnutzung der Nahrung war auch bei nicht 
sehr strenger Kost nicht vorhanden. Diese Patienten hatten allerdings normale 
Magensaftsekretion. 

Ein anderes Beispiel: Die Superazidität oder besser Supersekretion in 
ihren Zusammenhängen. 

Auch sie ist abhängig von der Kautätigkeit, der Art der Kost, vor allem aber 
von psychisch-nervösen Einflüssen. Auch sie entsteht oft bei schlechtem Kauen. 
Dies stimmt scheinbar nicht mit der Angabe, daß auch Achylie durch schlechtes 


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Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik. 


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Kauen entstehen kann. Aber denken wir auch hierbei an die Möglichkeit kom¬ 
pensatorischer Überfunktion gewisser Teile des Magendarmkanals; ferner ist nicht 
zu vergessen, daß die Entstehung des Magensaftes ja außer durch den Kauakt 
noch auf mehrfach andere Art zustande kommt. Auch bietet wohl schlecht ge¬ 
kaute Kost durch seine mechanische Beschaffenheit einen erheblichen Anreiz zur 
Magensaftsekretion, besonders bei starker Anlage des Drüsenapparates. Endlich 
wirken nervös-psychische Schädlichkeiten nicht nur in einer Richtung, nämlich im 
Sinne der Verminderung Magensaftsekretion, sondern oft wirken sie reizend, also 
steigernd auf diese. 

Die Folgen einer Supersekretion des Magensaftes werden meistens umgekehrt 
wie bei der Achylie sein. Durch die sehr häufige Berührung der Duodenalschleim¬ 
haut mit Säure wird der Pylorusschluß fast dauernd angeregt und damit die Ent¬ 
leerung des Magens verzögert. Trotz der in diesem Falle besonders starken 
Antrumperistaltik werden nur sehr kleine Portionen von Speisebrei in den Darm 
entleert, die Nahrung hält sich unverhältnismäßig lange im Magen auf, das Ver¬ 
hältnis von Magen- und Darmarbeit wird zu Ungunsten des Magens verschoben. 
Die Nahrung wird im Magen gründlicher verdaut wie sonst, sowohl in bezug 
auf das Bindegewebe von Fleisch und das Wabengerüst des Kornes, als auch 
bezüglich der Eiweiß- und Fettkörper. Eine vermehrte Resorption von Pepton 
und Albumosen im Antrum sorgt für weitere Anregung der Saftsekretion. So 
entsteht ein circulus vitiosus. Wenn auch von Zeit zu Zeit durch die kräftige 
Muskelkontraktion des Magens der Pylorusschluß gesprengt und der Dünndarm 
mit salzsäurehaltigem Speisebrei überschwemmt wird, so wird doch im Durch¬ 
schnitt der Magen seinen Inhalt viel länger behalten und bearbeiten. Er wird 
daher, trotz der Zunahme der Muskulatur größer, gedehnter sein, die Hubhöhe 
wird größer, wodurch sich eine weitere Erschwerung der Entleerung ergibt, all¬ 
mählich kann sich eine Insuffizienz ersten Grades (Boas) einstellen. Auch wird 
durch die beständige Berührung der Schleimhaut mit Salzsäure besonders am Py- 
lorus die Geschwürsbildung begünstigt, auch kann sich durch den ständigen Pylorus- 
krampf mit der Zeit eine muskuläre Stenose mit ihren weiteren Folgen einstellen. 

Vielleicht sind diese Beispiele etwas schematisch ausgefallen . Gewiß spielen 
viele andere Momente hinein, unter anderem der Wechsel in der Magensaftsekretion. 
Sie wissen selbst, meine Herren, wie vielgestaltig das Bild der Magenkrankheiten 
ist, und daß die Zusammenhänge keineswegs immer so typisch sich abspielen, 
wie in den obigen Beispielen erwähnt. Große Gebiete, wie die Katarrhe, die ent¬ 
zündlichen Erkrankungen habe ich mit Absicht nicht hineingezogen. Es lag mir 
nur daran, die am häufigsten rorkommenden Zusammenhänge zu zeigen und darauf 
hinzuweisen, wie das Auf finden eines Anzeichens eine ganze Reihe von Gedanken- 
•ßngen auf Grund pathologisch-physiologischer Überlegungen hervorrufen muf>. 

Darm. 

Auch hier sei mir ein überblick über die normale Funktion desselben erlaubt. 

Im Duodenum erfolgt der Umschlag der Reaktion, dort entleert sich der Pylorus, 
dort erfolgt der Erguß aus den Ausführungsgängen der großen Verdannngsdrüsen Leber 
und Pankreas. Mit der Einhornschen Duodenalpumpe können wir ein Überblick über die 
im Duodenum jeweils vorhandenen Flüssigkeiten gewinnen. 


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Der Pankreassaft wird zwar nicht sehr stark, aber langdauernd durch den Kauakt 
beeinflußt. Die Haupterzeugung erfolgt das durch Sekretin, ein in der Dünndarmschleimhaut 
befindliches, von saurem Magensaft aktiviertes Hormon, sodann durch Fettsäuren qnd 
Seifen. Eine gewisse Anpassung des Saftes bezüglich Zusammensetzung und Menge mag 
nach Art und Summe der Reize der Nahrung vorhanden sein. Im Pankreassaft sorgen 
das Trypsin für tiefe Eiweißzerschlagung, eine Nuklease für Muskel- und Gewebekern¬ 
verdauung, eine Lipase für Fettspaltung, das dem im Speichel befindlichen gleiche Ptyalin 
für die Stärkeumwandlung. Die Fermente für die Eiweiß- und Fettverdauung sind nicht 
ersetzbar, wohl aber kann ein weitgehender Ersatz für das Ptyalin erfolgen. Für die 
Wirksamkeit der Pankreasdrüse ist nur die Intaktheit des Drüsenapparates wichtig, eine 
Abschlußhinderung des Saftes allein braucht keine Verdauungsstörung zu machen. Die 
Galle ist für uns weniger wichtig. Die gallensauren Salze aktivieren die Lipase, die 
halten Fettsäuren und Seifen in Lösung. Die Sekrektion der Galle ist kontinuierlich. 
Ihre Entleerung erfolgt reflektorisch, durch Berührung der Duodenalschleimhaut mit Fett 
und Albumosen. Bei Fehlen der Galle würde zwar die Spaltung der Fette gut sein, aber 
Fettsäuren und Seifen sind dann nicht gelöst, sie werden nicht resorbiert, umhüllen viel¬ 
mehr die Eiweißkörper und hindern deren Zerschlagung. Der Dünndarmsaft wird sezerniert 
infolge Berührung des Speisebreies mit der Schleimhaut. Auch ist wohl ein gewisser an¬ 
regender Einfluß des Pankreassaftes vorhanden. Eine Reihe von Fermenten in ihm sorgt 
für vollständige Zerschlagung der Eiweiße, Fette und Kohlehydrate. Eine gleichmäßig 
• neutrale Reaktion ist günstig zur Einwirkung der Pankreasfermente. Eine feine Ver¬ 
teilung des Speisebreies wird durch das Aufbrausen der Kohlensäure, mit der der Dünn¬ 
darmsaft gesättigt ist, erzielt. Die Beilegungen des Dünndarmes dienen teils der Er¬ 
leichterung der Resorption (Misch-, Pendelbewegung, Tonusschwankungen), teils zur Vorwärts¬ 
beförderung der Nahrung (Peristaltik, keine Antiperistaltik). Der Sphincter Ueocolicus 
sorgt für fakultativen Verschluß von oben nach unten, für einen festeren von unten nach 
oben. Durch letzteren wird eine Fortsetzung der Dickdarmgärung auf den Dünndarm 
gehindert. 

Über Lage, Form und Bewegung des Dickdarmes gibt uns das Röntgenverfahren Auf¬ 
schluß. Hier ist nur zu erwähnen, daß selbst erhebliche Schwankungen derselben nicht von 
funktioneller Bedeutung zu sein brauchen. Im Coecum und Colon ascendens finden Misch¬ 
bewegungen statt und dadurch eine Durcharbeitung des dickflüssigen Inhaltes. Zu dieser 
mechanischen Nachverdauung tritt eine bakterielle, besonders der Zellulose. Vom Quer¬ 
kolon an - ist die Bewegung eine rein peristaltische. Es scheint, daß auch ein schub¬ 
weises Abwärtsrücken der Kotsäule von Zeit zu Zeit erfolgt. Durch die Berührung der 
Kotsäule mit der Recturaschleimhaut tritt dann der VerdauungsVorgang, der uns schon 
im Coecum l\albbewußt geworden war, ganz an die Oberfläche des Bewußtseins. Jetzt 
wird Stuhldrang ausgelöst und durcli eine Verbindung der Tätigkeit von automatischen, 
Rückenmarks- und Hirnzentren erfolgt die Kotentleerung. 

Auch die Betrachtung der Resorption ist für die Beurteilung der Magendarmstörung 
wichtig. Im Magen werden bekanntlich nur Peptone, Albumosen und alkoholische Salz- 
und Zuckerlösungen resorbiert. Um so größer ist die Resorption im Dünndarm^ von 
wasserlöslichen Substanzen. Die Oberfläche des Dünndarmes wird durch die Lotten 
gewaltig vermehrt. Man hat den Menschen mit einer Pflanze verglichen, deren Wflrzeln 
das sind die Zotten — in ein halbflüssiges Erdreich tauchend dort ihre Nahrung 
suchen. Die Resorption sorgt für ständiges Aufräumen des Dünndarminhaltes; teils 
erfolgt sie durch Filtration, Diffusion, Osmose, teils durch eine besondere Trieb- oder 
Saugkraft der Epithelien. Die Intaktheit derselben ist daher für die Resorption wichtig. 
Eine Störung kann erfolgen durch Stauungen, Entzündungen, mechanische oder chemische 
Reizungen usw. Die Resorption der Kohlehydrate als Zucker ist über den ganzen Dünn¬ 
darm verteilt. Die Eiweißstoffe werden als Aminosäuren die Eiweißkemstoffe als Purinbasen 
resorbiert, die Resorption der Fettsäuren und Seifen erfolgt wie gesagt erst, nachdem 
sie durch gallensaure Salze in Lösung gebracht waren. Die Resorption im Dickdarm ist 
beschränkt, immerhin werden Zucker, Peptone, alkoholische und Salzlösungen in ziemlicher 
Menge resorbiert, das beweist die Aufnahmefähigkeit für Nährklistiere. — So wird fast 


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Die Funktion des Magendarms als Grundlage der Diagnostik. 


alles bei Gesunden und nicht za schlackenreicher Kost restlos resorbiert and es besteht 
der Kot fast nur aas Bakterien und Dannsekretresten. 

Unsere Kenntnis der Darmbakterien ist lückenhaft, aber doch ist das wenige für die 
Diagnostik wichtig. Die bakterizide Kraft des Speichels, die hemmende des Magensaftes, 
vor allem die bakterizide Kraft der gesunden Dünndarmschleimhaut, sorgen dafür, daß 
im ganzen Magendarmkanal, mit Ausnahme des Dickdarmes, eine Darmflora kaum zur 
Entwicklung kommt. Nur bei Schädigung einer der genannten Faktoren, besonders der 
bakteriziden Kraft der Dünndarmschleimhaut flammt die Flora auf. Im Dünndarm kann 
schon deshalb die Flora nicht zur Entwicklung kommen, weil ihr ständig die Nahrungs¬ 
stoffe durch die schnelle Passage und Kesorption entzogen werden. Auch mag eine 
gewisse Autosterilistation durch eine Toxinerzeugung der Bakterien erfolgen, welche 
hemmend auf die Weiterentwicklung der Darmflora wirkt. Im Dickdarm entwickelt sich 
^ie Darmflora in vollem Maße. Eine gutartige Eiweißfäulnis und eine Gärung der Kohle¬ 
hydrate, vor allem aber eine gründliche Verdauung der Zellulose sind die Folge. — Ein 
Drittel des Kotes besteht aus Bakterien. Vorherrschend ist ein Kolistamm, der in einer 
Art Symbiose mit dem Träger lebt, ferner einige obligate und ungezählte akzidentelle 
Bakterien. 

Aach für die Zerpflückung des Begriffes Darmstörung ist uns eine ständige 
Überlegung der pathologisch-physiologischen Vorgänge unentbehrlich. Die Prüfung 
einzelner Zeichen gibt uns an der Hand der Überlegung der Beziehungen der 
verschiedenen Funktionsgebiete eine Führung darüber, wo der Grundfehler liegt. 
So die Stuhluntersuchung , besonders in Verbindung mit Probekost und Gärungs¬ 
probe, die Röntgenuntersuchung. Unter diesen ist die einfachste uud zugleich 
wichtigste, aber trotzdem häufig versäumte, die Stuhlbeobachtung. Häufig genügt 
schon die makroskopische, man kann viel ersehen und unterscheiden aus Form, 
Masse, Farbe, Gebundenheit, Schleimgehalt, Nahrüngsmittelresten. 

Ich möchte deshalb für Ihre praktischen Bedürfnisse einige Beispiele erörtern, 
die sich an die Stuhlbeobachtung knüpfen; Verstopfung und Durchfall. Gewiß 
sind diese beiden Symptome als einheitlicher Krankheitsbegriff zu verwerfen. 
Immerhin ergibt sich häufig die Notwendigkeit, aus ihnen schon gewisse Schlüsse 
zu machen. 

Verstopfung. Zunächst kann hinter der Angabe des Patienten, er leide an 
Verstopfung, alles mögliche stecken, von der harmlosen zu großen Ausnutzung der 
Nahrung an bis zu den ernstesten Darmstörungen. Weitere diagnostische Schlüsse 
sind schon erlaubt, wenn sich durch die Untersuchung herausstellt, ob es sich um 
eine wirkliche Verminderung der Kotmenge handelt oder nur um Verminderung 
des Wassergehaltes, oder seltene Entleerung bei gleichen Kotmengen, oder endlich 
nur um Erschwerung der Kotabsetzung infolge eines fehlerhaften Arbeitens des 
untersten Darmabschnittes und des Defäkationsaktes, um byschezie. 

Die erstgenannte Art der Verstopfung, die zu große Ausnutzung der Nah¬ 
rung, sondert bekanntlich A. Schmidt als eigenen Krankheitsbegriff: chronisch 
habituelle Verstopfung. Als Ursache nimmt er eine konstitutionell gesteigerte 
Zelluloseverdauung durch zu starke Ferment- oder Bakterientätigkeit an; im 
Magen, Dünn- und Dickdarm. Eine verminderte Dünndarmperistaltik würde sich 
bei vermehrter Resorption von selbst ergeben. Diese Art der Verstopfung sei 
also ein eupeptischer Zustand, der zu einem dyspeptischen erst werde durch Ab¬ 
stumpfung des peristaltischen Reflexes, durch Reizung der Schleimhäute, infolge 
anhaftender fester Kotmassen oder infolge Mißbrauchs von Abführmitteln, durch 


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Determann 


Erschwerung der Kotentleerung mit seinen hypochondrischen Begleiterscheinungen, 
durch zahlreiche, sich hierauf bauende und gerade mit diesem Bilde der Ver¬ 
stopfung zusammenhängende neurasthenische Folgen. 

Dieser gewissermaßen primären Verstopfung stehen gegenüber die sekundären, 
die entstehen können zunächst infolge von Erschwerung oder Verhinderung des 
Durchganges , durch Stenose oder Verschluß des Darmes, infolge von Geschwüren 
Entzündungen, Verwachsungen, Verziehungen. — Sodann bieten eine Ursache für 
Verstopfung zweifellos die im Röntgenbild nachweisbaren Lage und Lumenver¬ 
änderungen des Dickdarms, wie die Coecum-Dilatation, das Coecum mobile, zu 
scharfe Knickungen an den Flexuren, Schlingen- und Schleifenbildung im Quer¬ 
colon und der Flexura sigmoida. Inwieweit alle diese Dinge nur begleitende, mit 
der Verstopfung gleichwertige Anzeichen desselben Grundleidens (Asthenie, Enterop- 
tose) sind, inwieweit sie die Verstopfung verursachen oder Folgen derselben sind, 
ist oft schwer zu unterscheiden. Ganz leugnen kann man ihre ursächliche Be¬ 
deutung nicht. — Weiterhin kommt als Ursache in Betracht der Krampf der 
Darmmuslculatur , besonders durch Reizung der hemmenden Darmnerven, des 
Splanchnicus, z. B. bei Bleivergiftung, bei Peritonitis, auch bei nervös-erregbaren 
Leuten in Form einer „abnormen nervösen Einstellung der Colon-, und Rectutn- 
peristaltik“ (Nothnagel). Der Umstand, daß der Dickdarm schon mit dem Bewußt¬ 
sein wieder reger verbunden ist wie der Dünndarm, macht auch die Verstopfung aus 
nervös-psychischen Ursachen erklärlich. Hierher gehören viele Formen sogenannter 
spastischer Verstopfung, hierher auch viele Dyschexieformen, besonders, wenn durch 
unzweckmäßige Gewohnheiten der Kotentleerungsmechanismus falsch eingeleitet ist. 
Auch sind hierher zu rechnen manche Formen verminderter Ansprechbarkeit der 
Dickdarmschleimhaut auf Reize, wie sie so häufig die Folge des Mißbrauchs von 
Abführmitteln ist. Endlich sind als sekundäre Verstopfungen anzusprechen die 
wirklichen Schwächexustände der Darmmuskulatur seniler und kachektischer Art, 
nach schweren Krankheiten, besonders des Darmes. 

Auch der Durchfall ist als einheitlicher Krankheitsbegriff selbstverständlich 
zu verwerfen. Einerseits ist er, wenn nur in den unteren Dickdarmteilen sich ab¬ 
spielend, oft ohne große Bedeutung, andererseits braucht auch bei schweren Darm¬ 
erkrankungen keineswegs Durchfall vorhanden sein. — Eine Beschleunigung der 
Dünndarmperistaltik als primäres Moment wird oft für wichtiger gehalten, als sie 
verdient. Auch eine primäre Störung der Resorption ist nicht so häufig, als man 
denken sollte. Meistens wird ja die Grundsubstanz des Durchfallsstuhles durch 
Ausscheidung von Flüssigkeit in das Darmlumen geliefert, denn die Resorption 
erledigt ihre Aufgabe auch bei Durchfall noch leidlich gut, wenn der Darminhalt 
gut abgebaut, also resorptionsfähig ist, weil die Epithelien der Schleimhaut sich 
wahrscheinlich auch in erkranktem Zustande in gewissem Grade dieser Aufgabe 
gewachsen erweisen, und weil die Länge des Dünndarms selbst bei Wegfall eines 
Teiles der resorptiven Oberfläche noch für eine leidlich vollständige Erfüllung der 
Resorption bürgt. Nur bei gewissen ernsten Veränderungen der Darmschleimhaut 
(Amyloid, schwere Katarrhe mit Schleimbelag) und des Lymphdrüsenappar&tes 
(Tabes mesaraica) sind primäre Resorptionsstörungen zu erwarten. 

Sind aber die Nahrungsstoffe, die in den Dünndarm treten, nicht genügend 
abgebaut, wie bei Achylie, oder werden sie, wie z. B. bei Pankreas- oder Gallen- 


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Die Funktion des Magendarms aU Grundlage der Diagnostik. 


221 


Störungen, nicht genügend weiterverdaut, so ist eine schlechtere Resorption und 
eine beschleunigte Dünndarmperistaltik nicht die Ursache , sondern die Folge der 
Funktionsstörung , da schlecht verdauter Danninhalt nicht resorbierbar ist und die 
Dünndarmwände chemisch oder mechanisch reizt. Aber nicht nur bei schlecht 
verdautem Darminhalt wird eine beschleunigte Dünndarmperistaltik einsetzen, 
sondern auch dann, wenn xu viel gutverdauten, also resorptionsfähigen Materials 
in der Zeiteinheit auf den Dünndarm einstürmt. Dann kann die Resorption nicht 
schnell genug nachkommen. In beiden Fällen ist eine vermehrte Dünndarm¬ 
peristaltik zweckmäßig insofern, als sie der Entwicklung einer Darmflora im Dünn¬ 
darm den Nährboden entzieht und diesen dem Dickdarm zur bakteriellen Nach¬ 
verdauung übergibt- Dieselbe ist dann auch im Dickdarm oft in hohem Grade ent¬ 
wickelt, sie bewirkt bei ernsten Störungen der Magen- oder Dünndarmverdauung 
eine noch einigermaßen genügende Ausnutzung der Nahrungsstoffe. So ist es auch 
häufig bei der Gärungsdgspcpsie, deren Ursache in einer konstitutionellen Schwäche 
der Zelluloseverdauung im Magen oder Darm liegen kann. Zwar haben sich 
in der jetzigen Zeit wohl die meisten Menschen an das Mehraiigebot von Zellu¬ 
lose durch Neueinstellung von Fermenten gewöhnt, jedoch sind die Fälle von 
Gährungsdyspepsie häufiger geworden. In einigen solcher Fälle fand sich bei der 
Röntgenuntersuchung eine außerordentlich schnelle Magenentleerung mit gleich¬ 
zeitigen sekretorischen Veränderungen. Ich möchte demnach annehmen, daß recht 
häufig die Schuld zu. vermehrter Gärung nicht so sehr Schuld des Darmes, als 
Schuld des Magens ist. Es wird dann in der Zeiteinheit zu viel gärungsfähiges 
Material auf einmal dem Darm überliefert. 

Es ist verständlich, daß durch Reizung der Darmwände eine selbstständige 
Dünndarm erkrankung entstehen kann mit Transsudation der Schleimhaut. Es 
erfolgt dann ein Auf flammen der Bakterienflora, denn die bakterizide Kraft der 
Schleimhaut ist jetzt vermindert, manche, die Bakterien vernichtende Fermente 
fallen weg, ein günstiger Nährboden ist im Transsudat vorhanden. Man hat viele 
Begleiterscheinungen bei Magendarmerkrankungen durch eine Vergiftung mit vom 
Magendarm ans resorbierten Stoffen zu erklären versucht; besonders bei gewissen 
mit Magendarmerscheinungen einhergehenden Erkrankungen, wie Magentetänie, 
Spasmophilie, gewissen Formen von Albuminurie, einigen mit Urtikaria und 
anderen Hauterscheinungen einhergehende Erkrankungen. Manches spricht für 
die Richtigkeit dieser Annahme, wenn auch die Gradmessung der giftigen Sub¬ 
stanzen in Urin und Stuhlgang bis jetzt nicht beweiskräftig und zum Teil nicht 
durchführbar war, und auch die Giftigkeit von besonders angeschuldigten Zerfall¬ 
produkten, z. B. Indol, Phenol, Azeton, in den kleinen in Betracht kommenden 
Mengen nicht einwandfrei erwiesen war. Eine ständige Autointoxikation vom 
Darm aus anzunehmen und dadurch eine Menge Begleiterscheinungen bei Ver¬ 
stopfungszuständen und leichten Katarrhen zu erklären, wie es in Metschnikoffs 
Spuren Combe tut, geht nicht an. 

Auch nervöse Durchfälle sind nicht selten. Jedenfalls ist anzunehmen, daß 
auch sie mit einer Transudation in das Dünn- oder Dickdarmlumen einhergehen 
So bei Erregungen, Schreck, Angst, bei der man, wie Ury sagt, „in den Darm 
hineinschwitzt“; so auch bei den Durchfällen gewisser funktioneller und or¬ 
ganischer Nervenkrankheiten (Migräne; Orises gastriques bei Tabes) vielleicht auch 


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Referate Aber Bacher und Aufsätze. 


bei den Durchfällen des Morbus Basedowii und des Morbus Addisonii, über deren 
Zustandekommen man im übrigen noch nichts Bestimmtes weiß. Auch sind in 
diesen Zusammenhängen die Durchfälle durch toxische Reixe und die anaphylakti¬ 
scher Art zu erwähnen^ bei denen die Resorption artfremder Stoffe zunächst be¬ 
sonders den Darm reizt. Die Darmstörungen sind dann als Teilerscheinungen 
der Erkrankung in gleiche Linie mit denen der äußeren Haut zu setzen. 

Nicht zu übersehen ist, daß bei vielen Dünndarmstörungen gar kein Durch¬ 
fall besteht, da der Dickdarm durch Eindickung oder gesteigerte Nachverdauung 
und Resorption des Darminhalts den Schaden auszugleichen sucht. Die Stuhlunter¬ 
suchung (Dünndarmschleim, schlechte Ausnutzung) wird die Diagnose klären. Oft 
aber auch entsteht durch die ständige Reizung mit zersetztem Inhalt ein Dick¬ 
darmkatarrh, der auch nach Abklingen der Dünndarmstörung oft lange Zeit selb¬ 
ständig weiter besteht. Viele Diarrhöen haben ja auch von vornherein ihre primäre 
Entstehung im Dickdarm (durch Mißbrauch mancher Abführmittel, durch verhär¬ 
tete Kotmassen), auch hierbei ist die Diagnose durch die Stuhluntersuchung leicht 
zu stellen. 

Meine Herren! Es konnte gemäß der Fassung meines Themas nicht meine 
Aufgabe sein, Ihnen auch nur einen Überblick über die Diagnostik des Magen¬ 
darmkanals zu geben. Ich mußte mich darauf beschränken, unter ständigen Hin¬ 
weis auf die Physiologie und pathologische Physiologie des Magendarms an 
einigen Beispielen darzutun, um wieviel sicherer die Diagnostik 6ich aufbaut bei 
funktioneller Betrachtungsweise, als wie bei bloßer erfahrungsgemäßer Überlegung. 


Referate über Bücher und Aufsätze. 


A. Diätetisches (Ernährungstherftpie). 

Heinshelmer (Baden-Baden), Kriegskost nnd 
Magenchemismus« Med. Klinik 1918. Nr. 12. j 
Während Verfasser in einer früheren Unter- i 
suchungsreihe bei magenkranken Soldaten in ! 
30 % Acbylie beziehungsweise Achlorhydrie j 
fand, weichen seine neueren Ergebnisse in ' 
dieser Beziehung erheblich ab. Bei 360 Sol- I 
daten mit Magenbeschwerden fand er in { 
34,7 % normale Salzsäure werte, in 20,2 °/ 0 Sub- j 
acidität, in 12,7 % Subacidität und in 32,2 % 
Ryperacidität. Das bedeutet eine erheb¬ 
liche Zunahme der hyperaciden Befunde und 
wird als Beweis dafür aufgefaßt, daß die 
Kriegskost bei zunehmender Dauer des Krieges 
auf den Magenchemismus mehr im Sinne der 
Heizung als im Sinne der Abschwächung der 
Drüsensekretion wirkt Von den 32 % Hyper- | 


aciden war übrigens die Mehrzahl nicht wirk¬ 
lich magenkrank, es handelte sich um Er¬ 
schöpfungszustände mit dyspeptischen Be¬ 
schwerden. W. Alexander (Berlin). 

E. Feer (Zürich), Über die Verwendung 
des Vollmehls in der Sängllngsernährnng 
nnd über das Vollbrot Im " allgemeinen. 

Korrespond. Blatt f. Schweiz. Ärzte. 1917. 
Nr. 52 

Auch die Schweiz läßt das Korn jetzt 
bis 87 °/ 0 ausmahlen (Deutschland jetzt bis 94 %, 
im Frieden oft nur bis 60—70 %). Das Voll¬ 
mehl bat Verfasser auch in der Säuglingsnah¬ 
rung angewandt, und zwar vom 3. Monat an. 
Gegeben wurde 5 g im Tag pro laufenden 
Lebensmonat, also im dritten Monat 15 g. 
Kinder mit ungestörter Ernährungsfunktion 
ertrugen das 80—87 %ige Vollmehl in gleicher 


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Referate über Bücher und Aufsätze. 


223 


Weise wie das Feinmehl. Aber auch bei er- 
nährungsgestörten Kindern, die das Mehl zur 
Frauen-, Butter-, Eiweiß-, Eiweißrahmmilch er¬ 
hielten, ergab sich kein Unterschied zwischen 
Feinmehl und Vollmehl, bei der Substitution 
des Feinmebls durch das Vollmehl trat keine 
Verschlechterung des Befindens und der Zu¬ 
nahme ein. Das Vollkornbrot wurde von Er¬ 
wachsenen gut vertragen mit Ausnahme von 
Schwerkranken und Magendarmleidenden. Das 
Vollmehl enthält mehr Asche und Phosphor, 
was vielleicht ein Vorteil ist. Die N-Aus- 
nutzung ist nach einiger Gewöhnung nicht 
viel schlechter als beim Feinmehl, trotz des 
größeren Zellulosegehalts. Die größere Kau¬ 
arbeit beim Vollkornbrot hält auch Verfasser 
für nützlich für die Zähne. Jap ha (Berlin). 


F. BIrkner und J. Deinlnger, Beiträge 
rar Zusammensetzung und Untersuchung 
von Fleisch und Fleischwurst. Chemiker- 
Ztg. 1918. S. 89. 

Die große Zahl von Wurstwaren, die 
wegen zu hoben Wassergehalts beanstandet 
werden mußten, gab den Verfassern Ver¬ 
anlassung zur Untersuchung der verschie¬ 
densten Wurstarten. 

Bei der Herstellung der Wurst kann zu 
drei Gelegenheiten ein Wasserzusatz er¬ 
folgen: 1. es wird dem körperwarmen Rind¬ 
fleisch Wasser zugefügt (frischgeschlachtetes, 
körperwarmes Fleisch vermag bis zu 100% 
Wasser aufzunehmen); 2. durch das Heraus- 
d eh men des Schweinefleisches aus der Salz¬ 
lösung, in die es vor der Verarbeitung zu 
Wurst gelegt wird, kann Wasser mit herüber¬ 
genommen werden; 8. wird der Wurstmasse 
vor dem Einfüllen in die Därme noch Wasser 
zugesetzt. 

Die sorgfältigen und zahlreichen Analysen 
der Verfasser ergaben non, daß diese reichliche 
Gelegenheit zu gewissenlosen Verfälschungen 
von vielen Fleischern gründlich ausgenützt 
wird. Als höchster Wassergehalt von Fleisch¬ 
wurst wurden 81,85% festgestellt! Die Aus¬ 
rede der Metzger, sie hätten im Kriege das 
fettreiche Schweinefleisch fortlassen müssen, 
ist keineswegs stichhaltig: „In dem Weglassen 
des Fettes bzw. fetten Schweinefleisches und 
der dadurch bedingten Herabsetzung des Nähr¬ 
wertes ist offensichtlich ein Vergehen gegen 
§ 10 des Nahrungsmittelgesetzes zu erblicken, 
da den Käufern unter der gleichen Bezeichnung 
wie früher ein Erzeugnis von anderer und 
zwar minderwertigerer Zusammensetzung an¬ 


geboten und verabfolgt wird. Der Mangel an 
Schweinefleisch kann keinen genügenden Ent¬ 
schuldigungsgrund bilden, da Wurstwaren, 
die früher stets einen entsprechenden Fett¬ 
gehalt aufwiesen, auch während der Kriegs¬ 
zeit keinesfalls unter Verschweigung des Um¬ 
standes, daß kein Fett mehr zugesetzt sei, 
unter der gleichen Bezeichnung wie früher 
und um den gleichen Preis, wie von reellen 
Metzgern mit Fettzusatz hergestellte Wurst¬ 
waren, hätten verkauft werden dürfen. Als 
weiter erschwerend käme noch in Betracht, 
daß auch die Preise für die sonst handels¬ 
übliche Ware, den jeweiligen Verhältnissen 
entsprechend, mehrmals erhöht wurden. tt 

Walter Briegcr (Berlin). 


B. Hydro-, Balneo- and Klim&to- 
therapie. 

R. Eisenmenger, Der hydrostatische Bruck 
als therapeutische Komponente des Bades. 

Ther. d. Gegenwart 1918. April. 

Das Wasser übt auf die Fläche des einge¬ 
tauchten Körpers einen hydrostatischen Druck 
aus, der allein von der Höhe der Wassersäule und 
des spezifischen Gewichts abhängig ist Ver¬ 
fasser berechnet den Druck auf die etwa 1% qm 
große Körperfläche eines bis zum Halse im 
Wasser stehenden Menschen auf 1125 kg. 
Wenn wir auch infolge der gleichmäßigen 
Verteilung des Druckes auf eine relativ große 
Fläche nicht die Empfindung eines so starken 
Druckes haben, so kann doch eine so intensive 
mechanische Einwirkung kein indifferentes 
Agens für unseren Organismus sein. 

Man kann nun diesen Drack willkürlich 
verändern, indem man entweder den Körper 
durch eine mechanische Vorrichtung mehr oder 
weniger tief eintaucht oder bei ruhendem 
Körper den Wasserspiegel durch Zu- oder Ab¬ 
fluß senkt oder hebt. Für beide Vorrichtungen 
werden Modelle angegeben. Die physiologische 
Wirkung eines solchen „Wasserdruckbades“ 
auf Zirkulation und Respiration ist eine große. 
Während des Anstieges des Wassers wird 
der Bauch und die untere Thoraxpartie gleich¬ 
mäßig komprimiert, die Ausatmung erleichtert 
und verstärkt, beim Sinken des Wassers wird 
durch Wegfall der Belastung (auch des Zwerch¬ 
felles!) die Einatmung erleichtert. Vor den 
bekannten „Atmungsstühlen“ hat dies Verfahren 
den Vorteil, daß hier zugleich auf Bauch und 
Zwerchfell intensiv eingewirkt und so die 


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224 


Referate über Bücher und Aufsätze. 


großen Gefäße ausgedrückt werden, wodurch 
der Rückfluß des Blutes nach dem Herzen be¬ 
günstigt wird. 

Aus diesen physiologischen Eigenschaften 
des Verfahrens.ergeben sich klinisch folgende 
Indikationen: 

Magendarm-Atonie, Obstipation, Stau¬ 
ungen im Pfortaderkreislauf, Stauungsleber, 
Hämorrhoiden. 

2. Chronische Herzmuskelinsufflzienz, Herz¬ 
neurosen. 

3. Chron. Bronchitis, Emphysem, Asthma 
bronchiale, gastrische Krisen {? Ref.). 

4. Chron. Erkrankungen der Nieren, Milz, 
Pankreas 

Gegenanzeigen bilden entzündliche 
geschwürige Prozesse, Blutungen aller Art, 
Aneurysma, Arteriosklerose stärkeren Grades, 
besonders der Hirngefäße. 

Die Hydrotherapie soll künftig außer der 
Temperatur, der Dauer, dem mechanischen 
Reiz und individuellen Verhältnissen auch den 
Wasserdruck mit in Betracht ziehen. 

W. Alexander (Berlin). 


Ferd« Scheminzky, Die Emanation des 
Wassers* W. kl. Rundschau 1918. Nr. 1/2. 

„1. Emanationswellen aller Art wirken 
analog den Lichtwellen, zersetzend auf die 
photographische Platte ein. Aus diesem Grunde 
kann die photographische Methode zum exakten 
Nachweise der Emanation herangezogen 
werden. 2. Die verschiedenen Wasserarten 
zeigen auch eine verschiedene Aktivität. Von 
allen scheint das Tümpelwasser bei gleicher 
Belichtungszeit die stärkste, destilliertes 
Wasser die schwächste Aktivität zu haben. 

3. Die Polarisation ist eine Tatsache, mit der j 
man rechnen muß. 4. Der längere Einfluß 
von Emanationswellen des Wassers, von 
Erzen usw.. ruft im Nervensystem eine Über¬ 
reizung hervor, die zu gesundheitlichen Schä¬ 
digungen, bei Hochsensitiven sogar zu Krank¬ 
heiten führt. 5. Es ergibt sich daraus die 
Lehre, die Schlafstellen durch einen Ruten¬ 
gänger untersuchen zu lassen. 6. Die Tiefen* 
bestimmüng mit der Rute kann durch mathe¬ 
matische Behandlung der empirischen Ruten¬ 
befunde genau durchgeführt werden. 7. Ema¬ 
nationsphotographien reagieren auf das si- 
derische Pendel. 8. Die Emanation kann 
nichts Materielles sein. 9. Es bleibt nur die 
Annahme der Wellenform übrig, die durch 
viele Tatsachen gestiizt wird.* 

L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). | 


C. Elektro-, Lieht- and Röntgen- 
ther&pie. 

B* Hirsch feid (Charlottenbnrg), Bemer¬ 
kungen zur Therapie der hysterischen 
Taubheit« Med. Klinik 1917. Nr. 33. 

Bei Lähmungen auf hysterischer Grundlage 
bringt man durch elektrische Reizung vom 
Nerven ans die Extremität zur sichtbaren Be¬ 
wegung; dadurch wird in dem Kranken die 
Vorstellung erweckt, daß er das Glied wieder 
bewegen kann. Durch anschließende Verbal¬ 
suggestion wird gewöhnlich schnelle Heilung 
erzielt. Dasselbe Prinzip hat Verfasser bei 
Blindheit durch den galvanischen Lichtblitz 
mit gutem Erfolg angewandt. Durch Kathoden¬ 
schluß entsteht bei Aufsetzen der kleineren 
Kathode hinter dem Ohr schon bei mäßigem 
Strom ein Klang. Dieses galvanische Hör¬ 
phänomen hat Verfasser als Angelpunkt für 
die Suggestionbebandlung hysterisch Ertaubter 
mit Erfolg ausgenutzt. Der Kranke gab sofort 
an, den Klang zu hören und war nach wenigen 
weiteren Sitzungen geheilt. (Siehe auch diese 
Zeitschrift 1918, Februar.) 

W. Alexander (Berlin). 


D. Verschiedenes. 

Fr« Engelmann, Gefahren und Verhütung der 
Erkältungskrankheiten, insbesondere bei 
Kleidungs-, Schuh- und Kohlenknappheit. 

München, Verlag von Otto Gmelin. 

Als 41. Heft der Sammlung „Der Arzt als 
Erzieher“ wird obige Arbeit von einem Kollegen, 
der im Felde steht, veröffentlicht, um der Be¬ 
völkerung ln der Heimat das Frösteln fürs Vater¬ 
land zu erleichtern. Manche Kapitel über das 
Problem der Erkältung,und die experimentellen 
Versuche des Autors werden auch vom Arzt 
mit Interesse und Nutzen gelesen werden. Ver¬ 
fasser kommt zu dem Schluß, daß die Erkältungs¬ 
krankheiten der verschiedenen Organe auf kalte 
und besonders naßkalte Füße zurückzuführen 
sind, welche eine ungleiche Blutverteilung im 
Körper bedingen und dadurch seine Abwehr¬ 
kräfte schwächen. Er bespricht Heizung und 
Lüftung der Wohnung, Behandlung des Schuh¬ 
werks und als bestes Mittel gegen kalte Füße, 
deren Bewegung. Das Heftchen endet mit einem 
Merkblatt von 20 Sentenzen, in welchen ra¬ 
tionelles Denken und ärztliches Judizium sich 
harmonisch verbinden. 

Bl i tat ein (Berlin-Wilmersdorf). 


W. Büxenstein Druckerei und Deutscher Verlag G. m. b. H., Berlin SW. 48. 


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Hochzuverehrender Herr Geheimrat! 


Durch freundliche Unterstützung des Redaktionsvertreters und anderer 
Kollegen in der Heimat und durch das Entgegenkommen des Verlegers ist es mir 
gelungen; Arbeiten der meisten Ihrer früheren Schüler zu einer bescheidenen 
Festschrift zu vereinigen. Die Mitarbeit zahlreicher im Felde stehender Autoren, 
die Überwindung mannigfacher, durch den Krieg bedingter Schwierigkeiten möge 
Ihnen zeigen, wie stark der Wunsch war, dem verehrten Lehrer und Meister eine 
Geburtstagsgabe zu überreichen, die ihn erfreuen soll. Nehmen Sie dieselbe ent¬ 
gegen als ein äußeres Zeichen der Dankbarkeit, die wir alle Dinen schulden. 

Unser Wunsch aber sei: 


In multos annos! 


W. Alexander, 

z. Z. im Felde. 


Zeitaehr. f. pbyuik. n. diät. Therapie lkl. XXII. Heft S D. 


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Widmung. 

Geheimrat Professor A. Goldscheider vollendet am 4. August 1918 sein 60. Lebens¬ 
jahr und die Mitherausgeber dieser Zeitschrift schicken sich an, dieses Ereignis durch 
eine Festnummer zu feieipi, um in Gemeinschaft mit seinen Schülern ihre Verehrung für 
ihn kundzutun. 

Die physikalische Therapie stand in Deutschland unter glücklichem Stern, indem 
sich führende Kliniker ihrer angenommen haben. Während die Bestrebungen namhafter 
Vertreter der physikalischen Therapie in anderen Ländern durch Jahrzehnte gegen offenen 
und versteckten Widerstand zu kämpfen hatten, stellten, sich in Deutschland v. Leyden 
und Goldscheider an die Spitze der Bewegung und sicherten sich durch die Gründung 
unserer Zeitschrift und durch die Herausgabe der zwei großen Handbücher der diäteti¬ 
schen und physikalischen Therapie mit eine führende Stellung nicht nur für die Länder 
deutscher Zunge, sondern für die ganze Welt. 

Goldscheiders Anteil beschränkt sich weitaus nicht auf die Führung im Großen, 
ihm verdanken wir eine Reihe von Arbeiten, die uns dem Verständnis der komplizierten 
Wirkungen physikalischer Reize näher brachten. In dem herrlichen Vortrage: .,Über die 
physiologischen Grundlagen der physikalischen Therapie“ findet jeder Arzt, jeder Physio¬ 
therapeut eine Fülle von Aufklärung; der großartige Aufbau und die Beweisführung in 
dem Vortrage müssen auch jeden Biologen und zünftigen Experimentalpathologen in hohem 
Maße befriedigen und anregen. 

Schon unter den ersten Arbeiten Goldscheiders sind die ersten Steine zum 
späteren prächtigen Bau zu finden. Seine Untersuchungen über die Hautsinnesnerven (1885), 
über den Temperatursinn (1886), dessen Topographie (1887) und Reaktionszeit (1888), 
weiter die Versuche über die Einwirkung der Kohlensäure auf die Hautnerven (1887) 
ergaben vielfache Aufklärung der Wirkungen thermischer Einflüsse, die Arbeiten über den 
Muskelsinn und die Theorie der Ataxie (1888), über die Wahrnehmung passiver Bewe¬ 
gungen (1887), über den Muskelsinn (1889) und über die Empfindlichkeit der Gelenk¬ 
enden (1889/90) dienten nicht nur der richtigen Wertung verschiedener Symptome bei 
schweren Erkrankungen des Zentralnervensystems, sondern auch dem wissenschaftlichen 
Ausbau der Übnngstherapie derselben Krankheiten. 

In einer Unzahl von Arbeiten übertrug dan^ der Kliniker Goldscheider die vom 
Physiologen und Experimentator Goldscheider gefundenen Tatsachen in die Praxis, 
unermüdlich tätig, jede Gelegenheit, selbst während der mühseligen Tätigkeit im Kriegs¬ 
gebiete benützend, spendet er die Früchte seiner großartigen Veranlagung und seines 
Fleißes, und Generationen von Ärzten werden ihm Dank wissen. 

Wir beschränken uns darauf, nur das hervorragende Verdienst Goldscheiders um 
die Lehren hervorzuheben, deren Propagation unserer Zeitschrift obliegt, seine sonstigen 
großen Verdienste um die klinische Diagnostik und die klinische Forschung überhaupt 
werden sicher an geeigneter Stelle Würdigung erfahren. 

Wir haben das innige Bedürfnis, heute zu betonen, daß wir Goldscheiders 
profunde Weisheit in der Erfassung der Dinge bewundern, daß wir ihn als leuchtendes 
Beispiel für die Ärzte schätzen, deren Erziehung für Forschung und Praxis teilweise uns 
anvertraut ist, und daß wir in ihm den genialen Führer verehren, der durch seine Art 
zu arbeiten zu diesem Amte mehr berufen ist, als irgend ein anderer. 

Es möge uns das Glück beschieden sein, uns seiner Arbeit noch viele Jahre zu 
erfreuen. 


L. Brieger. A. Strasser. 


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Inhaltsverzeichnis 


A. Physikalische Therapie. 

L. Brieger, Einige hydrotherapeutische Winke für die Praxis. 

H. Guggenheimer, Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms und der Polycythämie. 

H. Hirschfeld, Zur Prognose und Röntgentherapie der lymphatischen Leukämie. 

A. Laqueur, Praktische Bemerkungen zur Diathermiebehandlung. 

E. Schlesinger, Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des Rektumkarzinoms. 

B. Nervenkrankheiten. 

W. Alexander, Über Polyneuritis (ambulatoria) mit Diplegia facialis. 

Kretschmer, Zwei neurologische Fälle. 

K. Krön er, Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an der Front. 

K. Singer, Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen. 

E. Tobias, Über Brachialgien und ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur „Neuralgies- 
Diagnose. 

E Wolff, Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris und der Kauda equina. 

C. Innere Krankheiten. 

v. Golz, Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen Lungentuberkulose im 
Invalidenrentenverfahren. 

E. Herzfeld, Über Puls- und Blutdruckuntersuchungen bei Kriegsteilnehmern. 

H. Schirokauer, Die klinische Bewertung der Plethysmographie bei Herzkrankheiten. 

P. Schrumpf, Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose und Be¬ 
handlung). 

D. Yerdauungs-, Stoffwechsel- and Konstitutionskrankheilen. 

M. Ehrenreich, Die Heilung der habituellen Ctuhlträgheit durch Trinkkuren in Kurorten. 

R. Ehrmann, Über Akromegaloidismus und zur Theorie der inneren Sekretion. 

H. Gcrhai^tz, Über die Beziehungen zwischen Wasser- und Kochsalzretention. Zur Theorie der 
Ödcmbildung durch Salzzufuhr. 

E. Steinitz, Über den Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf den Harnsäuregehalt des Blutes 
und die Verwertung der Beobachtungen für die Gichttherapie. 

E. Infektionskrankheiten. 

U. Friedemann, über zwei eigenartige Fälle von Infektion der Ösophagus- und Magen¬ 
schleimhaut. 

Hoefer, Serumtherapie bei Fleckfieber. 

E. Mosler, Die Beziehungen des Wolhynischen Fiebers zu anderen Krankheiten. 

A. Strasser, Malariarezidiv und Heilung. 

Walterhöf er, Über infektiöse Lebererkrankungen. 


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Original -Arbeiten. 


A. Physikalische Therapie. 

i. 

Einige hydrotherapeutische Winke für die Praxis. 

Aus der hydrotherapeutischen Anstalt der Universität Berlin. 

Von 

L. Brieger. 

Meine Tätigkeit in der hydrotherapeutischen Anstalt der Universität Berlin 
und in der Anstalt der Zentralkommission der Krankenkassen Berlins gibt mir 
Gelegenheit, auf einige hydrotherapeutische Begriffe einzugehen, die meiner Meinung 
nach zu wenig beachtet werden. 

Man vergißt, daß gerade die Hydrotherapie als symptomatische Heilmittel¬ 
methode mit mechanischen und thermischen Reizen arbeitet und daß diese Reize 
in bezug auf ihre Stärke und Dauer abgestimmt werden müssen, um je nach In¬ 
dikation beruhigend oder erregend zu wirken. Es besteht eben in dieser exacten 
Dosierung die Kunst der Hydrotherapeutik und ich finde, daß in den meisten 
Lehrbüchern auf diese feine Nuancierung der Maßnahmen zu wenig Rücksicht 
genommen wird. 

Die wichtigsten Erkrankungen des Bewegungsapparates, an den speziell in 
der jetzigen Zeit mehr als sonst größere Anforderungen gestellt werden und der 
stärker als in Friedenszeiten den schädigenden Einflüssen der Witterung ausgesetzt 
ist, sind die verschiedensten Arten der Arthritiden, mögen sie nun idiopathischer 
oder sekundärer Natur sein. 

Wie bei so manchen anderen pathologischen Prozessen, spielt bei den in 
Frage kommenden arthritischen Erscheinungen im Heilplan das Hyperämisieren 
eine große Rolle. 

Statt nun zuerst durch derartige Prozeduren die lokalen Blutzirkulations- 
Verhältnisse in den Gelenken zu verbessern, kann man leider sehr oft sehen, wie 
die Behandlung derartiger lokaler oder universeller Arthritiden mit Gymnastik und 
Massage sofort einsetzt, wobei die Popularität der Massage als Panacee für alle 
möglichen Leiden die Ausführung der Verordnungen begünstigt. 

Wiederholt findet man, daß auch die Bedeutung allgemeinerWärmeeinwirkungen 
als Anregung der Stoffwechselvorgänge nicht genügend geschätzt wird, auch in 
solchen Fällen, die mit Harnstoffablagerungen und postinfektiösen Gelenkerkran¬ 
kungen nichts zu tun haben. Daher werden wir stets bei diesen Erkrankungen, 
sowie Arthropathien infolge Nervenkrankheiten und Trauma, von vornherein auf 


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L. Brieger 


entsprechende Hyperämisierung und Stoffwechselanregung der zirkumskripten 
leidenden Teile oder des ganzen Körpers Wert legen. 

Neben den allgemeinen Prozeduren, wie Vollbädern, Schwitzbädern usw. kommt 
für die Anstaltspraxis wohl am meisten die lokale Anwendung der Hitze in 
Gestalt des Dampfstrahles, der Heißluft und des Fön neben Sandsäcken und 
Kompressen, erregenden Umschlägen sowie Schlammpackungen usw. in Betracht. 
Niemals darf nach Anwendung eines dieser Heilfaktoren die Abkühlung aus- 
bleiben, geschehe sie nun in Form eines zum Schlüsse abgekühlten Vollbades, 
eines Halbbades, einer kalten, öfter gewechselten Kompresse oder Longuette oder 
flüchtigen kalten Waschung. Eine Dusche ist nur dann am Platze, wenn kein 
Rezidiv zu befürchten ist und außerdem dieselbe als Abhärtung dienen soll. 

Sehr oft kommen die Patienten nach den ersten Prozeduren, denen eine 
Verschlimmerung gewöhnlich folgt, mit Klagen über unerträgliche Schmerzen und 
versuchen, durch ihre Bitten andere Applikationen zu erlangen. Es ist von größter 
Wichtigkeit, in solchem Falle standhaft zu bleiben und die Kranken auf die stets 
eintretende Verschlimmerung in den ersten Tagen als günstiges Zeichen einer bald 
einsetzenden Heilung aufmerksam zu machen. 

Speziell für den praktischen Arzt, der nicht über eine größere Anstalt verfügt, 
kommen die lokalen Heißluftbäder in Betracht, für deren Anwendung die Technik 
verschiedene Modifikationen erfunden hat. Sie werden vor allem in der Landpraxis, 
bei den häufig vorkommenden Verstauchungen, Brüchen und örtlich beschränkten 
Rheumatismen Verwendung finden. Weil gerade bei diesen lokalen Heißluftbäderu 
die Hyperämisierung sich nicht in die tieferen Schichten erstreckt, kommt sehr oft eine 
intensivere Wirkung, als ursprünglich beabsichtigt war, zustande und der Effekt 
ist dann eine recht unangenehme Verbrennung, nicht nur der Epithelschicht, sondern 
auch der tiefer gelegenen Hautpartien, an die sich dann sehr oft Gangrän, resp. 
Erysipel, oder Phlegmone anschließt. 

Es ist daher bei empfindlichen Patienten auf intensiven Schutz der Haut 
durch darüber gelegte Mullstreifen usw. Wert zu legen und sofort, wenn der Patient 
über Brennen in den betreffenden Teilen klagt, mit der Heißluftbehandlung aufzu¬ 
hören. Vor allem möchte ich warnen, bei schlecht ernährten Individuen mit dünner, 
glanzloser Haut, oder bei solchen, deren in Betracht kommende Extremitäten schon 
vorher durch eine Operatioh in bezug auf Nerven oder Blutgefäße geschädigt 
wurden, lokale Heißluftbäder ohne genügende Vorsicht anzuwenden. Ich ziehe in 
all diesen Fällen die Dampfbehandlung als leichter kontrollierbar vor. 

An die Fälle, bei denen die Heißluftbehandlung durch Rückenmarkserkran¬ 
kungen, kontraindiziert ist, brauche ich wohl nicht zu erinnern. 

Wie von unseren Anstalten aus immer und immer wieder betont wird, können 
die Bogenlicht-Scheinwerfer, da sie einer intensiveren Wirkung ermangeln, Hei߬ 
luftbäder nicht ersetzen und kommen wohl nur als Ersatz für Dampfstrahl bei 
Leuten mit nicht ganz intaktem Herzen in Betracht, vielleicht auch bei - einigen 
Fällen von oberflächlichem Muskelrheumatismus. 

Da bei allen heißen Prozeduren viel Wasser durch den Schweiß verloren.geht, 
empfiehlt es sich, die Patienten stets gewisse Quanten Wasser vorher trinken zu 
lassen, um den Verlust auszugleichen und die Nieren nicht mit Schlacken zu über¬ 
lasten. 


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Einige hydrotherapeutische Winke für die Praxis. 


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Was nun die Kohlensäurebäder betrifft, so sind sie beinahe Allgemeingut 
des leidenden Volkes geworden und man wird von den P^ienten direkt in den 
meisten Fällen um Verschreibung derartiger Bäder gebeten. Im 22. Bd. Heft 1 
d. Z. macht der Wiener Kliniker Wenckebach darauf aufmerksam, daß man ganz 
wahllos alle Herzkranken mit Kohlensäurebädern behandelt und stellt dem entgegen, 
daß nur unter ganz bestimmten Bedingungen dieselben zu verabfolgen sind, daß 
aber insbesondere die Hydrotherapie, wobei er nicht auf Details eingeht, uns aus¬ 
gezeichnete Dienste in dieser Hinsicht leistet. In Übereinstimmung hiermit bezeich¬ 
nen Nauheimer Ärzte, w’ieJul. Hoffmann und Ludw r . Pöhlmann 1 ), die Wirkung 
der Hydrotherapie als oft verblüffend besonders bei den Fällen mit erregten 
Aktionstyp. 

Ich selbst habe 2 ) auseinandergesetzt, daß bei den Herzkranken Schonung und 
Übung stark auseinander zu halten sind und gerade in den hydrotherapeutischen 
Maßnahmen uns eine ganze Menge eigenartig wirkender Heilmittel zur Verfügung 
stehen. Die Kohlensäurebäder sind nur im Stadium des Überganges von Schonung 
zur Übung anzuw r enden. Daneben kommt, im Anschluß und für sich selbst, noch 
Mechanotherapie in Gestalt von Förderungs- und Selbsthemmungsbewegungen, 
maschinell oder manuell, letztere im Sinne von Max Herz und A. Schott aus¬ 
geführt, in Betracht. 

Ebenso wichtig ist es auch, die Indikation bei Sauerstoff- und sinusoidalen 
Bädern schärfer ins Auge zu fassen. Hierüber habe ich von meinen Mitarbeitern 
verschiedene Male Fingerzeige geben lassen. 

Den Vorteil der Blutdruckherabsetzung, verbunden mit weniger erregender 
Wirkung auf das Nervensystem, weisen die Sauerstoffbäder auf, die besonders im 
Klimakterium beider Geschlechter am Platze sind. Bei Sauerstoffbädern kommt 
die Einatmung des Sauerstoffes zustatten, die entschieden der Verbrennung von 
Kohlehydraten förderlich ist. Wir haben oft in der hydrotherapeutischen Anstalt 
der Universität beobachtet, daß bei Diabetikern mit Neigung zu Lungengangrän 
durch solche Sauerstoffbäder der Prozeß zurückging, w 7 as wohl durch die erhöhte 
Aufnahme von Sauerstoff durch Einatmung zu erklären ist. 

Die Temperaturherabsetzung bei Kohlensäure- und Sauerstoffbädern hat nur 
langsam zu erfolgen und es ist streng darauf zu achten, daß bei den Patienten 
keine unangenhmen Kälteerscheinungen von seiten der Haut, Schüttelfrost usw. 
auftreten. 

Sehr oft wird man von den Kranken um Verabreichung von Lohtannin- und 
ähnlichen aromatischen Bädern gebeten. Wenn diesen Bädern ein physikalischer 
Einfluß wohl nur durch ihre Wärme zukommt, so wirken sie doch auch suggestiv 
auf das allgemeine Befinden ein. Man kann deshalb unter Umständen bei nicht 
zu Ekzem- neigender Haut konzentriertere Lösungen der erwähnten Stoffe ver¬ 
wenden, zu deren Herstellung sich unter den Apothekern und Drogisten usw. in 
letzter Zeit ein reger Wetteifer entwickelt hat. 

Wenn auch bei der Behandlung von Infektionskrankheiten die Bäder¬ 
therapie Allgemeingut ist, so sind doch ebenso Packungen, kühlende Umschläge 
Longuetten, in der Praxis bei den erwähnten Krankheiten zu wenig bekannt. Die- 

*) Die Gymnastik der Herzleidenden. S. 13. Verlag von Franz Stein. München. 

*) Med. Klinik 1912, Nr. 17. 


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L. Brieger, Einige hydrotherapeutische Winke für die Praxis. 


selben können die Bäder nicht nur vertreten, sondern sind auch nicht mit solchen 
Unbequemlichkeiten verbunden, wie eine Bäderbehandlung und kommen daher den 
Bedümissen des praktischen Arztes, speziell des Landarztes, in vorteilhaftester 
Weise entgegen. 

Daß bei Scharlach z. B. Packungen hervorragende Dienste tun, habe ich 
bei der Besprechung der Behandlung der Infektionskrankeiten durch Hydrotherapie 
eingehend erwähnt. Ich möchte hier noch hervorheben, daß die kühle Longuetten- 
behandlung an Stelle des Dämpfstrahls und der Heißluft bei fieberhaftem akutem 
und subakutem Gelenkrheumatismus in Betracht zu ziehen ist. In vielen dieser 
Fälle ist' die Heißbehandlung direkt als schädlich zu bezeichnen. 

Es würde zu weit führen, näher auf die verschiedenen hydrotherapeutischen 
Maßnahmen bei Infektionskrankheiten einzugehen. Aber einer Infektionskrankheit 
möchte ich hier doch noch gedenken, die momentan im Mittelpunkt des Interesses 
steht, nämlich der Malaria. 

. Abgesehen davon, daß wir in der Milzdusche ein harmloseres und prompteres 
Mittel haben, als es die Injektion verschiedener Seren, Höhensonne usw. sind, 
um zur Diagnose resp. zur Therapie frische Anfälle hervorzurufen, besitzen wir 
in den hydrotherapeutischen Maßnahmen wichtige Mittel, der Malaria-Kachexie zu 
begegnen und auch den Folgeerscheinungen von Malaria, wie Neuralgie, Leber¬ 
und Herzkrankheiten, in Verbindung mit angemessenen Dosen Chinin, beizukommen. 
Es sollten daher nicht, wie man es jetzt häufig sieht, nur wahllos große Dosen 
von Chinin gegeben werden, sondern es empfiehlt sich, den Stoffwechsel durch ge¬ 
eignete hydrotherapeutische Maßnahmen zu heben, bevor die Chininbehandlung 
oder- eine andere Therapie in schonender Weise Platz greift. 

Sehr oft versprechen sich Lungenkranke, speziell Tuberkulöse, von der 
Wasserheilkunde Heilung. Es kann sich aber in solchem Falle nur um allgemeine 
roborierende Maßnahmen, auch Abhärtungsverfahren, handeln. Auch tragen 
kurze Dampfduschen zur Erleichterung der Expektoration der Phthisiker bei. Der 
Lungenprozeß wird aber in keiner Weise durch derartige Prozeduren beeinflußt. 
Dagegen möchte ich in allen Fällen von Pleuritis auf den wohltätigen Einfluß der 
Bestrahlung und der Dampfdusche hinweisen. Bei trockener Pleuritis und pleu- 
ritischer Schwarte ist der Dampfstrahl am Platze, während Exsudate öfters durch 
rotes Glühlicht zurückgehen. 

Was hydrotherapeutische Maßnahmen bei den Erkrankungen des Magen- 
und Darmkanals betrifft, so möchte ich vor allem auf die günstigen Erfolge 
protrahierter Sitzbäder bei hartnäckigen Diarrhöen hinweisen, eine Tatsache, die 
noch viel zu wenig bei chronischen Dysenterien berücksichtigt wird. Es ist hier¬ 
bei zu betonen, daß geschwürige Prozesse keine Kontraindikation bilden, sondern 
daß dieselben im Gegenteil durch solche Sitzbäder günstig beeinflußt werden. 
Hierbei kommen auch die erregenden Umschläge, die auch Nachts appliziert 
werden können, in Betracht. Eine derartige Behandlung schließt eine medika¬ 
mentöse Therapie, nicht aus. Auch die Anwendung der Dampfdusche bei Chole¬ 
zystitiden tut zur Bekämpfung der Schmerzen und der entzündlichen Prozesse gute 
Dienste. 

Ferner ist die von mir empfohlene Anwendung des hochgespannten Dampfes 
bei allen Fällen von torpiden Geschwüren, nekrotischen Prozessen der Haut, jauchen- 


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B. Gnggenheimer, Zur Röntgentherapie des malignen Granaloins a. d. Polycythämie. 233 


den Wunden, verhinderter Sequesterlösung, sowie bei Furunkulose und Karbunkeln 
hier zu erwähnen. Der therapeutische Effekt des Dampfstrahls bei jauchenden 
Wunden wird direkt als ein „augenfälliger“ von Krelinger in der Münchener 
Medizinischen Wochenschrift Nr. 12 bezeichnet. 

Mit den Mitteilungen dieser Beobachtungen begnüge ich mich einstweilen 
und werde später noch Gelegenheit haben, an anderer Stelle auf weitere praktisch 
wichtige Maßnahmen der Hydrotherapie und deren detaillierte Anwendung zu¬ 
rückzukommen. 


II. 

Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms 
und der Polycythämie. 

Aus dem medizinisch-poliklinischen Institut der Universität Berlin. 

(Direktor: Geh. MecL-Rat Prof. Goldscheider.) 

Von 

Dr. Hans Gnggenheimer, Assistent. 

Wenn die Behandlung von Blutkrankheiten mit Röntgenstrahlen bisher in 
ihren Endresultaten auch nicht das gehalten hat, was die z. B. bei chronisch 
myeloischer Leukämie auffällig günstigen ersten Beobachtungen versprachen, so 
dürfen wir trotzdem bereits jetzt diese physikalische Behandlungsmethode als ein 
neues sehr wirksames Hilfsmittel in der Therapie der Blutkrankheiten begrüßen. 
Bei bestimmten Formen der Leukämie lassen sich immerhin mittels Röntgen¬ 
bestrahlung, wenn auch schließlich das tödliche Rezidiv auf die Dauer noch nicht 
gebannt werden konnte, zeitweilige Besserungen erzielen, wie sie mit keiner 
anderen Methode auch nur annähernd zu erreichen sind. 

Die Erfahrungen über den Erfolg der Röntgenbehandlung bei den früher unter 
dem Namen Pseudoleukämie bezeichneten Krankheiten sind nicht gleichmäßig. 
Es wird uns das heute um so weniger verwundern, als wir immer mehr gelernt 
haben, in dieser ganz inhomogenen Gruppe die verschiedenartigsten Krankheits¬ 
bilder abzugrenzen. 

Ein histologisch wohlcharakterisiertes Krankheitsbild stellt das maligne 
Granulom dar (Lymphogranulom, Hodgkinsche Krankheit). Ist es im 
fortgeschrittenen Stadium schon zu generalisierten symmetrischen harten Drüsen¬ 
schwellungen, Milztumor, Anämie und Kachexie gekommen, so ist auch das kli¬ 
nische Bild für den Erfahrenen unverkennbar. Größeren Schwierigkeiten kann 
die Differentialdiagnose gegenüber ähnlichen Krankheitsbildern begegnen, so lange 
das Aufangsstadium mit noch bisweilen einseitig lokalisierten Lymphdriisentumoren 
besteht. Da eine bereits in der ersten Zeit einsetzende Behandlung natürlich viel 
größere Heilungsaussichten bietet, sollte man viel häufiger in zweifelhaften Fällen 


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Hans Guggenheimer 


die Probeexzision einer Lymphdrüse vornehmen, weil die histologische Unter¬ 
suchung die Entscheidung zu bringen vermag. 

Schon aus der Bezeichnung „malignes“ Granulom geht hervor, daß es sich 
um ein im allgemeinen wenig beeinflußbares Leiden handelt. Nägeli 1 ) berechnet 
den durchschnittlichen Krankheitsverlauf auf 2 bis 3 Jahre. Es kommen aber 
auch langsamer verlaufende und zu Remissionen neigende Fälle vor. Die Arsen¬ 
behandlung versagt gewöhnlich, nur mit Arsacetin sah Nägeli vereinzelt eine 
auffällige Besserung. , 

Die Ansichten über den Wert der Röntgentherapie sind noch geteilt. Während 
Nägeli nur bescheidene Erfolge gesehen hat, führt Ziegler 2 ) an, daß die Be¬ 
einflussung mancher Fälle geradezu eine frappierende war. Bei dem ständigen 
Fortschreiten der Röntgentechnik, der von den einzelnen Autoren oft ganz ver¬ 
schiedenartig gewählten Dosierung und verwendeten Strahlenart, wird es noch 
weiterer Erfahrung bedürfen, bis wir uns ein einigermaßen sicheres Urteil bilden 
können. Auch werden sich mit der Zeit wohl noch gewisse Kriterien gewinnen 
lassen, um von vornherein einen Fall zur Bestrahlung als geeignet oder ungeeignet 
zu erkennen. Einstweilen kann bereits soviel behauptet werden, daß unter ständiger 
klinischer Kontrolle in sachgemäßer Hand die Röntgentherapie bei malignen 
Granulom ganz nennenswerte Erfolge aufzuweisen hat. 

Ich möchte in aller Kürze einige Daten aus den Krankengeschichten zweier 
Fälle mitteilen, deren Behandlungsdauer allerdings noch kein abschließendes Urteil 
zuläßt. Immerhin dürfte uns das schon jetzt erzielte Resultat dazu aufforderu. 
auch weiterhin die Röntgentherapie bei Lymphogranulomatosis an erster 
Stelle zu berücksichtigen. 

1. Frau Angnste H., 54 Jahre alt, leidet schon seit mindestens 4 Jahren an 
multiplen symmetrischen Lymphdrüsenschwellungen, die allmählich zu recht beträchtlichen 
Drüsenpaketen an allen der Betastung zugänglichen Stellen angewachsen sind. Besonders 
an der rechten Halsseite und in der rechten Achselgegend erreichten einzelne Drüsen- 
tumoren bis Tanbeneigröße. Es bestand periodisch auftretendes Fieber, ein großer, 
ziemlich derber Milztumor, handbreit den Rippenbogen überragend, beiderseits auch rönt- 
geologisch nachgewiesene starke Schwellung der Bronchial- und Lungenhilusdrüsen. Ab¬ 
magerung, kachektisches Aussehen, lästiger Prurigo, Schweißausbrüche, Dyspnoe nach 
leichten Anstrengungen. 

Blutbild: 55°/ ft Hämoglobin (Sahli), 3,5 Millionen rote, 15500 weiße Blutkörperchen. 
•81°/ 0 neutrophile, 1% eosinophile Leukozyten, 7% kleine, 11 °/ 0 große Lymphozyten 
und Übergangsformen. 

Die histologische Untersuchung einer exstirpierten Drüse bestätigte die Diagnose 
malignes Granulom. 

Schon vor 2 Jahren war eine Arsenkur erfolglos vorgenommen worden. Auch 
20 subkutane Injektionen von Natrium kakodylicum (Juli bis September 1917) konnten 
ein weiteres Fortschreiten des Krankheitsprozesses nicht aufhalten. Ich riet der Patientin 
deshalb zur Röntgenbestrahlung, die Mitte Oktober 1917 vom Königl. Universitätsinstitut 
für Lichtbehandlung (Dr. Blumenthal) übernommen wurde. 

Im Verlauf von etwa 6 Monaten wurden bisher in 18 Sitzungen 24 Felder 
bestrahlt, entsprechend den nachgewiesenen Drüsenschwellungen. Die Bestrahlungsdauer 
betrug für jede Sitzung 7 Minuten. Verwendet wurde Müller-Röhre in 22 cm Ent- 

') Blutkrankheiten und Blutdiagnostik. Leipzig, II. Aufl. 

' *) Granulierende Pseudoleukämien usw. Kraus & Brugsch. Berlin-Wien. Band VIII. 
Lieferung 48—53. 


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Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms und der Polycytbämie. 


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fernung, 30 cm Funkenstrecke, 4 mm Filter, 5 Holzknechteinheiten. Schon nach einigen 
Wochen fühlte sich die Patientin bedeutend wohler, sie war nicht mehr so leicht erschöpft, 
Schlaf und Appetit kehrten zurück. Der starke Juckreiz hatte ganz aufgehört, die Drüsen¬ 
schwellungen verkleinerten sich zusehends. Nach Ablauf eines halben Jahres sind 
die mächtigen Drüsenpakete an beiden Halsseiten und in den Leistenbeugen 
bis auf einige erbsengroße Drüsen zurückgegangen. Nur in der rechten 
Achselhöhle ist noch eine etwa walnußgroße Drüse tastbar. Auch die Bronchialdrüsen¬ 
pakete haben sich verkleinert, die Milz überragt nur noch fingerbreit den Rippenbogen. 

Blutbild (5.6.18): 60°/ 0 Hämoglobin, 3,7 Millionen rote, 8500 weiße Blut¬ 

körperchen. 79% neutrophile, l°/ 0 eosinophile Leukozyten, 12% kleine, 8°/ 0 große 
Lymphozyten und Übergangszellen. Patientin ist seit mehreren Monaten wieder arbeitsfähig. 

2. Frau Paula M., 58 Jahre, ist seit 1% Jahren wegen Tumorbildung an der 
linken Halsseite schon vielfach in ärztlicher Behandlung gewesen. Man riet zur Operation, 
die abfr abgelehnt wurde. Ständige Gewichtsabnahme, großes Schwächegefühl, Btarke 
Schweiße, Schlaflosigkeit, quälender Prurigo. 

Blaßgelbe kachektiscbe Hautfarbe, leichte Cyanose. Großes, derbes Lymphdrüsen- 
paket in der linken Snpraklavikulargegend, mit der Haut nicht verwachsen, einzelne Drüsen¬ 
tumoren voneinander abgrenzbar. Auch an der rechten Halsseite, in beiden Achselhöhlen 
und Leistenbeugen kleinere bis pflaumengroße Drüsen. Bronchialdrüsen röntgeologisch 
beiderseits beträchtlich vergrößert. Milz bis zwei Querfinger breit unter dem Rippen¬ 
bogen etwas konsistenter wie normal. Wassermann negativ, Probeexzision verweigert. 

Blutbild: 6O°/ 0 Hämoglobin (Sahli), 7000 weiße Blutkörperchen, 74°/ 0 neutrophile, 
1 % eosinophile Leukozyten, 14°/ 0 kleine, 11% große Lymphozyten und Übergangsformen. 

Nach dem generalisierten Auftreten der Drüsenschwellung, dem vorhandenen Milz¬ 
tumor, der Kachexie und Anämie war die Diagnose malignes Granulom mit größter 
Wahrscheinlichkeit zu stellen. 

Die vorgeschlagene Bestrahlung wurde Ende Oktober von Dr. Bucky eingeleitet. 
Jede Bestrahlungsperiode umfaßte 3 Sitzungen von 15 Minuten Dauer, in jeder Sitzung 
wurde ein Drüsenfeld bestrahlt, zunächst linke Halsseite, Sternum (Bronchialdrüsen!) 
und Milz. Coolidge-Röhre, % Erythem-Dosen, 12 bis 13 Wehnelt, 3 mm Aluminiumfilter. 

Schon nach der ersten Bestrahlungsserie fühlten sich die linken Hals¬ 
drüsen ganz erweicht an. Nach der zweiten Bestrahlungsperiode Mitte 
November 1917 waren sie fast vollkommen eingeschmolzen. Subjektiv bereits 
nach 2 Wochen erhebliche Besserung der Schlaflosigkeit, des Juckreizes und der Ab- 
geschlagenheit. 

Die Röntgenbehandlung erfuhr nun zunächst Mitte Dezember eine Unterbrechung, 
da ein ausgedehntes Herpes-Exanthem im Bereich der rechten Lumbalwurzeln auftrat, 
begleitet von leichtem Fieber und neuralgischen Schmerzen. Unter Chinin, Salyzil- 
präparaten und Wärmebehandlung Abheilung innerhalb 4 Wochen. Mitte Februar 
3. Bestrahlungsperiode. 

Ende April 1918 sind an der linken Halsseite überhaupt keine Drüsen 
mehr tastbar, in der rechten Supraklavikulargrube und rechten Achselhöhle 2 wallnus¬ 
große Drüsen, die Milz ist unter dem Rippenbogen eben fühlbar. Patientin hat an 
Gewicht 5 Pfund zugenommen, die früheren Beschwerden sind ganz zurückgegangen. 

Blutbild: 90% Hämoglobin, 4300 weiße Blutkörperchen, 81% neutrophile, 1% 
eosinophile, 1% Leukozyten, 16% kleine, 2% große Lymphozyten und Übergangszellen. 

Ob mit dem bisher erzielten Erfolg ein definitiver Stillstand des Krankheit s- 
prozesses erreicht ist, bleibt noch abzuwarten. Jedenfalls sind in beiden 
Fällen Allgemeinbefinden und Drüsentumoren so günstig beeinflußt, 
wie man es auf andere Weise kaum zu Wege bringt. 

Ich möchte auf Einzelheiten des Blutbefundes nicht näher eingehen. Es sei 
nur kurz erwähnt, daß im ersten Falle die vermehrte Zahl der Leukozyten auf 
die Hälfte vermindert wurde, in beiden Fällen namentlich bei der zweiten Patientin 


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Hans Guggt'.nheimer 


die vorher konstatierte Vermehrung der großen Lymphozyten und Übergangs¬ 
zeiten einen Rückgang erfuhr. Bei dieser Patientin stieg auch der Hämoglobin¬ 
gehalt nach der Bestrahlung beträchtlich an, was stets ein guter Indikator für die 
richtige Dosierung der Röntgenstrahlen ist. Bei diesem Fall setzte die Rückbildung 
der Drüsentumoren ganz überraschend schnell bereits nach der ersten Bestrahlungs¬ 
serie ein, während es bei der ersten Patientin häufigerer Sitzungen bedurfte. 

Die Verschiedenartigkeit in der Beeinflußbarkeit mag nach H. Hirschfeld 1 ) 
darin begründet sein, daß im Anfangsstadium, wo die Drüsenschwellung vor¬ 
nehmlich aus jungem proliferierendem Granulationsgewebe besteht, leichter eine 
Reaktion zu erzielen ist, wie im späteren Stadium mit zum Teil schon ausgebildeter 
bindegewebiger Induration. Allerdings gehörte auch mein erster Fall mit mindestens 
4 Jahre langer Krankheitsdauer und mehrfacher erfolgloser Arsenbehandlung%ereits 
einem späteren Stadium des Krankheitsprozesses an. Trotzdem erwies es sich 
noch einer konsequent durchgeführten Bestrahlung zugänglich. Es soll- aber nicht 
bestritten werden, daß es Fälle gibt, bei denen die Drüsentumoren gegenüber der 
Röntgentherapie recht resistent sind. Ob dabei die Strahlentechnik eine Rolle 
spielt, muß dahingestellt bleiben. 

Einen Monat nach der zweiten Bestrahlungsserie trat bei der zweiten Patientin 
in einem der Bestrahlung ganz fernen Nervenwurzelgebiet ein ausgedehnter Herpes- 
Ausschlag auf. Es sind keine sicheren Anhaltspunkte dafür vorhanden, diese Kom¬ 
plikation mit der Röntgenbehandlung in Zusammenhang zu bringen. 

Eine Kontrolle des Allgemeinbefindens, des Verhaltens der Drüsentumoren 
und des Blutbildes ist in jedem Falle notwendig, um die Behandlung nicht zu 
frühzeitig abzubrechen, event. nach einer größeren Pause wieder aufzunehmen. 
Betreffs Einzelheiten der empfelilenswertesten Technik werden wir noch Erfahrung 
sammeln müssen. 

Einstweilen ist soviel zu sagen, daß man auch ziemlich kachektische Patienten 
ganz erheblich bessern kann, sie wieder arbeitsfähig macht und selbst große 
Drüsentumoren zum Verschwinden bringt. Offenbar werden bei ausgebildetem 
Krankheitsprozeß aus den Krankheitsherden toxische Substanzen abgeschieden, die 
die bekannten Allgemeinsymptome, wie Kachexie, Fieber, Schweiße, Prurigo u. a. 
machen. Mit der Zerstörung der verschiedenen Granulationszentren durch die 
Röntgenbestrahlung kann der Organismus oft auffallend rasch von den so überaus 
schwächenden toxischen Produkten befreit werden, selbst wenn die noch unbekannte 
causa morbi nicht ganz beseitigt wird. 

Ist also auch die Frage der Dauererfolge noch nicht spruchreif, so 
gehört dennoch bei dem sonst unaufhaltsamen fortschreitenden Cha¬ 
rakter der Krankheit die Röntgentherapie des malignen Granuloms 
häufig zu den dankenswerten Aufgaben in der Behandlung der Er¬ 
krankungen des hämatopoetischen Systems. 

Bei einer anderen Erkrankung der blutbildenden Organe, der Polycythämie 
(Vaquezsche Krankheit) sind die bisherigen Erfahrungen über Strahlentherapie 
viel spärlicher. Hauptsächlich französische Autoren haben bisher versucht, das 


’) Therapie der Gegenwart. Juli 1914. 


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Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms und der Polycythitmie. 


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Krankheitsbild durch Bestrahlung des Milztumors günstig zu beeinflussen. Die 
Erfolge waren zum Teil negativ, zum Teil nur vorübergehender Natur. Der Milz¬ 
tumor verkleinerte sich zwar, das Blutbild erfuhr aber keine nennenswerte Ver¬ 
änderung. Nach unseren theoretischen Anschauungen über die Pathogenese dieser 
Blutkrankheit konnte von einem derartigen Vorgehen auch kaum Ersprießliches 
erwartet werden. Wir kannten die Milz bisher vorwiegend von ihrer Funktion 
als Blutzerstörungsorgan. Daneben bestehen allerdings noch andere regulatorische 
Beziehungen zwischen Milz und Knochenmark, insofern z. B. nach Exstirpation 
der Milz eine starke Neubildung von roten Blutkörperchen beobachtet wird 
(H. Hirschfeld 1 ). Bei der echten primären Polycythämie sind aber die Ver¬ 
änderungen der Milz, wie jetzt wohl allgemein angenommen wird, sekundärer Natur, 
der Milztumor ist vorwiegend ein spodogener. ■ 

Die Veränderung in der Blutzusammensetzung findet vielmehr ihre Erklärung 
in einer primären Schädigung der blutbereitenden Organe, einer Funk¬ 
tionssteigerung der erythroplastischen Knoohenmarkselemente. Wenn 
damit auch noch keine volle Klarheit über die letzte Ursache besteht, die dieser 
Hyperplasie zugrunde liegt, so mußte doch der Weg aussichtsvoll erscheinen, die 
Polycythämie durch Herabsetzung der Funktion des Knochenmarks 
zu beeinflussen. 

Diese Absicht verfolgte Lüdin 2 ), indem er bei einem Fall von Polycythämie 
bei dem übrigens trotz 3 >/ 2 jährigen Bestehens der Krankheit ein Milztumor fehlte, 
unter Schonung der Milz auf sämtliche Knochen der oberen und unteren Extremitäten 
des Beckens, der Wirbelsäule, der Schulterblätter, des Brustbeins und der Rippen 
hohe Röntgendosen einwirken ließ. Es wurden in 7 Wochen unter Verwendung 
harter gefilterter Strahlen 94 Volldosen nach Sabouraud verabreicht. Die Zahl 
der Erytrozyten verminderte sich darauf von 6,7 Millionen auf 5,1 Millionen, der 
Hämoglobinw’ert von 135° /0 auf 105°/ 0 , die weißen Blutkörperchen von 10 500 
auf 4410. Noch 5 Monate nach Aussetzen der Bestrahlung hielt dieser Rückgang 
zur Norm an. Die anfangs im Blut vorhandenen Mastzellen und Myelozyten ver¬ 
schwenden. Das Allgemeinbefinden der Patientin besserte sich soweit, daß sie 
bald nach der Behandlung das Krankenhaus verließ, um wieder ihrer früheren 
Arbeit nachzugehen. 

Dieses günstige Resultat veranlaßte mich, bei einer jugendlichen Patientin 
mit so erheblicher Polycythämie, daß sie ihre berufliche Tätigkeit einschränken 
mußte, ebenfalls diese Art der Strahlentherapie in Anwendung zu bringen. Da 
der Fall auch sonst namentlich hinsichtlich seiner Genese bemerkenswert erscheint, 
soll die Krankengeschichte etwas ausführlicher mitgeteilt w r erden. 

Fränlein Mathilde A., 29 Jahre alt, Kontoristin, war Blntspenderin für eine 
Transfusion bei Ihrer Mntter, die schon mehrere Jahre an einer schweren Blutkrankheit 
litt, an der sie auch dann starb. (Die Diagnose soll Leukämie gelautet haben.) Am 
2. Dezember 1914 worden ihr zn diesem Zwecke große Mengen Blnt abgelassen, sie 
wurde dabei ohnmächtig, war längere Zeit schwach und elend, kam deshalb ein halbes 
Jahr aufs Land zur Erholung. Nach dieser Zeit trat allmählich bei ihr eine auffällige 
Röte im Gesicht auf, die immer weiter zunahm. Dazu gesellten Bich Kopfschmerzen, 


') Die Splenomegalien. Kraus & Bragsch. Band VIII. Lieferung 48 - 53. 
s ) Ztschr. f. klin. Med. Band 85. 


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238 


Hans Guggenheimer 


Schwindelanfälle, Ohrensausen, Flimmern vor den Angen, starke Schweißansbr&che nach 
geringen Anstrengungen. Seit 1% Jahren schon in ärztlicher Behandlung. Allmählich 
machte sich auch starkes Druckgefdhl in der Milzgegend bemerkbar, Herzbeklemmungen, 
eingenommener Kopf, so daß sie ihrer Beschäftigung nicht mehr richtig nachkommen 
konnte. Nach einer Zahnextraktion 3 Tage lang anhaltendes heftiges Nasenbluten, 
Menses alle 3 Wochen, 8 Tage anhaltend, sehr stark und schmerzhaft. 

Status 26.6.1917: Graziler K'örperbau, mäßiger Ernährungszustand, Gewicht 
118 Pfund. Auffallende Böte des Gesichts, Schleimhäute purpurrot, Hände bläulichrot. 
Blutdruck 130 mm Hg. Milz 3 Querfinger breit den Rippenbogen fiberragend, derb und 
bei Betasten schmerzhaft, Leber nicht deutlich vergrößert, Urin frei, Wassermann 
negativ, Biustbein und Rippen druckempfindlich. 

Blutbild: Hämoglobin (Sahli) 140%, Erythrozyten 8,4 Millionen, weiße Blut¬ 
körperchen 6000, keine pathologischen Formen. 

Resistenzbestimmung der Erythrozyten: Beginn der Hämolyse bei 0,45%iger, voll¬ 
ständige Hämolyse bei 0,2% Kochsalzlösung. 

Behandlung mit Sauerstoffinhalationen hat nur vorübergehende subjektive Besserung 
zur Folge. 

August 1917 auf Urlaub in Köln: Es werden 5 Röntgenbestrahlungen der 
Milz vorgenommen, danach keine Veränderung des Befindens. 

25. 9. 1917. Blutbild: Hämoglobin 130%, 7,1 Millionen rote, 5500 weiße Blut¬ 
körperchen. 

20. 10. 1917. Beginn mit der Röntgenbestrahlung der kurzen platten Knochen, 
die Privatdozent Dr. Warnekros (Königl. Univ.-Frauenklinik) so freundlich war, zu 
übernehmen. Es wurden jeden Tag 4 Felder eine halbe Stunde lang bestrahlt, im ganzen 
3 Wochen hintereinander. Dabei waren Brustbein, Schulterblätter, Becken und Kreuzbein 
in 28 Felder eingeteilt. Verwendet wurde Müllersche Siederöhre, Belastung 2 bis 3 M.-A., 
11 Wehnelt, Zinkfilter 0,5. 

8. 11. 1917. Patientin ffihlt sich matt, hat 10 Pfund an Gewicht abgenommen. 
Kopf ist nicht mehr so stark eingenommen, verstärkte Knochenschmerzen. Haut- und 
Schleimhäute sind bedeutend besser geworden. Leber vergrößert und druckempfindlich, 
Milz unverändert, ebenfalls sehr schmerzhaft. 

Blutbild: 80% Hämoglobin, 3,8 Millionen rote, 5000 weiße Blutkörperchen. 
Anisocytose, Poikilocytose, Polychromasie, zahlreiche Normoblasten, keine pathologischen 
weißen Blutkörperchen (80% neutrophile, 1% eosinophile, 16% kleine, 3% große 
Lymphozyten). 

17. 11. 1917. Profuse Menses schon seit 8 Tagen stärker wie je, subikterische 
Verfärbung namentlich im Gesicht, im Urin Urobilin f f, Hämoglobin 65%. Patientin 
fühlt sich durch den Blutverlust sehr elend, weitere Gewichtsabnahme bis auf 95 Pfund. 

21. 11. 1917., Nach 2 subkutanen Injektionen von Corpus luteum Extrakt 
(Freund u. Redlich) steht die Blutung. Noch heftige Knochenschmerzen. 

13. 2. 1918. Nach 3 monatlicher Erholung im Elternhaus stellt sich Patientin 
wieder vor. Noch etwas Herzklopfen, Atemnot und eingenommener Kopf ganz ver¬ 
schwunden. Fühlt sich jetzt bedeutend wohler, nur stören häufigere Wallungen, die 
schnell wieder abklingen und einen ganz anderen Charakter hätten wie früher, von 
Schweißausbrüchen begleitet. Da die Menses seit November nicht mehr aufgetreten, 
vermutlich ovarielle Ausfallserscheinungen. 

Gewicht wieder 105 Pfund, Aussehen eher etwas blaß, Milz noch vergrößert, 
aber auffallend weich. 

Blutbild: 90% Hämoglobin, 3,8 Millionen rote, 3400 weiße Blutkörperchen, 
Hyperchromie. Außer einigen Poikilozyten und Mikrozyten keine pathologischen Formen. 

2. 4. 1918. Seit 3 Monaten wieder im Bureau tätig, nur noch 5 bis 6 mal 
täglich anftretende Kongestion nach dem Kopf. Patientin gibt zu, daß die Beschwerden im 
Vergleich zu den vor der Bestrahlung vorhandenen ganz gering sind. Amenorrhoe anhaltend. 

Normale Hautfarbe, Knochen kaum mehr druckempfindlich. Milz jetzt nicht 
mehr tastbar, Blutdruck 130 mm Hd. 


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Zur Röntgentherapie des malignen Granuloms und der Polycythämie. 


239 


Blntbild: 100°/ 0 Hämoglobin, 4,7 Millionen rote, 4400 weiße Blutkörperchen, 
keine pathologischen Formen. 

6. 5. 1918. Blutbild: lOO°/ 0 Hämoglobin, 4,4 Millionen rote, 4000 weiße Blut¬ 
körperchen. 73 % neutrophile, 1 °/ 0 eosinophile Leukozyten, 22°/ 0 kleine, 4°/ 0 große 
Lymphozyten. 

Es handelte sich also um einen Fall von Polycythämie mit recht beträchtlicher 
Erhöhung des Hämoglobingehalts und der Zahl der Erythrozyten. Die Entwicklung 
der Krankheit muß hier wohl mit einem ausgiebigen Aderlaß im Zusammenhang 
gebracht werden, der bei der Patientin zum Zwecke einer Transfusion bei der eben¬ 
falls blutkranken Mutter (Leukämie) vorgenommen wurde. Nach einem halben Jahre 
stellen sich bei der durch die Blutentziehung zunächst sehr geschwächten Patienten 
die ersten Beschwerden ein, die allmählich im Laufe von 2 Jahren sich zu den 
fiir Polycythämie charakteristischen Symptomen steigerten. 

Eine starke Blutneubildung nach Aderlaß ist ja in gewissen Grenzen ein 
physiologischer Vorgang. Nach Weigerts Untersuchung reagiert der Organismus 
bei Defekten gesetzmäßig nicht nur mit dem Ersatz des verloren Gegangenen, 
sondern gerne mit einer Überproduktion. So haben wir uns nach Knochenbrüchen, 
die häufig ganz unverhältnismäßig starke Kallusbildung zu erklären, ähnlich 
schießt nach der Ehrlichschen Seitenkettentheorie die Körperzelle mit dem Ersatz 
ihrer geschädigten Rezeptoren über das Ziel hinaus. 

Diese Funktionssteigerung der blutbildenden Organe ist allerdings unter 
normalen Verhältnissen nur vorübergehender Natur. Für die Entwicklung einer 
dauernden Hyperplasie mußten in unserem Falle besondere Umstände eine Rolle 
spielen, über die wir nichts Bestimmtes aussagen können. Möglich, daß hier 
eine familiäre Belastung im Sinne einer Disposition zu abnormer Re¬ 
aktion des hämatopoetischen Systems vorlag, da ja auch die Mutter 
an einer schweren Blutkrankheit litt. 

Die Röntgenbehandlung erfolgte mit sehr hohen Dosen harter, gefilterter 
Strahlen im kurzen Zeitraum. Entsprechend der Hauptbildungsstätte der roten 
Blutkörperchen beschränkte sich die Bestrahlung auf die kurzen und platten Knochen. 
Die Reaktion war zunächst eine sehr starke. Der Hämoglobin wert sank von 130 °/ 0 
auf 80°/ 0 , die Zahl der roten Blutkörperchen von 7,1 Miß. auf 3,8 Mill. Daneben 
wurde auch das Allgemeinbefinden ziemlich stark mitgenommen, w T enn auch die 
für Polycythämie spezifischen Beschwerden bald aufhörten. Erst allmählich er¬ 
holte sich die Patientin von der Nachwirkung der energischen Bestrahlung. 

Heute, 7 Monate nach Aussetzen der Röntgentherapie, zeigt sie ein 
normales Blutbild: 100 °/ 0 Hämoglobin, 4,4 Millionen rote Blutkörperchen. 

Bemerkenswert ist das Verhalten des Milztumors. Einige Monate 
nach der Bestrahlung w r urde er zunächst auffällig weich, um schließlich 
ganz zu verschwunden. Auch hierin darf ein Zeichen erblickt werden, daß 
sich die für die Entstehung des Milztumors verantwortlichen pathologischen Ver¬ 
hältnisse geändert haben. 

Patientin ist ihre früheren unerträglichen Beschwerden ganz los, arbeitet 
schon seit Monaten w ieder in ihrem Bureau. 

Es soll noch erwähnt werden, daß eine Amenorrhoe zurückgeblieben ist, 
wahrscheinlich infolge zu starker Röntgenbestrahlung der Ovarialgegend. Damit 


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240 


Hans Hirschfeld 


sind auch gewisse als Ausfallserscheinungen zu deutende SjTnptome in Zusammen¬ 
hang zu bringen. 

Es wurde also in diesem Falle durch Verabreichung ganz beträcht¬ 
licher Strahlenmengen bisher ein erfreuliches Resultat erzielt, wenn 
auch zunächst eine unerwünscht starke Reaktion aufgetreten war. Bei 
weiteren Fällen wird man aus diesem Grunde gut tun, die Technik hinsichtlich 
der Dosierung etwas zu modifizieren, auch wird man die Bestrahlung der Becken¬ 
knochen mit Rücksicht auf die Nachbarschaft der Keimorgane lieber etwas weniger 
intensiv gestalten. Immerhin ermuntert das erreichte Resultat dazu, bei den bis¬ 
her therapeutisch kaum erfolgreich angreifbaren primären Polycythämien die Röntgen¬ 
therapie noch weiter auszubauen. 


III. 

Zur Prognose und Röntgentherapie der lymphatischen Leukämie. 

(Aus dem Universitätsinstitut für Krebsforschung an der Kgl. Charite in Berlin.) 

Von 

Dr. Hans Hirschfeld, 

Berlin. 

Obwohl die Röntgenbehandlung der Leukämien längst zu dem eisernen Rüst¬ 
zeug unseres therapeutischen Arsenals gehört, sind doch die Akten über so manche 
diesbezügliche Fragen noch nicht geschlossen. Einen ganz bedeutenden Fortschritt 
bedeutet zweifellos auch für die Behandlung der Leukämien und der übrigen 
geschwulstartigen Erkrankungen des hämopoetischen Apparates die moderne Tiefen¬ 
therapie mit ganz harten Strahlen. Während ich früher unter sehr zahlreichen 
in meine Beobachtung gekommenen Fällen, die von den verschiedensten Röntgenologen 
behandelt worden waren, doch recht oft Versager gesehen habe, wo auch nicht 
der geringste günstige Einfluß auf das Blutbild, die Organschwellungen und den 
Kräftezustand festzustellen war, kenne ich, seitdem ich das Material des Berliner 
Krebsinstituts beobachte, wo lediglich die moderne Tiefenbestrahlung zur Anwendung 
kommt, keine refraktären Fälle bei Leukämien und leukämieartigen Erkrankungen 
mehl'. Allerdings verhindern auch die weitgehendsten Remissionen leider nicht 
das Wiederauftreten ^>n Rezidiven. Das gilt besonders von der myeloischen 
Leukämie, die wir fast immer trotz anfänglicher glänzender Erfolge rezidivieren 
und dann zum Teil recht schnell tödlich enden sehen. Doch behandeln wir seit 
3 Jahren einen solchen Patienten, der im Zustand ziemlicher Kachexie, mit großem 
Milztumor und sehr starken Blut Veränderungen zu uns kam, der schon auf die 
erste Bestrahlungsserie sehr günstig reagierte und seitdem alle viertel Jahr zur 
Bestrahlung zu uns kommt, voll arbeitsfähig ist, und zeitweise keinen fühlbaren 
Milztumor mit fast normalen Blutbefund hat. 




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Zttr Prognose nMii Röntgentherapie der lymphatischen L<-uk 3 tm> 


Flpsorukrs bcmtwkoHytveri ymHyineu inir dhvResultate in innig 1 ««: Füllen von 
dironiscJiw lymphatischer Loukäinis*. Im allgcMeineu gilt die •LnUi'e, daß lympby tisdtf 
Leukämien nieht so Uitehlmltlg za heeiMlusswu sind, als myehtkehe, tveil mau' nur 
ehu* Di'UHefli'egion fluch »kr anderen ixstvabkn kann und die erstbestrahltcn 
Drftsewegionen sieh hinget wieder erhalt hüben, wenn die letzten an die Heilte 
k"t>u.!i* n. während es hei der myeloischen Leukäiöje nieisl gouogt. nns die Milz 
zd-bestrahlen. .Wir vvrföfcoü «her über ehuge Falle von lymphatischer Letiküntie, 
die itngcviühnlirh gut. Auf die Renig» rthelrafl«ihtng: reagiert hüben. Der eine der* 
scThun ist ein Rt» jähriger PhshUise!, der r»ut mnitjpkn • Lymfdikftotsnsehwelifliigtnt 
rattl einem deutlichen Milztuomr und einer Leukuzyt.enzahJ von POUOOi* sowie U> 
(echt elendem 4%emeinznstnnd in Behandlung trat. Er ist jetzt seit, -j i/,, .fahren 
tmunterbroch?« arbeitsfähig und hat bei tu OOO Leukozyten nur -tu v' ft Lymphozyten. 
Allerdings handelt es sieh liier affenbar um einen .begiimendeö leichteren Fall, der 
zurzeit des Beginns der Behänd Jung wohl »och .nicht; lange bestgmka hatte. Noch 
eklatanter aber ist der Erfolg in einem Andere« alten vm’gmduittewn Fall, der 
jetzt bereits 7 Jahre besteht, und zuerst-. vor zwei Jahren, im Marz !Op; 'bestrahlt 
wurde, als die Krankheit bereits ö Jahre bestand. Kr ist besonders dadur- h 
ausgezeichnet. daß durch die KümcenMnindlinip auch eine, -sehr entstellende 
b ukünüsrbe HfltirhthHratiou Je*. tlvsirhu-s völlig beseitigt wurdet, ist. Wegen dieser 
Iktotarfektinn habe i<:5» den Patienten am 3Ä.Februar PÖ10 in dnr R, »Ät-dMies-dlsrbiift 
vorgeBtellt. t.Siehe t h’giiialiiHikei ju dek B- hl. W. 19tß, Nr.! 4 p 


Der 57 Jahre alte Patkjilhat vor II Jahirer« <dnen Hnfge'hlag gegen den iinken 
Unterschenkel erlitte« und ciae kouipUzisrfa Fraktur .tkfcs'fclfee» davongeirage«, an die sich 
langwierige Eiteraugen nnschhisgeu;. Erst «ach einer Eesektfbii des liüfcyn Kniegelenkes 
kam der Prozeß warHeilung. ^ Etwa P'/.j^Jahre 

MB 

der Lenkögyten 


i. die. fast alle Lymphozyten waren, 

betrag 1.60000. wsir üntlimig gescliwolleß, « l i p|ja a / 

ihre Haut War blaniötverfärbt, stark yerdiekt (rnil gfflpBjjsy _.,L 

infiltriert and Ifeü sich nicht, i« Falte« abhehen. |ppjip v 

Ebeno*! zeigten bfeidfe NaatdahtälialtÄtt wk. 4kHatit ; iy • • • J 

fh» jÜft. &&$$$&!&*& defltlkfte Tufiltrate. AM». 1 * Fv ’ v /'.. 

zeigt di.s Aussehen des Patienten ir. dieser Seit 
und gibt auch die damals vorhandeneu Marken 
LymphkuoteUschwellnngeit am Halse tnratJlch Wltsder, 

^er Patient oekam nun raw l. hl» ’ 22. März 1 * 

1-ßlö die «Me Hestrahlaogsserie (Hr. TiigttHlrerch). 

Es war.dea. 5« Felder von je 5 m» Diirchrofesser (linke Halsseite, Gesicht, Nase, 
Sternum, Unke Thorasseite, Milz,,'13 mal je 15 Minuten. lang bestrahlt. l'Siedorohr 
von Müller am Triiiibxäpparat vofc ,§iemen8 i &. Halbke hinter 5 mnt Aluminium- Sekandäre 
Belastung.2 Milliampere. •.-.'.Hätte der ftfliiltriertcn tiiihre »l Wdjnelt, parellele Fnaken- 

Z*«*.rir. t i4iy«k. n. *114» tl-», jü-fi; s.A • V 1 








242 Hans HintehfftJd, : %!ai iVopKiar «n*i Ri»nt|ri*r t tWfAp>^ ,d*r lyiuphatlächoA Leokänjie, 


Btrecke 39 cm, Umgesattit 4?f) MIHiiniisereromatea). Gleidtzeitif bekam er ytftcbenCUch 
drrinmi - Mt&: Atexj j*A raeatejektion-. (Marke Silbe) intravenös, im ganzen 12 lujektiöli«ni. 
von denen jede.je 0,1 g Älbxyi und Acidum argenitsaiun In erst steigeiiden lk.*e» -yd» 0,002 
bis, $$$$■ n%d dann vriedef Ws 0,002 faHanden «utkieii. Üntee «liesiß»- Bebitedhtng 

gingen : : alte Schwell» wren uod ssefe di« Oestefjis- 
»Seitten 'erheblich xnrück. 4ie LeiikAzytenzniil bo- 

Als sieb der Patient am 2^ November 1940 
.'•■ 'S» wieder vftrs«‘.s!Uö, batte er 13000 Leukozyten, Die 

f Schwellung <if?r Nase war erUfeWieU geringer, Nwe 

L :5: und ‘»Vatigen w*r«a bteu, and; die i?al$!yropl.kiKit*:ö- 

’ : : -''v w.nrei! nur noch -«-«tag vergrtWjerf und die Mil? 

'•S/Sr*. war jralpabeL 

Tr r -‘V»- Tft .--.'• ,; a| r Er erMeit dann «och ¥em 2- NeVMi>ber bis 

r*.^-r J. Dezember ifjlfi l4.;^^trÄU^f^a/ 4er gtejehwa 

- •• ■ 'V-.. .- Felder ur-.l mit der gleiche» Oteehoik wie .oben. Die 

*•'•:£■ v IfcsrtKihteag^awte -: '4«^i betrug 2Ö Minnien, 

■ tSr/ Wüttien 040 Nfillirain{tO>e*Juteat*J4 gegeben, 

v^HHBHHBr ak Er «teilte sich am 18. Oktober 1917 wieder vor. 

Die DrSaen am Hals and den übrigen Regionen 'Vftrea 


_ _ rbÖer f|fift>Vörde«j «.je Leakozyteuzahl betrog 

20 t t(ii), lite Prozentzähl der Lymphozyten 60 ®:„. 

■'FFlNAißiyvky w i-%•*'••.’'aBi .Er bekam dal»», als 111. Serie vom 18. bis 27. Ok-, 

. .. tbiier 191? 3 Beatrahlwngen von 36 Minntea Daker 

'4^ “' mit der CooliugerMire am Briplexappam von Sie- 

mens & HaMe hinter cv min Alnaifoteni, ParaileU- 
I'itukenßtrecke 39 cm, sekundäre Belastung 2; Miiliainptire,. Risgeeaist 3 MilUainprremtentf'.n. 
Die vierte Besfrahinngsserie wuriSe votu 25. Oktober Ms io, November 1917 verabreicht. 
(10 Felder von « cfci Durchmesser, Milz, Unke Dalsseite. Stcrnbrn, j» 1 20 fitesten lang 
f'oolitlgetdhre tun ('ooiidge-TherapifcapparAt Von Ste&iens &. Halske hioter S tfliti Ateminiuni- 
Sefenndfer? BeteBtftng S Milltempörc, Insgesamt ßÖÖ MIlliamperemiaoteu), 

Ans 19. NovÄüaber. 191? betrag die BenközytÄtizabl 12000, darunter nur 4Ö "/p 
L.vhijdiniS^ißn. Die MtfeachWeltongtnid die Iteftseutumpren waren geringfügig, das Gesiebt* 
•t?ie Abb. 2 zeigt, war vlflßg horma), 

.Obwohl seitdem keine Bestrahlung mehr vargeoomntett wurde, frtk.lt sieh, der Patient 
andauernd wohl and bat nnr noch geringfügige DirüaoflBchweihitigvn, duck Ist das Gesteht 
norinal geblieben. 

Erst eine am l.Mai 1918 ivorgeaommeije Blntuntersucbaug. <5ie 60000 Leukozyten mit 
75 6» t| . kleinen Lymphozyten ergab, zeigte, daß eich dennoch wieder ein Rezidiv vorbereitet. 

Der Fall ist Wvaeti seiiiFc ;h)ili(irurdetitliclt günstig«!Eeajknpii teuf ille. Hoiitgtjit- 
te’lwiKÜuug, ttesoodurs aber weghjt des ausjfezeichm-ten kostnetikeJieu LVstiltatos 
bezgl. der leukämischen Gestehtsaffelaüm hettierken^werf. Nit Id immer lassen si«-h 
letJki’imisehe Infiltrate der-Hain ah gm bi^tutiren- tvi»? hier. Teil kenne Fülle, die 
sieh in dieser itexiehttftj.' völlig refraktär verhielten, »Meli sind dieselben nueh 
nicht mit modernen Apjmraten b«'i>ai.ideit whrdM, 



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A. Laqueur, Praktische Bemerkungen zur Diathermiebehandlung. 


243 


IV. 

Praktische* Bemerkungen zur Diathermiebehandlung. 

Aus dem hydrotherapeutisch-medikomechanischen Institut de? städtischen 
Rudolf Virchow-Krankenhauses zu Berlin. 

Von 

Dr. A. Laqueur. 


Wenn das in dieser Zeitschrift schon so häufig erörterte Thema der Dia- 
thermiebehandluug hier wiederum zur Besprechung kommt, so mögen dafür neben 
der großen praktischen Wichtigkeit, welche die Diathermiemethode in der 
physikalischen Therapie mehr, und mehr gewonnen hat, noch zwei besondere 
Gründe als Entschuldigung dienen. Einmal ist diese Methode wohl zuerst in 
Deutschland in unserer Zeitschrift beschrieben und besprochen worden (im 
13. Bande von v. Bernd und Nagelschmidt, woran sich in demselben Bande eine 
experimentelle und praktische Mitteilung des Verfassers anschloß); und dann war 
der Verfasser Zeuge, "wie der verehrte Jubilar, dem dieses Heft gewidmet ist, 
von Anfang an, als die Wiener Kollegen v. Bernd und v. Preyß ihre Methode 
liier in Berlin zuerst mit einer damals noch recht primitiven Apparatur anwandten, 
dem Verfahren die regste Aufmerksamkeit entgegengebracht, ihm tatkräftige 
Förderung zuteil werden ließ und sich in erfolgreicher Weise um seine Ein¬ 
führung im Rudolf Virchow-Krankenhause, dessen ärztlicher Direktor er damals 
war, bemühte. Auf diese, fast ein Dezennium zurückliegenden, weiteren Kreisen 
nicht bekannten Vorgänge hinzuweisen, gebietet sowohl historische Gerechtigkeit 
wie persönliche Dankbarkeit. 

Die große Beliebtheit und Verbreitung, die das Verfahren im Laufe der Zeit 
in der Praxis errungen hat, hat nun zu Begleiterscheinungen geführt, welche bei 
neuen therapeutischen Methoden, und zumal bei solchen der physikalischen Therapie, 
fast unvermeidlich sind. Auf der einen Seite sehr weitgehende und weitherzige 
Indikationsstellung, auf der anderen Seite eine Skepsis, welche dann das Kind 
mit dem Bade ausschütten will. Beides ist allerdings bei der Diathermie nicht so 
scharf in Erscheinung getreten, als bei manchen anderen modernen physikalischen 
Methoden; denn dem wirklichen Werte einer Methode, die in ganz neuartiger 
Weise die alle Schichten des Körpers durchdringende Widerstandswärme des 
Organismus therapeutisch verwertet, konnte sich niemand verschließen, der längere 
Zeit damit praktisch gearbeitet hat. Immerhin mag es nicht überflüssig sein, 
hier einmal aphoristisch auf Grund einer vieljährigen Erfahrung auf einige Punkte 
hinzuweisen, w'elche sich auf die Grenzen der Indikationsstellung sowie einige in den 
letzten Jahren neu hinzugekommene Indikationen beziehen. 

16 * 


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244 


A. Laqueur 


Es ist bekannt, daß die genaue Dosierung der Stromstärke bei Anwendung 
der Diathermie sich nicht nur nach dem Anzeigen des Hitzdrahtamperemeters, 
sondern auch nach den subjektiven Angaben des Patienten über das eben noch 
erträgliche Wärmegefühl richten muß. Merkwürdigerweise findet aber bei der 
Empfehlung des Verfahrens bei solchen Krankheiten, welche mit Störungen der 
Hautsensibilität verbunden sind, dieser Umstand, soweit mir bekannt, fast gar 
keine Berücksichtigung; und doch muß darauf streng geachtet werden, wenn 
schwere Hautschädigungen durch Verbrennen vermieden werden sollen. (Auch bei 
der Heißluftbehandlung ist erst verhältnismäßig spät auf diesen* Punkt publizistisch 
hingewiesen worden.) Von Krankheiten, die mit Störungen der Hautsensibilität 
einhergehen, kommen neben der Hysterie — auch an diese als Komplikation 
eines sonstigen Leidens muß gedacht werden! — hauptsächlich die Tabes, neu- 
ritische Erkrankungen und dann Neuralgien infolge von peripheren 
Nervenverletzungen durch Schuß und dergleichen in Betracht. Auch bei Akro- 
parästhesien, arteriosklerotischen Zirkulationsstörungen an den Extremitätenenden, 
Erfrierungen und ähnlichen, zur Diathermiebehandlung an sich recht geeigneten 
Leiden, muß auf Störung der Wärmesensibilität geachtet werden. Es sei nun 
bei weitem nicht gesagt, daß solche Sensibilitätsstörungen eine Kontraindikation 
der Diathermiebehandlung überhaupt bilden, nur muß in derartigen Fällen die 
Technik der Anwendung besonders modifiziert werden. Es geschieht dies einmal 
dadurch, daß große Elektroden verwandt werden; denn je geringer die Strom¬ 
dichte an der Übergangsstelle von der Leitung in den Körper, um so geringer 
ist die Verbrennungsgefahr. Namentlich bei der Tabes ist die Verwendung großer 
Elektroden am Platze, man kann dann bei Durchleiten eines Stromes von 1 bis 
1,2 Ampere Stärke quer durch den Rumpf ziemlich sicher sein, daß eine über¬ 
mäßige Erwärmung der Haut vermieden wird. 

Ferner bedient man sich bei der Diathermiebehandlung von Extremitäten, 
welche Störungen der Hautempfindlichkeit aufweisen, zweckmäßigerweise der 
Längsdurchwärmung. Wenn die eine — nicht zu kleine — Elektrode am 
Oberarm oder Oberschenkel und, falls nur periphere Nervenverletzung vorliegt, jeden¬ 
falls oberhalb des in der Sensibilität veränderten Hautbezirks angebracht wird, 
als zweiter Pol entweder der bekannte Metallhandgriff oder ein Wasserbad be¬ 
nutzt wird, so erfolgt bekanntlich die stärkste Erwärmung, falls die erstgenannte 
Elektrode von genügender Größe ist, nicht an den Eintrittsstellen des Stromes 
in den Körper, sondern am Orte des geringsten Querschnitts der Extremität. 
Die Kontrolle des Grades der Erwärmung läßt sich dabei einmal durch die Hand 
des behandelnden Arztes in ziemlich sicherer Weise vornehmen, außerdem gibt 
das Amperemeter dem Erfahrenen ebenfalls einen wohl hinreichend genauen An¬ 
haltspunkt (Stromstärken von 0,4—0,0 Ampere bei der beschriebenen Technik). 
Schließlich ist in Fällen von peripheren Nervenverletzungen oder Erfrierungen 
auch die Tiefensensibilität des Patienten häufig viel weniger gestört als die 
Hautsensibilität, so daß sich auch die Angaben des Behandelten selbst in den 
meisten Fällen bei Anwendung einer solchen Anordnung recht wohl zur Regu¬ 
lierung der Stromstärke mit verwenden lassen. * Conditio sine qua non ist bei 
alledem natürlich eine sorgfältige Technik. Durch das Fortlassen der Umwick¬ 
lung der Metallelektroden mit durchfeuchteten Kompressen, welche, wie K. Bangert 


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Praktische Bemerkungen zur Diathermiebebandlung. 


245 


in dieser Zeitschrift nachgewiesen hat 1 ), den Übergangswiderstand zwischen 
Elektrode und Haut in unnötiger und für die Wirksamkeit des Verfahrens un¬ 
zweckmäßiger Weise erhöhen, ist ja überhaupt die Verbrennungsgefahr wesentlich 
herabgemindert worden. 

Die therapeutische Wirksamkeit der Diathermiehehandlung bei der Tabes 
wird ja im allgemeinen sehr gerühmt und selbst Autoren wie H. E. Schmidt, 
die sonst dem Verfahren recht skeptisch gegenüberstehen, lohen dessen Wirksam¬ 
keit hei dieser Krankheit. 2 ) Ich kann mich diesem Urteil für manche Fälle durch¬ 
aus anschließen und habe namentlich bei Magen- und Darmkrisen, besondere 
solchen mehr chronischer Natur, recht günstige Erfolge gesehen, ebenso bei 
manchen Kranken mit lanzinierenden, mehr chronischen und nicht gerade akut¬ 
anfallsweisen Schmerzen. Andererseits ist aber doch vor einer Überschätzung 
des Verfahrens bei diesem Leiden zu warnen. Es liegt ja ungemein nahe, gerade 
gegen heftige neuralgiforme Schmerzanfälle die Diathermie zu versuchen. 
Wie bei Neuralgien überhaupt, so kann es aber auch bei den tabischen Neural¬ 
gien, besondere wenn sie ganz akut und anfallsweise auftreten, geschehen, daß 
die tiefgehende und intensive Erwärmung, w r ie sie bei der Diathermie erfolgt, 
nicht nur nichts nützt, sondern direkt durch Auslösung eines neuen Anfalls oder 
Verschlimmerung der bestehenden Schmerzen Schaden bringt. Derartiges habe 
ich des öfteren beispielsweise bei Patienten erlebt, die sich in gutem Er- 
nährungs- und Kräftezustand befinden und bei. denen solche Anfälle, vorzugs¬ 
weise im Ulnarisgebiete, Jahre hindurch eigentlich das einzige, aber höchst 
quälende subjektive Symptom der Tabes bilden. Allerdings verhalten sich diese 
Fälle auch anderen physikalischen und medikamentösen Maßnahmen gegenüber 
oft recht refraktär. Am besten wirkt hier noch eine Thermalbadekur, namentlich 
die Gasteiner Quellen werden von diesen Patienten sehr gerühmt. Bei den 
mannigfachen Formen, unter denen die tabischen Schmerzen in Erscheinung 
treten, ist jedenfalls die übrige Elektrotherapie in Form der Faradisation, der 
faradischen Bäder, der Rückengalvanisation und der d’Arsonvalisation durch das 
Hinzukommen der Diathermie keineswegs überflüssig gemacht worden. 

Schwankend und vielfach widersprechend sind auch die Urteile über die 
Wirksamkeit der Diathermie bei peripheren Neuralgien. Es liegt das daran, 
daß die Neuralgie ja kein einheitliches Krankheitsbild bietet und nach Ursache 
und Erscheinungsform einen sehr wechselvollen Verlauf zeigt, so daß von einem 
einheitlichen therapeutischen Mittel bei dieser Krankheit, wenn man von der rein 
symptomatisch und vorübergehend wirkenden Analgeticis absieht, überhaupt nicht 
gesprochen werden kann. Dann aber muß bei der Indikationsstellung eines so 
energisch und durch die intensive Wärme erregend wirkenden Mittels scharf unter¬ 
schieden werden, ob es sich um die ersten akuten Reizstadien oder um eine ältere, 
mehr chronisch verlaufende Neuralgie handelt. In dem ersten akuten Stadium 
ist im allgemeinen die Diathermie nicht indiziert. Ausnahmen von dieser Regel 
kann man zwar in einzelnen Fällen erleben, besondere wenn die Diathermie dabei 
sehr vorsichtig und in geringen Dosen angewandt wird. In der Mehrzahl der Fälle 
aber versagt das Mittel und kann, wie oben schon erwähnt, sogar durch Heizung 

') Bd. XX. S. 271. 

*) Berl. kl. Wochenschr. 1918. Nr. 8. 


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UMIVERSITY OF MICHIGAN 



24G 


A. Laqueur 


des erkrankten Nerven Verschlimmerungen oder neue Anfälle hervorrufen. Des¬ 
halb sind im Beginne der Behandlung von Neuralgien nach wie vor milde 
Wärmemethoden am Platze, unter denen ich der Blaulichtbestrahlung den 
Vorzug geben möchte. Die Kombination mit der Anodengalvanisation ist dabei 
meist zweckmäßig. Daß außerdem auch schon in diesem Stadium, besonders bei 
der Ischias, allgemeine Schwitzprozeduren in Form der elektrischen Teil¬ 
oder Ganzlichtbäder von Nutzen sein können, ist ja bekannt. 

Ist durch eine solche Behandlung eine Linderung der Schmerzen herbei¬ 
geführt worden, dann kann man zur Diathermie übergehen und damit sehr häufig 
— ein „immer“ gibt es in der Therapie überhaupt nicht — eine dauernde Be¬ 
seitigung der Schmerzen erzielen. Und ebenso erweist sich die Diathermie in der 
Mehrzahl der Fälle von Neuralgie nützlich und häufig anderen Methoden über¬ 
legen, wenn man die Patienten erst nach mehrwöchentlichem oder noch längerem 
Bestehen der Krankheit in Behandlung bekommt. Hier kann man Erfolge er¬ 
leben, sowohl in bezug auf Raschheit der Heilung, wie auch namentlich bezüglich 
der Dauerwirkung» die oft geradezu überraschend für den Arzt wie den Pa¬ 
tienten sind. Daß daneben auch Mißerfolge Vorkommen, z. B. bei den so hart¬ 
näckigen Trigeminusneuralgien alter Leute, darf nicht verschwiegen werden; aber 
das darf nicht davon abschrecken, gerade in hartnäckigen und veralteten Fällen 
von Neuralgie ein Mittel zu versuchen, das sich häufig so gut bewährt hat und 
das doch vielfach, und darauf kommt es an, einen wirklichen Fortschritt vor 
den bisher geübten Methoden der physikalischen Therapie darstellt. 

Allerdings ist es notwendig, wenn man solche Erfolge erreichen will, gerade 
bei der Behandlung peripherer Neuralgien eine gewisse V orsicht zu beobachten. 
So wende ich hierbei die Diathermie niemals täglich, sondern nur jeden zweiten Tag 
an. Auch hat es sich nicht als zweckmäßig erwiesen, die Dauer der einzelnen 
Sitzung über 20 Minuten auszudehnen. Über die Zahl der Sitzungen, die bis zur 
Erzielung der Heilung erforderlich sind, läßt sich natürlich allgemein-giUtiges 
nicht sagen. 12—15 Sitzungen sind bei leichten und mittelschweren Fällen oft 
ausreichend, bei hartnäckigeren Fällen muß die Kur darüber hinaus in immer 
größer werdenden Pausen zwischen den einzelnen Sitzungen verlängert werden. 

Das eben Gesagte gilt auch für die oft so hartnäckigen und schwer zu be¬ 
seitigenden Neuralgien nach Schußverletzungen peripherer Nerven. So 
lange die Hyperästhesie eine sehr große ist — und das ist hier oft noch monatelang 
nach der Verwundung der Fall — ist die Diathermiebehandlung nicht am Platze, 
sondern milde Wärmemethoden, wie die Blaulichtbestrahlung, verbunden mit der 
Galvanisation, sind vorzuziehen. Erst wenn das ärgste Reizstadium überwunden 
ist, kann man dann zur Diathermie übergehen und hierdurch recht häufig sehr 
befriedigende Erfolge erzielen. Wie bei den Neuralgien überhaupt, so ist nament¬ 
lich bei den Neuralgien nach Nervenverletzungen, schon wegen der dabei meist 
bestehenden Sensibilitätsstörungen, meist die Längsdurchwärmung angezeigt. 

Die Frage, wie weit sich die Diathermiebehandlung überhaupt für die 
Kriegsverw’undeten und Kriegskrankea eignet, ist in den letzten Jahren 
verschiedentlich erörtert worden, denn naturgemäß mußte man wünschen, dieses 
neue wirksame Verfahren auch unseren verletzten und erkrankten Kriegern zugute 
kommen, zu lassen. Tatsächlich kann die intensive Wärme- und Hyperämiewirkung. 


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Praktische Bemerkungen zur Diathermiebehandlung. 


247 


die mit der Anwendung der Diathermie verbunden ist, auch hier in mannigfachster 
Weise Nutzen bringen, sowohl bei Verwundeten zur Beförderung der Resorption 
von traumatischen Exsudationen und Infiltraten, zur Lösung schmerzhafter 
Kontrakturen, Erweichung und Schmerzstillung an Narben, Bekämpfung von 
Neuralgien nach Nervenverletzungen, als auch bei Kriegskranken, vor allem solchen 
mit neuralgischen und rheumatischen Leiden. Demgemäß liegen auch verschie¬ 
dentlich günstige Berichte aus Lazaretten vor, namentlich aus solchen, in denen als 
Methode der Wärmebehandlung fast oder ganz ausschließlich die Diathermie verwandt 
wnirde. Betrachtet man aber die Frage kritisch von dem Standpunkte aus, in¬ 
wieweit gerade hier die Diathermie anderen physikalischen Heilmethoden, nament¬ 
lich den sonstigen Wärmeanwendungen, überlegen ist, so sind doch einige Ein¬ 
schränkungen geboten. .-Stehen diese anderen Methoden zur Verfügung, was ja 
bei weitem nicht in jedem Lazarett der Fall ist, so ergibt sich, daß in der Nach¬ 
behandlung Kriegsverletzter eine Schmerzstillung, Erweichung und Mobilisierung 
sich mit Dampfduschen, Fangopackungen, warmen örtlichen oder allgemeinen 
Bädern usw. ebensogut, häufig sogar besser als mit der Diathermie erreichen läßt. 
Nur bei Neuralgien nach Schußverletzungen und hei Erfrierungen zeigt 
sich die Diathermie hier oft den anderen Methoden überlegen. 

Die „rheumatischen“ und „neuralgischen“ Erkrankungen, wie sie in 
den Lazaretten zur Behandlung kommen, bilden im allgemeinen für die Therapie 
ja eine undankbarere Aufgabe, als wir es von den Friedenszeiten her bei ähn¬ 
lichen Leiden gewohnt waren. Der meist unbedeutende oder ganz fehlende 
objektive Befund, das Wechseln und Wandern der örtlichen Beschwerden er¬ 
schweren gerade die Anwendung einer Methode, welche, wie die Diathermie, ihre 
besten Erfolge bei scharf umschriebenen und objektiv gut erkennbaren und lokali¬ 
sierbaren Veränderungen auf weist. Deshalb wird man bei diesen rheumatischen 
Erkrankungen, oder genauer gesagt, um einen von Goldscheider 1 ) eingeführten 
Ausdruck zu gebrauchen, bei den refrigeratorischen Myalgien und Arthralgien 
vorzugsweise die allgemeine Diathermie anwenden. Dabei ist aber eine Über¬ 
müdung der oft erschöpften und gleichzeitig nervös erregbaren Patienten sorg¬ 
fältig zu vermeiden, und es darf auch nicht vergessen werden, später neben 
der Wärmebehandlung nach Goldscheiders Empfehlung zu milden hydrothera¬ 
peutischen Kälteanwendungen und zu einer zweckmäßigen Gymnastik überzugehen. 

Weiterhin bildet die Komplikation mit Neurasthenie und mit Neurosen, 
die sich so häufig bei derartigen rheumatisch und neuralgisch Kranken, besonders 
nach längerem Lazarettaufenthalt, einstellt, ein erschwerendes Moment für jede, 
wenn man so sagen darf, rein objektiv wirkende Therapie und somit auch für die 
Diathermiebehandlung. Nonne hat kürzlich in einem in Berlin gehaltenen Vortrage 
über Suggestionsbehandlung geäußert, daß etwa 60 °/ 0 aller unter der Diagnose 
Ischias in den Heimatslazaretten behandelten Patienten in Wirklichkeit an einer 
Neurose leiden. Diese Schätzung dürfte sicherlich nicht übertrieben sein, besonders 
wenn man diejenigen Fälle hinzu nimmt, bei denen wohl ursprünglich eine Ischias 
vorhanden war, dann aber die unverhältnismäßig lange Krankheitsdauer sowie 
die dem objektiven Befund nicht entsprechenden schweren Gehstörungen den Ver- 

l ) Diese Zeitschr. Bd. XX, S. 193. 


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A. Laqueur, Praktische Bemerkungen zur Diathermiebehandlung. 


dacht auf Neurose erwecken, der sich dann durch Feststellung der bekannten 
Allgemeinsymptome leicht bestätigen läßt. Daß in solchen Fällen auch die Diathermie 
versagt, kann nicht wundemehmen. 

Dankbarer ist die Anwendung der Diathermie in den bei Kriegskranken 
selteneren, mit objektiven Veränderungen verlaufenden Fällen von subakutem 
und chronischem Gelenkrheumatismus, sowie bei den nicht selten vorkommenden 
Arthritiden nach Ruhr. In diesen Fällen, sowie bei den früher erwähnten Neuralgien 
nach Nervenschüssen und bei den Erfrierungen bildet die Diathermiebehandlung, 
auch in Lazaretten sehr häufig ein den sonstigen physikalischen Heilmethoden 
überlegenes Agens. Davon abgesehen spielt sie aber bei der Behandlung von 
Lazarettinsassen, falls die anderen Mittel der physikalischen Therapie zur Verfügung 
stehen, doch nicht die präponderierende Rolle, die man ihr von manchen Seiten 
zuschreibt. In der hydrotherapeutischen Anstalt des Rudolf Virchow-Kranken- 
hauses verhielt sich beispielsweise in zwei bestimmten Zeitabschnitten die Zahl 
der mit Diathermie behandelten Zivilpersonen zu derjenigen der damit behandelten 
Soldaten, wie 39 : 1, bzw. 37 : 3, während in der betreffenden Zeit der Prozent¬ 
satz der in der Anstalt überhaupt behandelten Soldaten 40 % bzw. 45 °/ 0 betrug. 

Zum Schlüsse sei noch auf zwei neuere, weniger bekannte Indikationen der 
Diathermiebehandlung bei inneren Leiden hingewiesen. Bei den chronischen 
Gallenblasenentzündungen, auch den mit Steinbildung verbundenen, läßt sich 
mit der Diathermie oft ein sehr guter Erfolg bezüglich der Schmerzstillung sowie 
Verhütung der Anfälle erzielen. Vorsicht ist allerdings, besonders im Anfänge 
der Behandlung, geboten, um die initiale. Reaktion zu verhüten oder doch 
möglichst milde zu gestalten. Deshalb sind anfangs intensive Wärmegrade zu 
vermeiden, die Dauer der einzelnen Sitzung, auch der späteren, auf 15 Minuten 
zu beschränken. Auch Grube 1 ) in Neuenahr hat auf diese wichtige Indikation 
des Diathermieverfahrens neuerdings aufmerksam gemacht, das er auch bei post¬ 
operativen Verwachsungen mit Kolikschmerzen erfolgreich anwandte. 

Weiterhin sei auf die wohltätige Wirkung hingewiesen, welche die Diathermie 
der Herzgegend bei dem Oppressionsgefühl und den Angina pectorisartigen Be¬ 
schwerden der Arteriosklerosekranken mit Sklerose der Coronararterien ausübt. 
Diese Wirkung stellt sich häufig schon nach den ersten Sitzungen ein; sie ist aber 
in nicht zu vorgeschrittenen Fällen meist eine anhaltende, besonders wenn die 
Kur nach einiger Zeit — nach 3 bis 6 Monaten etwa — wiederholt wird. Eine 
Senkung des pathologisch erhöhten Blutdrucks läßt sich recht oft dabei be¬ 
obachten, ebenso wie nach der d’Arsonvalisation, worauf schon vor mehreren 
Jahren Braunwarth und Fischer in dieser Zeitschrift hingewiesen haben' 2 ). 
Häufig habe ich auch Erfolge in solchen Fällen gesehen, w r o die d’Arsonvalisation, 
selbst wenn sie örtlich in der Herzgegend angewandt wurde, zur Bekämpfung der 
genannten Beschwerden versagt hatte. Eine sehr intensive Erwärmung der Herz¬ 
gegend ist bei dieser Anw'endungsform der Diathermie nicht notwendig und w r egen 
der anstrengenden Allgemeinwirkung auch gar nicht am Platze. In der Regel 
genügt es, bei Applikation größerer Elektrodenplatten einen Strom von 1 Ampere 
Stärke durch den Oberkörper zu schicken, w r obei zweckmäßigerweise die vorne 

*) Medizin. Klinik 1918, Nr. 17. 

3 ) Bd. XVI, S. 641. 


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Schlesinger, Zur Kadiumbehandlung d. Krebses, insbesondere d. Rektumkarzinoms. 249 


der Herzgegend anliegende Platte etwas kleiner gewählt wird, als die Rücken¬ 
elektrode (Dauer 10 bis 15 Minuten). 

Noch manche andere Fortschritte • hat die Diathermiebehandlung in den 
letzten Jahren aufzuweisen, namentlich auf Spezialgebieten der Medizin, wie der 
Urologie, der Gynäkologie, der Augenheilkunde. Hierauf einzugehen, würde aber 
hier zu weit führen. Der Zweck der obigen Ausführungen war nur, in aphoristischer 
und kritischer Weise auf einige Punkte einzugehen, welche bei der praktischen 
Anwendung der Diathermiebehandlung ein gewisses Interesse beanspruchen dürften. 


y. 

Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des 

Rektumkarzinoms. 

Von 

Dr. Erich Schlesinger. 

Die Wertschätzung des Radiums als Heilfaktor bei der Behandlung bösartiger 
Geschwülste hat in den letzten Jahren mancherlei Wandlungen erfahren. — Wie 
immer bei der Entdeckung eines stark wirkenden Mittels trat zunächst ein schranken¬ 
loser Enthusiasmus in die Erscheinung. Der neue Stoff, der die jahrhundertalten 
Grundpfeiler des physisch-chemischen Denkens ins Wanken gebracht hatte, der die 
Lehren von der Unzerstörbarkeit des Elements, von "der Konstanz des Atomgewichts 
in neue Bahnen lenkte und die Spekulation der alten Philosophen von einem ein¬ 
heitlichen Ursprünge der Materie in den Kreis menschlichen Begreifens rückte, 
ließ seine Gnadenstrahlen auch in eines der dunkelsten Gebiete der Heilkunde 
leuchten. Ein Heilmittel gegen den Krebs schien erstanden zu sein. Alle desolaten 
Fälle, bei denen der chirurgische Eingriff längst als aussichtslos aufgegeben war 
und die der einschläfernden Morphiumtherapie des Hausarztes überantwortet waren, 
gewannen wieder klinisches Interesse und überfüllten die Behandlungsräume der 
glücklichen Besitzer des kostbaren Elementes. — Die Berichte über glückliche 
Heilungen blieben denn auch nicht aus. Die Horazeschen Regeln: Nonum primatur 
in. annum, die für dieses Spezialgebiet der Medizin mehr als für jedes andere 
gelten sollten, wurden meistens unter dem zwingenden Eindruck des handgreiflichen 
Erfolges vergessen und die Rezidive erschienen häufig erst nach erfolgter Druck¬ 
legung. Bald kam die unausbleibliche Ernüchterung. Anfangs Geheilte erkrankten 
von neuem, viele völlige Versager kamen dazu, das Radium war seines Unfehlbarkeits- 
nymbus entkleidet und marschierte bescheiden in der Reihe vieler gleichfalls ge¬ 
stürzter therapeutischer Größen. 

Diese ganze Entwicklung hat sich in der Geschichte der Medizin oftmals 
wiederholt. Merkwürdig ist in unserem Falle nur ein einziges Moment, ein Denk- 


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£. Schlesinger 


fehler oder vielmehr ein Kompromiß, durch den sich der anfängliche Enthusiasmus 
mit den bald einsetzenden kritischen Regungen abzufinden suchte. 

Man glaubte ein Heilmittel gegen den Krebs zu haben. Trotzdem wurde 
allerorts das Dogma verkündet: Nur das inoperable Karzinom darf bestrahlt werden. 
Solange noch irgendwelche Aussicht auf chirurgische Ausrottung des Leidens besteht, 
regiert das Messer. „Erst der Stahl, dann der Strahl.“ Dieser Standpunkt wäre 
durchaus berechtigt, wenn die operative Karzinomtherapie auf festeren Füßen stünde. 
Daß dem nicht so ist, lehren die traurigen Zahlen der Statistik. Von operativ 
geheilten priinären Karzinomen des Uterus blieben etwa 50 %, von solchen der 
Mamma kaum 30 °/ 0 , des Rektums kaum 7 °/ 0 , des Magens kaum 1 % rezidivfrei. 
Die beste Chance für die Operation bietet also der primäre Krebs der weiblichen 
Geschlechtsteile, und trotzdem waren es gerade die Gynäkologen, von denen zuerst 
die Losung ausgegeben wurde, die aussichtsreichste Behandlung des Uteruskrebses 
sei nicht die Operation, sondern die Bestrahlung. Daß bei diesem Standpunkte 
bald die Röntgenröhre, bald die Radiumkapsel auf den Schild gehoben und ver¬ 
dammt wurde, tut nichts zur Sache. — Man erhielt den Eindruck, daß manche 
Klinik en saisonweise bald mit Röntgen, bald mit Radium heilten, eine Erscheinung, 
welche wohl hauptsächlich auf einer etwas flüchtigen Kenntnis der physikalischen 
Grundbegriffe und technischen Möglichkeiten begründet ist. 

Zur Beantwortung der Frage, warum nur die Gynäkologen im Gegensatz zu 
der Chirurgie auf dem Boden der reinen Bestrahlungstherapie stehen, gibt es zwei 
Erklärungsmöglichkeiten: 

1. Die Tatsache, daß der Krebs des Uterus der Bestrahlung räumlich besonders 
zugänglich ist. In einer Arbeit von Rupp (D. m. W. 1914, Nr. 51) findet sich der 
Passus: „Gegenüber dem Uterus, der offen zugänglich ist, ist die Mehrzahl der 
anderen Körperorgane im Nachteil: Haut, Muskeln, Fett, Knochen absorbieren einen 
großen Teil der Strahlen (pro 1 cm 10 °/ 0 der harten Gammastrahlung), die Strahlen¬ 
intensität nimmt im Quadrat der Entfernung ab, und es bleibt für die tiefer gelegenen 
Tumoren nur mehr ein verschwindender Rest von Energie.“ Die Wahrheit der 
physischen Überlegung in diesem Satze wird niemand bestreiten. Bezüglich der 
offenen Zugänglichkeit besitzt aber das Karzinom des Rektums, der Prostata, der 
Speiseröhre, der Brustdrüse, der Zunge die gleichen günstigen Bedingungen wie 
das des Uterus. — Auch die Zugänglichkeit des Magenkrebses ist nur eine Frage 
der Tec hnik. Es gelingt z. B. beim Karzinom der vorderen Magenwand unschwer, 
den Tumor in die Bauchhaut einzulagern, zu tunnellieren und direkt zu bestrahlen. 

Von wesentlich größerer Bedeutung ist der zweite Erklärungsversuch: 
histologisch ist es ohne weiteres klar, daß der Krebs kein einheitlicher Begriff ist, 
ganz abgesehen von den mannigfachen Unterschieden des elementaren Aufbaues. 
Die Yirchowsche Erfahrung lautet: „Die Karzinome sind bösartige epitheliale 
Gebilde, die sich durch infiltratives Wachstum und durch Metastasenbildung aus¬ 
zeichnen.“ Der Uteruskrebs führt erfahrungsgemäß erst spät zur Metastasierung. 

Das gleiche sehen wir jedoch bei vielen Fällen von Rektumkarzinom, sowie 
beim Brustkrebs, besonders wenn er im vorgerückten Lebensalter auf tritt. Wir 
sehen nicht nur einen wesentlichen Unterschied bezüglich der Bösartigkeit der 
einzelnen Karzinomformen hinsichtlich der Metastasierung und der Intensivität des 
Umsichgreifens, sondern auch einen solchen bei verschiedenen Fällen der gleichen 


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Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des Rektumkarzinoms. 


251 


Form. Diese Tatsache würde allein ohne weiteres die wechselnde Wirksamkeit 
der Bestrahlungstherapie erklären können. — Es gibt nun einzelne. Fälle, hei denen 
die Bestrahlung absolut refraktär bleibt. Man hat versucht, die Blutversorgung 
der verschiedenen Karzinomformen dafür verantwortlich zu machen. Blutreiche 
Markschwämme sollten gut, harte Skirrhusformen schlecht reagieren. Demzufolge 
sei besonders das harte, schlecht durchblutete Magenkarzinom ein absolut un¬ 
günstiges Objekt. Die Erfahrung hat diese Annahme als unberechtigt erscheinen 
lassen. Von welcher Stelle des Körpers der Krebs seinen Ausgang nimmt, sowie 
die Unterschiede des histologischen Baues, sind für den Erfolg der. Bestrahlung 
ohne Einfluß, vorausgesetzt, daß er räumlich gut erreichbar ist. 

Warum reagiert ‘nun das eine Rektum-, das eine Uteruskarzinom ohne 
weiteres auf die Bestrahlung, das andere genau so aussehende unter den gleichen 
Bedingungen gar nicht? — Diese Frage scheint die bei weitem wichtigste und 
interessante auf dem ganzen Gebiet der Bestrahlungstherapie zu sein. Könnten 
wir sie beantworten, könnten wir von vornherein eine Auswahl unserer Fälle vor¬ 
nehmen und die ungeeigneten ausscheiden, so stünde unsere Behandlung auf 
sichereren Füßen und brauchte keine Diskreditierung zu befürchten. 

Von einer Erklärung sind wir noch weit entfernt. Histologische Verhält¬ 
nisse kommen nicht in Frage. Es ist vielmehr anzunehmen, daß es sich dabei 
um eine individuelle Reaktibilität des Organismus auf die Bestrahlung handelt. — 
Wie wirkt denn überhaupt jede Bestrahlung? Halten wir uns an die grund¬ 
legenden Untersuchungen von Exner (Über die Rückbildung von Karzinom¬ 
metastasen unter Einwirkung von Radiumstrahlen, W. kl. W. 1Ö04, Nr. 7). Es 
kommt bereits eine Woche nach der Bestrahlung zur Neubildung von Bindegewebe, 
während zu dieser Zeit an der Karzinomzelle noch keine merkliche Veränderung 
zn sehen ist. Diese Bindegewebsbildung ist das hervorstechendste Merkmal der 
Bestrahlung. Die Bindegewebsstränge dringen nach und nach in die Tiefe des 
Krebsknotens ein, sprengen die Krebsnester auseinander und schnüren die Krebs¬ 
zellen von der Blutversorgung ab. Nach einer größeren Zeit sehen wir Vakuolen¬ 
bildung in den Zellen, Quellen der Kerne und endlichen Zerfall. — Das neu¬ 
gebildete Bindegewebe enthält sehr zahlreiche Kapillaren, deren Endothel sich in 
lebhafter Proliferation befindet. Es wird nach und nach immer derber und macht 
zum Schluß den Eindruck einer jungen reaktionslosen Narbe. 

Es handelt sich also bei der Strahlenwirkung nicht um eine reine Kauteri¬ 
sation des Krebsgewebes, wie vielfach angenommen wurde, auch nicht um eine 
selektive Wirkung auf die einzelnen Krebszellen, sondern um die Provokation 
einer Bindegewebsneubildung und eine sekundäre Erstickung des Krebsstromas 
durch straffe Bindegewebszüge. 

Man hat den Begriff der Radium- und Röntgenfestigkeit der Karzinomzellen 
aufgestellt analog der Chininfestigkeit der Malariaparasiten. Die Festigkeit ist 
keine endogene Eigenschaft der Krebszellen, sie ist vielmehr nichts anderes als 
die mangelnde Fähigkeit des Organismus, auf die Bestrahlung mit der Bildung 
jungen Bindegewebes zu reagieren. — Ich habe bei Rektumkarzinomen, die sich 
gegen die Bestrahlung refraktär verhielten, Stückchen zur mikroskopischen Unter¬ 
suchung entnommen und fand stets in die Tiefe reichende Nekrotisierung und 
zahlreiche kleine Blutungen zwischen den Karzinomzellen, niemals aber eine Spur 


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£. Schlesinger 


von neugebildetem Bindegewebe. Die gleiche Erfahrung machte man bei der 
Bestrahlung von Rezidiven, die nach einer voraufgegangenen erfolgreichen Radium¬ 
behandlung auftraten. Sie reagierten von Rezidiv zu Rezidiv immer schlechter. 
Diese sich steigernde Festigkeit der aufeinanderfolgenden Rezidive beruht eben¬ 
falls auf der abnehmenden Fähigkeit des Organismus, frisches Bindegewebe her¬ 
vorzubringen. 

Etwas anders sind die histologischen Vorgänge bei der intratumoralen Be¬ 
strahlung. Untersucht man einige Zeit nach der Behandlung ein Stückchen eines 
tunnellierten. Magenkrebses, so findet man neben neugebildetem Bindegewebe große 
Mengen von Leukozyten, die in die Zwischenräume der Krebsnester eindringen. 
Man muß daran denken, daß es bei diesem Neuauftreten von Leukozyten zu einer 
Aktivierung des autolytischen Fermentes kommt, eine Annahme, die sich durch 
Untersuchungen bei direkter Bestrahlung in vitro bereits als wahrscheinlich er¬ 
weisen ließ. 

Aus alledem folgt, daß besonders günstige Verhältnisse für die Bestrahlung 
beim Uteruskarzinom gegenüber den anderen Krebsformen nicht vorliegen. 

Die dritte Erklärungsmöglichkeit für die Erfolge der Gynäkologen liegt auf 
rein technischem Gebiete. Bedienten sie sich einer besonderen Technik, die anderen 
Therapeuten nicht zugänglich ist? Das ist nicht der Fall. Auswahl der Filter, 
Abblendung der sekundäre^ Strahlen, Anwendung ausschließlich ultra-penetrierender 
Strahlung, Applikationsdauer, alles das ist längst therapeutisches Allgemeingut 
geworden. Es bleibt also das nur im Einzelfalle zur Verwendung kommende 
Quantum strahlenden Materials. Die ersten Berichte über Krebsheilung durch 
Radium seitens Wickham und Degrais bezogen sich auf die Ausrottung von 
Kankroiden mittels relativ kleiner Mengen strahlender Substanz. Es ist richtig, 
daß der oberflächliche Hautkrebs durch Bestrahlung mit 10—20 mg Radiumsalz 
günstig beeinflußt, ja zum Schwinden gebracht werden kann. Nicht so der Krebs 
der inneren Organe. Ich habe bereits im Jahre 1913 die Ansicht vertreten: Der 
Krebs der inneren Organe ist nur durch große Dosen zu beeinflussen (über den 
gegenwärtigen Stand der Radiumtherapie bösartiger Geschwülste, D.,m. W. 1913, 
Nr. 47). Dieser Standpunkt wurde seinerzeit von verschiedener, z. T. autorita¬ 
tiver Seite energisch angegriffen. Der Grund dazu ist gewiß nicht in der Tat¬ 
sache zu suchen, daß nur den wenigsten Therapeuten größere Mengen Radium 
zur Verfügung standen. Man fürchtete sich vielmehr, an der Hand unklarer Vor¬ 
stellungen vor der deletären Wirkung größerer Quanten. Man hatte eine Anzahl 
schwerster Verbrennungen gesehen, Perforationen von Blase, Speiseröhre usw. 
Man wußte, daß das Radium keine selektive Wirkung auf die Krebszellen ausübte 
und dachte an das Schicksal des von den Strahlen durchsetzten gesunden Ge¬ 
webes, in dem ebenso wie in dem Tumor selbst Sekundärstrahlen entstehen, durch 
die Destruktionsprozesse verursacht werden können. 

Auch der „Radiumrausch“ mit seinen .Begleiterscheinungen wie Schüttelfrost, 
Fieber, Pulsbeschleunigungen, Übelkeit, Schlaflosigkeit, war ein abschreckendes 
Moment. Alle diese Einwände darf man getrost als hinfällig bezeichnen. Der 
„Radiumrausch“ ist eine Intoxikation und stets von kurzer Dauer. Verbrennungen 
tiefer Krebsschichten haben wir an der Hand der vervollkommneten Technik zu 
vermeiden gelernt. Meines Erachtens ist die Gefahr bei der Anwendung kleinerer 


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Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des Rektumkarzinoms. 


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Dosen eine viel größere. Sie bewirkt vielmehr eine Wachstumsanregung der 
Tumorzellen und eine rapide Metastasenbildung. 

Daß bei der perkutanen Anwendung eine Hautverbrennung nicht immer ver¬ 
mieden kann, liegt auf der Hand. Wir haben wiederholt die Erfahrung gemacht, 
daß die Haut einzelner Menschen ganz verschieden reagiert. Ein gut filtriertes 
Radiumpräparat kann bei dem einen ohne jede Reaktion 12 Stunden liegen, 
während bei dem anderen schon nach kurzer Anwendung unter sonst gleichen 
Bedingungen Erytheme, ja selbst geschwürige Prozesse auftreten. Man muß sich 
nur darüber im klaren sein, daß bei der Möglichkeit, einen Tumor durch inten¬ 
sive Bestrahlung rasch zu zerstören, eine oberflächliche Verbrennung in Kauf ge¬ 
nommen werden kann. Zudem sind die Radiumverbrennungen der Haut wesent¬ 
lich gutartigerer Natur als die Röntgenulzera. Sie gehen nie in die Tiefe, heilen 
häufig bald ab und können bei verzögertem Heilungsprozeß durch Transplantation 
geschlossen werden.. 

Verbrennung tiefer Gewebe muß in jedem Falle vermieden werden. Dies 
gelingt: 1. Durch die Auswahl der Filter. — Immer noch sind vielfach Bleifilter in 
Gebrauch. Um nur ultra-penetrierende Strahlung wirken zu lassen, sind Bleimäntel 
in einer Dicke von 3—4 mm erforderlich. Abgesehen davon, daß dabei die In¬ 
tensität der erwünschten Gammastrahlung unnötig geschwächt wird, verhält sich 
gerade das Blei, bezüglich des Auftretens der ätzend wirkenden Sekundärstrahlen 
möglichst ungünstig. Ich habe gemeinsam mit Herschfinkel das Auftreten von 
Sekundärstrahlen in den verschiedenen Medien untersucht (vgl. Archiv für Strahlen¬ 
therapie 1914) und fand neben den edlen Schwermetallen, wie Gold und Platin, 
das Optimum bei Metallegierungen wie Neusilber und Messing. 

2. Das Wesentliche für die möglichst ungefährliche Anwendung größerer 
Mengen liegt aber in folgendem: Es ist nicht nötig, bei einem Fall ständig mit 
dem gleichen Quantum zu arbeiten. Zur Erklärung mag ein Beispiel aus der 
Chemie dienen: Es gelingt, durch die Emanation von 100 mg Radiumbromid 
Ammoniak in Stickstoff und Wasserstoff zu zerlegen. Der Zersetzungsprozeß kann 
durch immer geringere Mengen Emanation in Gang gehalten und beendet werden, 
Mengen, die bei anfänglicher Anwendung absolut wirkungslos gewesen wären. 

Auf Grund dieser chemischen Erfahrung bin ich zur fraktionierten Anwendung 
der Radiumdosen gekommen. 

Die erste Bestrahlung geschieht mit möglichst großen Mengen bei guter 
Filtrierung. Bei jeder folgenden Bestrahlung ist das Quantum der Strahlensubstanz 
herabzusetzen. Man wird einwenden, daß bei dem abgestuften Verfahren die 
entfernt liegenden Geschwulstzellen umfangreicher Tumoren nicht mehr von den 
Strahlen getroffen werden können. Das ist aber auch unnötig, ja selbst bei An¬ 
wendung größerer Mengen häufig unmöglich. Es kommt nur darauf an, zunächst 
einen möglichst intensiven Anreiz zur Bildung von Bindegewebe zu geben. Die 
nach und nach in die Tiefe reichende Wucherung des Bindegewebes wird durch 
die Bestrahlung von der Peripherie aus fortwährend neu angeregt, und zwar ab¬ 
gestuft von Quanten, die ursprünglich nur eine oberflächliche Nekrotisierung des 
Geschwulstgewebes verursacht hätten. Das Schicksal des Kranken beruht auf der 
Größe der anfänglichen Strahlenmenge. Nur die Therapeuten dürfen zuerst der 
reinen Bestrahlungsbehandlung noch operabler Tumoren das Wort reden, die 


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E. Schlesinger 


mit möglichst großen Mengen strahlender Energie arbeiten könnten. Daß dieser 
Gedanke zuerst von der Krönigschen Klinik in die Tat umgesetzt wurde, darf 
nicht vergessen werden. 

Daß das Rektumkarzinom hinsichtlich seines Sitzes dem Uteruskrebs an die 
Seite gestellt werden kann, ist schon oben gesagt worden. — Häufig begegnen 
wir in der Literatur der Angabe, die Bestrahlungsbehandlung des Mastdarmkrebses 
sei wenig aussichtsvoll. Für diese Mißerfolge dürfen füglich allein die zu kleinen 
Anfangsdosierungen verantwortlich gemacht werden. Wer nicht in der Lage ist, 
mindestens 200 mg im Einzelfalle in Anwendung zu bringen, der behandle keine 
Tumoren innerer Organe. Jch filtriere diese Menge mit 0,8 mm Gold und umgebe 
den Goldfilter zur Abblendung der Sekundärstrahlen mit einer ZeHuloidkapsel, an 
deren einem Ende ein längerer Seidenfäden befestigt ist. Die Einführung hat bei 
allen höher sitzenden Rektumkarzinomen stets unter Kontrolle des Rektoskops zu 
geschehen. Die einzelne Bestrahlung braucht die Dauer von 12 Stunden nicht zu 
überschreiten. Sie geschieht am schonendsten für den Patienten vom Abend bis 
zum Morgen. 

Eine besondere Erwähnung verlangen die nach der Behandlung stets auf¬ 
tretenden Tenesmen. Die Krampfzustände können recht unangenehm werden. Ein 
halbstündlich auftretender Stuhldrang mit Entleerung kleiner Mengen gelblicher 
Flüssigkeit gehört nicht zu den Seltenheiten. Zu vermeiden sind die Tenesmen 
nicht. Man muß sich vergegenwärtigen, daß das ziemlich umfangreiche Radium¬ 
paket, das stundenlang im Darm verharren muß, schon als Fremdkörper einen 
dauernden Reiz ausübt. Aber auch die gesunde Mastdarmschleimhaut verhält sich 
nicht indifferent gegen die auf sie fallenden Strahlen. Man erblickt sie im Rektoskop 
stets im Zustande der Entzündung Medikamente sind zur Bekämpfung der Tenesmen 
von nur geringem Werte. Belladonna versagt gänzlich. Am besten bewährt haben 
sich hier Wasserspülungen mit Adrenalin (1 cbcm auf 1 Liter Wasser). Fast immer 
wird man auch zu Morphium in Gestalt von Suppositorien greifen müssen. 

Sollen wir aber wegen dieser unangenehmen Nebenerscheinung auf die ganze 
Radiumtherapie des Mastdarmkrebses verzichten? Die anfänglichen und oft dauernden 
Beschwerden eines am Mastdarmkrebs Operierten sind nicht geringer. Nie wird 
sonst an eine energisch wirkende Behandlungsweise die Forderung der absoluten 
Schmerz- und Beschwerdelosigkeit gestellt. 

Ist man in der Lage, ein Rektumkarzinom durch Bestrahlung vollständig zum 
Schwinden zu bringen, so stoße man sich nicht an dem Auftreten von Tenesmen. 

Daß die Möglichkeit einer primären klinischen Heilung durch Radium gegeben 
ist, mögen die folgenden Krankengescliichten erläutern: 

1. 62 jähriger Mann, Blutungen ans dem Darm seit 2 Monaten. Im Bektoskop 
fand sich ein zirkuläres blutendes Karzinom, 7 cm oberhalb des Schließmuskels. Von der 
Operation mußte wegen schweren Diabetes Abstand genommen werden. Behandlung 
fünfmal je 12 Stunden in achttägigen Pausen mit zunächst 200 mg heruntergehend auf 
50 mg in 1 mm Platin. Nach 6 Wochen Schwinden der Geschwulst. Patient seit fünf 
Jahren rezidivfrei. 

2. 58 jähriger Mann, tiefsitzendes Bektum-Karzinom, das fest mit der Blase ver¬ 
kittet ist. Bestrahlung in gleicher Weise wie oben. Verschwinden des Tumors nach 
sechswöchiger Behandlungsdauer. Der Patient erlag seitdem einer interkurrenten Lungen¬ 
entzündung. 


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Zur Radiumbehandlung des Krebses, insbesondere des Rektumkarzinoms. 


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3. 64j&liriger Mann, seit l l / 2 Jahren Blntnngen ans dem Darm nnd ständige Te- 
nesmen. Wurde bereits' vorher mit Radium (Quantum unbekannt) ohne Ergebnis be¬ 
handelt. Der Tumor saß ca. 11 cm oberhalb des Schließmuskels und obliterierte fast 
völlig das Lumen des Darmes. Behandlung wie oben. Die wiederholte Rektoskop-Unter- 
suchung ergab eine ständig zunehmende Schrumpfung des Geschwulstgewebes. Jetzt ist 
an der Stelle des Tumors eine straffe Bindegewebsnarbe sichtbar. 

Schwere Verbrennungen oder gar Perforationen habe ich nie erlebt. 

Daß ich neben diesen klinisch geheilten Fällen eine Anzahl ungünstiger gesehen 
habe, darf nicht verschwiegen werden. Fast in jedem Falle konnte aber eine 
wesentliche Verkleinerung der Geschwulst durch die Bestrahlung erzielt werden. 
Damit muß man sich zufrieden geben, wenn man sich die vorstehenden Bemerkungen 
über die individuelle Reaktion auf die Bestrahlung vergegenwärtigt. Nur eine 
kritische Auswahl der Fälle kann den Prozentsatz der Heilungen vergrößern. 
Kranke mit Metastasenbildung sind ebensowenig Gegenstand der Strahlentherapie 
wie der Operation. 

Sind wir nun auf Grund unserer Kenntnisse schon jetzt in der Lage, die 
Kardinalfrage zu beantworten: Operation oder Bestrahlung? Noch ist es zu früh, 
ein Dogma auszusprechen. Die alteingesessene chirurgische Behandlung hat in 
den letzten Jahrzehnten trotz ständiger Vervollkommnung der Technik eine Besserung 
ihrer Statistik nicht zu erzielen vermocht. Die Rezidive erfolgen unbeirrt jetzt 
wie früher. 

Die junge Bestrahlungstherapie ist imstande, ebenso wie der chirurgische 
Eingriff primäre Heilung zu erzielen. — Mehr soll hier nicht gesagt werden. Daß 
der Gang der Entwicklung unaufhaltsam zugunsten der Bestrahlung vor sich gehen 
wird, erscheint mir außer Zweifel. 


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B. Nervenkrankheiten 


VL 

Ober Polyneuritis (ambulatoria) mit Diplegiä facialis. 

Von 

W. Alexander 

in Berlin (z. Z. im Felde). 

Im Folgenden berichte ich zunächst über einen seltenen Fall, der wegen der 
eigenartigen Gruppierung seiner Symptome zu differentialdiagnostischen Erörterungen 
Anlaß gibt. 

36 jähriger verheirateter Kaufmann, gesunde Kinder, kein Abort, hat weder Lues 
noch andere Erkrankung gehabt, trinkt nicht, raucht mäßig, hat keine Abkühlung oder 
Infektion erlitten und mit Giften nichts zu tun. Erkrankt an typischem linksseitigem 
Lumbago, Schwitzbäder auf Rat des Hausarztes beseitigen die Beschwerden in wenigen 
Tagen. Nach zwei weiteren Tagen linksseitige Facialislähmung, wieder ohne Er¬ 
kältungsanlaß, bei gesundem Ohr, ohne jede Allgemeinerscheinung wie Fieber, 
Magen-Darmstörung oder dergleichen. Nach weiteren drei Tagen erhebe ich folgenden 
Befund: 

Mittelkräftiger Mann in genügendem Ernährungstustand. Kein Fieber, keine Drüsen¬ 
anschwellungen, Organe o. B., Urin frei. L. VII. in allen Ästen gelähmt, r. VII. in 
allen Ästen paretisch. Gaumensegel und Zunge o. B. Supraorbitalreflex 1. —, r.+ 
Geschmack total aufgehoben, was dem Kranken schon spontan aufgefallen war. Speichel¬ 
sekretion <C, Schweißsekretion = normal. Hirnnerven sonst intakt, kein Nystagmus. Ohr¬ 
befund und Gehör o. B. Kraft der Extremitäten normal. Bauchreflexe fehlen voll¬ 
kommen. Cremasterreflexe = +. Patellarreflexe = +• Achillesreflexe = — (im 
Knieen mit Jendrassik-Spur + ?). Keine spontanen Schmerzen und Parästhesien, 
keine Druckempfindlichkeit der Nervenstämme, keine Muskelatrophie, keine 
Ödeme. Sensibilität für alle Qualitäten*) auch nicht andeutungsweise gestört. 
Keine Gelenksinnstörung an den Zehen, keine Ataxie und Hypotonie. 

Die Parese der r. VII. vervollständigt sich in wenig Tagen zur Paralyse. 
Elektrisch: 1. starke, r. schwächere quantitative Herabsetzung der faradischen Erregbar¬ 
keit. Bauch- und Extremitätenmuskeln elektrisch intakt. 

Diagnose: Polyneuri tis. Bett. Schwitzen. « 

Die r. VTI.-Lähmung begann schon in der nächsten Woche zurückzugehen, die 
linksseitige etwas später. Achillesreflexe jetzt mit iendrassik schwach aber deutlich +. 
Neue Erscheinungen traten nicht auf. 

Als ich den Kranken gelegentlich eines Heimatsurlaubs nach 6 Monaten wiedersah, 


Das Vibrationsgeluhl wurde nicht untersucht. 


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Über Polyneuritis (ambulatoria) mit Diplegia facialis. 


257 


war die doppelseitige VH.-Lähmung geheilt. Links bestand eine Andeutung von 
Kontraktur (Lidspalte Spur enger) und von Mitbewegungen beim Sprechen und Essen, 
kein fibrilläres Zittern. Elektrisch normal. Geschmack wieder vorhanden. Bauch- 
reflexe = +. Achillesreflexe: r.+, 1. + <. Snpraorbitalreflex r. -f-, 1. —. 


Der Fall bietet in mehrfacher Hinsicht besonderes Interesse. Ist schon die 
Diplegia facialis bei gesunden Ohren an sich ein sehr seltener Befund, so 
wird sie durch die Coincidenz mit fehlenden Bauch- und Achillesreflexen ohne 
jedes andere Symptom um so beachtenswerter. Differentialdiagnostisch käme 
bei diesem auffallenden Syndrom nur die Poliomyelitis acuta adultorum in 
Betracht. Zwar könnten die Erscheinungen auf der Höhe des Krankheitsbildes 
einen Augenblick an diese, beim Erwachsenen gegenüber der Polyneuritis außer¬ 
ordentlich seltene Erkrankung mit ungewöhnlicher Gruppierung der Symptome 
denken lassen: Entstehung und Verlauf sprechen aber in allen Punkten dagegen. 
Das Fehlen der Allgemeinerscheinungen, wie Fieber, Schweiße usw., aller meningealen 
Reizerscheinungen wäre ebenso ungewöhnlich wie das schubweise Auftreten und 
die geringe Verbreitung der Lähmung, die gerade beim Erwachsenen im Anfang 
ausgedehnte Territorien zu befallen pflegt. Der restlose Rückgang aller Lähmungs¬ 
erscheinungen und die Wiederkehr der Reflexe ist bei der Poliomyelitis des 
Erwachsenen fast noch seltener als im Kindesalter, bei der Polyneuritis das 
Gewöhnliche. Bei der Poliomyelitis pflegen die Reflexe zu fehlen, wenn der Erfolgs¬ 
muskel gelähmt, atrophisch und elektrisch entartet ist. Ob Fehlen von Reflexen 
bei Poliomyelitis in irgendeinem Stadium bei funktionell ganz intakten Muskeln 
vorkommt, erscheint mir zweifelhaft. 

Was das Hauptsymptom unseres Falles, die Diplegia facialis betrifft, so 
wird die alte Regel, daß die Beteiligung von Hirnnerven mehr für Polyneuritis 
spricht, auch durch die neuere Erfahrung nicht erschüttert, daß bei der Poliomyelitis, 
wenigstens des Kindes, gerade der Facialis nicht ganz selten befallen wird. 
Ed. Müller (1) fand bei 165 Fällen den Facialis 21 mal beteiligt, meist waren 
dann außerdem andere bulbäre und spinale Symptome vorhanden. Cassel (2) konnte 
eine Anzahl isolierter VH.-Lähmungen bei Kindern aus hier nicht zu erörternden 
Gründen als poliomyelitisch bedingt erweisen; auch konnten schon beim Affen 
durch Überimpfung von menschlichen Poliomyelitismaterial isolierte VH.-Lähmungen 
erzeugt werden. Endlich habe ich (3) selbst einen Fall bekanntgegeben, bei dem 
eine Diplegia facialis die einzige Manifestation der Poliomyelitis eines 9jährigen 
Knaben war. Auch Oppenheim (4) erwähnt solche Fälle isolierter ein- und doppel¬ 
seitiger Facialislähmung; gewöhnlich sind aber andere Himnerven mitbetroffen. 
Im ganzen sind derartige Fälle jedenfalls selten, während Facialislähmung bei 
der Polyneuritis verschiedenster Ätiologie nicht gerade ungewöhnlich ist. 
Cassirer (5) bemerkt mit Recht, daß man sie meist erst auf der Höhe des 
Krankheitsbildes findet und zwar in Fällen, die auch der übrigen Entwicklung 
nach zu den schweren zu rechnen sind. Sie könne allerdings auch das erste 
Symptom der Krankheit sein. 

Auch aus der bei Remak(6) reichlich zitierten Literatur geht hervor, daß 
meist ausgedehnte Extremitätenlähmungen, Schluck-, Zwerchfell- und Bauchmuskel¬ 
lähmungen gleichzeitig vorhanden waren. Bei der L an dry sehen Paralyse wurde 
doppelseitige VH.-Lähmung mehrfach beschrieben. 

Zeitachr. f. phyaik. a. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8/0. 17 


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W. Alexander 


In der Ätiologie scheinen infektiöse Ursachen (Influenza usw.) zu über- 
wiegen; Eichhorst (7) sah doppelseitige VII.-Lähmung im Gefolge einer primären 
infektiösen Polyneuritis. Es muß aber auffallen, daß VII.-Lähmungen bei der 
Polyneuritis nach Sepsis, Parotitis, Erysipel, Scharlach, Uasern, Keuch¬ 
husten, Pneumonie, Gelenkrheumatismus, Meningitis, Chorea, Variola, 
Tuberkulose, und bei der senilen Polyneuritis nicht beschrieben zu sein scheinen. 
Einmal beobachtete Mancini(8) Diplegia facialis bei typhöser*) Polyneuritis, 
Maingauld (9) einmal nach Diphtherie. Auch 0ppenheim(4) erwähnt die Diphtherie 
unter den Ursachen der Facialislähmung, sie scheint aber hier außerordentlich selten 
vorzukommen. Nach Malaria, Lepra, Beriberi und bei der puerperalen und 
Graviditäts-Polyneuritis wurde VII.-Lähmung in einzelnen Fällen beobachtet. 
Oppenheim (4) berichtet über Diplegia facialis bei Kopftetanus. Ferner sah sie 
HoUti(lO) nach Influenza bei einem Syphilitiker. Nach Benario(ll) ist die VII.-Läh¬ 
mung im Frühstadium der Lues selten. „Die Herxheimersche Beaktion im Facialis 
beweist aber, daß schon kurz nach der Infektion auch der Facialis isoliert von Spiro¬ 
chäten befallen sein kann“. — Steinert (12) erwähnt die Beteiligung des Facialis bei' 
der syphilitischen Polyneuritis nicht. — A. Strümpell (13) sah nach Fliegen¬ 
stich multiple Neuritis mit Ataxie der Beine und Diplegia facialis, dabei starke 
Schmerzen in Schläfen und Ohren. — 

Bei der Polyneuritis auf toxischer Basis ist die VII.-Lähmung noch seltener. 
Auch bei der schwersten Form der alkoholischen P. scheint sie äußerst selten aufzu¬ 
treten. Oppenheim (4) sah hierbei mehrfach Diplegia facialis, auch W. Jakoby (14) 
beschrieb unter 4 Fällen von'doppelseitiger VII.-Lähmung einen auf alkoholischer Basis. 
— Die Nervenentzündung bei Diabetes beteiligte einige Male den Facialis, ebenso die 
nach CO-Vergiftung und nach Wutschutzimpfung; bei letzterer sahen Darksche- 
witsch (15) und Dünger (16) außer anderen Symptomen doppelseitige VII.-Lähmung, 
Sterling (17) sogar das ausschließliche Befallensein beider Faciales. — K. Groß (18) 
beschreibt einen Fall von myelogener Leukämie, bei dem außer anderen ausgedehnten 
Lähmungen auch doppelseitige VII.-Lähmung bestand. Auch Hellgardt (19) sah 
Diplegia facialis bei Leukämie. — Die seltenen bei Bleivergiftung beschriebenen 
Fälle von VII.-Lähmung waren durch zerebrale Herde bedingt. Bei Gicht, Karzinom, 
Kupfer-, Silber-, Arsenik-, Phosphor-, Hg-, Schwefelkohlenstoff, Nitro¬ 
benzol-Vergiftung sind neuritische VII.-Lähmungen nicht beschrieben worden. Nach 
Nahrungsmittelvergiftung (Fisch, Hummer, Wurst, Schweinefleich usw.) wurde sie 
mehrfach beobachtet. (P. Erben (20), L. Strauß (21) u. a.) Bei der „rheumatischen“ 
P. [von Noorden und Falta(22), Schulhof (23)], überwiegen die sensiblen Symptome 
so sehr die motorischen, daß Falta und Freund (24) derartige Fälle als „Polyneuralgie“ 
bezeichnen; Facialislähmungen kamen hier nicht vor.. — Preti (25) will sie nach 
exzesiver lokaler Hitzeanwendung beobachtet haben. Bei dem Fall von Diplegia 
facialis, den Nikitin (26) beschreibt, wirkte Erkältung auslösend bei einem drei 
Monate vorher luetisch Infizierten, der, bisher unbehandelt, jetzt durch spezifische Be¬ 
handlung geheilt wurde. — Endlich wäre noch die traumatische Entstehung ein- und 
doppelseitiger VII.-Lähmungen zu erwähnen. — 

Das Zusammenwirken mehrerer ätiologischer Momente spielt gerade bei der 
Polyneuritis eine besondere Rolle. Ein schönes Beispiel dafür ist ein Fall von 
Aguglia (27), bei dem ein Mann, der an chronischer Malaria und chronischen Alkoho- 
liBmus litt, einige Monate nach luetischer Infektion eine schwere allgemeine Polyneuritis 
mit Diplegia facialis bekam, die auf Hg + Jod heilte. 

Alles in allem spricht eine Lähmung des Facialis also eher für Poly¬ 
neuritis als für Poliomyelitis, um so mehr, wenn sie, wie in unserem Falle, rest¬ 
los ausheilt. Dazu kommt, daß hier anderweitige Lähmungen vollkommen fehlten; 

*) Nach G. Sterz (Typhus und Nervensystem. Beihefte zur Monatsschr. f. Psych. und 
Neurol. Heft 1, 1917) ist der Facialis gegen die posttyphöse Neuritis fast immun. 


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Über Polyneuritis (ambulatoria) mit Diplegia facialis. 


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eine isolierte Vn.-Lähmung auf poliomyelitischer Basis, wie wir sie oben als beim 
Kinde gelegentlich vorkommend beschrieben, ist aber bei der gewöhnlich besonders aus¬ 
gebreiteten poliomyelitischen Lähmung des Erwachsenen noch nicht beobachtet werden. 

Was das Fehlen der Bauchreflexe in unserem Fall anbetrifft, so sind 
dafür frühere oder zufällig gleichzeitig bestehende chronische Erkrankungen des 
Bückenmarks, besonders die multiple Sklerose nicht verantwortlich zu machen, 
weil einmal alle anderen Erscheinungen einer solchen (auch anamnestisch) fehlen, 
besonders aber, weil diese Reflexe wiedergekommen sind. Hiermit ist auch dem 
Einwand begegnet, daß vielleicht einer der seltenen Fälle Vorgelegen hat, wo die 
Bauchreflexe beim gesunden jugendlichen 1 Mann fehlen können*). Auch 
alle anderen Erkrankungen, bei denen die Bauchreflexe vorübergehend schwinden 
können, wie Typhus, .entzündliche Bauchaffektionen [Sicard (30), Rolleston (31), 
Müller und Seidelmann (29)], Neplirolithiasis (?) usw. kommen nicht in Frage. 
Es bleibt also wieder zu entscheiden zwischen Polyneuritis und Poliomyelitis. 
Wie schon angedeutet, geht bei der Poliomyelitis die Veränderung der Reflexe ge¬ 
wöhnlich mit dem Grade der Lähmung, der Atrophie und der elektrischen Ver¬ 
änderung parallel. Ein vollkommenes Fehlen der Reflexe bei motorisch und elek¬ 
trisch intaktem Muksel dürfte in keinem Stadium Vorkommen. Anders bei der Poly¬ 
neuritis. Hier begegnet man allen möglichst Kombinationen: Entartungsreaktion 
in gut funktionierenden Muskeln, wie es bei Bleilähmung mehrfach beobachtet und 
von Remak(32) und Bernhardt (33) bei schwerer generalisierter Polyneuritis sogar 
für beide Faciales beschrieben wurde; verhältnismäßig geringe Erregbarkeitsherab¬ 
setzung in schwer gelähmten Muskeln; Fehlen von Reflexen bei erhaltener Motilität, 
Sensibilität und Erregbarkeit, wie in unserem Fall. Nonne (34) beschrieb 1889 fünf 
anatomisch untersuchte Fälle von Polyneuritis, wo Fehlen der Patellarreflexe 
das einzige Symptom war; keine Lähmung, Atrophie, Druckschmerzhaftigkeit, 
elektrisch nur mäßige quantitative Herabsetzung. Daß Sehnenreflexe bei der Poly¬ 
neuritis erlöschen, ist alltäglich. Auch das Erlöschen von Hautreflexen, speziell der 
Bauchreflexe, ist nicht ganz ungewöhnlich, wenn auch erheblich seltener. Bei der 
Polyneuritis alcoholica sind sie oft herabgesetzt oder erloschen [Oppenheim (4), 
Sauer (35)], auch bei der infektiösen Polyneuritis wurde derartiges beobachtet, 
allerdings fast stets gleichzeitig mit Lähmung der betreffenden Muskeln, Ea R 
und Sensibilitätsstörungen. Solche Fälle beschreibt Oppenheim (36) im Anschluß 
an Typhus, Malaria, Gicht und Diabetes (je einen Fall) und bei Polyneuritis aus 
unbekannter Ursache; er zitiert Fälle von Taylor und von Gull mit denselben 
Symptomen nach Herpes zoster im Abdominalgebiet, von Schöpplenberg und 
von Kahler bei syphilitischer Wurzelneuritis; und fügt hinzu: „Es ist zu ver¬ 
muten, daß auch die anderen Erzeuger der Neuritis und Polyneuritis gelegentlich eine 
sich in diesem Gebiet lokalisierende Nervenentzündung hervorrufen können.“ 

Immerhin scheint das Fehlen der Bauchreflexe auf polyneuritischer Grundlage 
ohne Lähmung und elektrische Veränderung der Bauchmuskeln recht selten zu 


*) Anmerkung: Als Kuriosum sei erwähnt, daß der Hausarzt des Kranken zufällig zu 
diesen gehört, wie Oppenheim in jahrelanger Beobachtung festgestellt hat. — Müller |28) 
und Seidelmann (29) fanden die Bauchreflexe unter 1000 Soldaten nur einmal fehlend, unter 
2000 Weibern nur selten fehlend und dann bei älteren Individuen mit schlaffen Bauchdecken. 
Durch die eingehenden Untersuchungen Söderberghs scheint das gelegentliche Fehlen von 
Bauchreflexen bei Gesunden entgflltig sichergestellt. (Neur. Centralbl. 1918. Nr. 7.) 

17* 


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W. Alexander 


sein. Es handelte sich also um eine Neuritis der unteren Dorsalnerven, die 
auf der Höhe der Erkrankung ohne Schmerzen vorliegt, ebenso wie die Neuritis 
der Beinnerven, die zum Fehlen der Patellar- und Achillesreflexe führte, 
zu keiner Zeit Schmerzen oder auch nur Parästhesien machte. Allerdings 
hatte der Kranke wenige Tage vor dem Einsetzen der VIL-Lähmung eine links¬ 
seitige Lumbago, die nunmehr als das neuralgische Stadium der Neuritis wenig¬ 
stens eines der betroffenen Dorsalnerven aufzufassen ist. Die Geringfügigkeit der 
Schmerzen und ihr Beschränktbleiben auf ein so kleines Nervengebiet wäre bei 
Poliomyelitis eine ganz ungewöhnliche Erscheinung. — Zwar ist das völlige oder, 
wie hier, fast völlige Fehlen von Schmerzen und Sensibilitätsstörungen auch bei 
der Polyneuritis, wenigstens bei den infektiösen Formen, äußerst selten, was auch 
Bing (37) hervorhebt; aber es ist gelegentlich von Remak (6) bei Landryscher 
Paralyse, von Rosenheim (38) bei tuberkulöser Polyneuritis, ferner von Eisenlohr 
(39), Roth (40), Dejörine (41) beobachtet und auch von Eichhorst (7) und 
von Oppenheim (4) einwandfrei festgestellt wurden. Es wäre auch nicht einzu¬ 
sehen, warum das Fehlen von Schmerzen und Gefühlsstörungen, wie es zum 
Beispiel bei der Bleineuritis die Regel bildet und auch bei der diphtheritischen 
Polyneuritis beobachtet wird, nicht gelegentlich auch bei anderen Formen Vorkommen 
sollte*). Kommt es hier sogar bei Fällen mit degenerativer Lähmung zur Beob¬ 
achtung, so ist es für unseren Fall um so weniger verwunderlich, als dieser in 
allen seinen Symptomen rudimentär blieb. Wenn also auch das Fehlen von 
Schmerzen und Sensibilitätsstörungen nicht gegen Polyneuritis ausschlaggebend 
sein kann, so dürfte nach allem an dieser Diagnose nicht zu zweifeln sein, als 
deren wichtigste Stütze nochmals die restlose Ausheilung hervorgehoben sei. Wie 
es rein sensible Polyneuritiden gibt (es sei nur an die Neuritis multiplex 
cutanea Schlesingers (42) erinnert), und rein motorische, so liegt hier ein 
Fall von Polyneuritis vor, der weder sensible noch (an den Extremitäten) 
motorische Ausfallserscheinungen aufweist, sondern lediglich solche der 
Reflexe**). 

Da die Polyneuritis mit Ausnahme der Gesichtslähmung dem Patienten als 
Krankheit gar nicht zum Bewußtsein kam, er von einer Allgemeinerkran¬ 
kung seines Körpers keine Ahnung hatte, ist dieser Fall zugleich ein gutes 
Beispiel für eine ganze Kategorie im Felde nicht seltener Fälle, bei 
denen gelegentlich einer ärztlichen Untersuchung aus anderen Gründen gewisser- 
massen zufällig als einziges Symptom Reflexverlust festgestellt wird. Beim Fehlen 
von Schmerzen und Lähmungen haben diese Kranken ihre Polyneuritis un¬ 
bemerkt durchgemacht. Eine Polyneuritis mit derartigem Verlauf habe ich 
als „Polyneuritis ambulatoria“ bezeichnet und an anderer Stelle (43) aus¬ 
führlicher geschildert. 


*) Weil bestimmte ätiologische Momente besonders zu Schmerzen zu disponieren scheinen, 
glaubt Remak, daß diese nicht so sehr von der Intensität des neuritischen Prozesses als 
vielleicht von der Qualität des im Blute kreisenden ToxinB abhängig sind. 

**) Oppenheim hat Fehlen des Achillesreflexes als einziges Symptom einer Nervenaffektion 
beobachtet und auf Neuritis bezogen. (Lehrbuch, 6. Aufl., S. 606.) — Auch ich sehe nach Aus¬ 
heilung einer Neuritis ischiadica häufig nach vielen Jahren als einziges Restsymptom Ar$flexie 
der Achillessehne. Nonne(34) erwähnt dasselbe fttr den Patellareflex bei Neuritis des Cruralis. 


■v 


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Über Polyneuritis (ambulatoria) mit Diplegia facialis. 


261 


Literatur. 

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1906. Urban & Schwarzenberg. — 6. E. Remak. Neuritis und Polyneuritis. Im Nothnagel 
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mische Befunde bei Mangel des Patellarreflexes. Festschr. z. Eröffn, des neuen allg. Krankenh. 
Hamburg-Eppendorf. — 35. H. Sauer. Fehlen der Bauchdeckenreflexe bei chronischen Alkoholis¬ 
mus. D. Ztschr. f. Nervenhlk. 1913. HeftS.— 36. Oppenheim. Über den abdominalen Symptomen- 
komplex bei Erkrankungen des unteren Dorsalmarkes, seiner Wurzeln und Nerven. D. Ztschr. 
f. Nervenhlk. Bd. 24. 1903. — 37. R. Bing. Pathogenese, Diagnose und Therapie der Poly¬ 
neuritis. Beihefte zur Med. Klin. 1911. Heft 6. — 38. Rosenheim zit. nach Remak. — 
39. Eisenlohr zit nach Remak. — 40. Roth zit nach Remak. — 41. Däjörine zit nach 
Remak. — 42. H. Schlesinger. Über Neuritis multiplex cutanea. N. C. 1911. Nr. 21. — 
43. W. Alexander. Polyneuritis ambulatoria. D. m. W. 1918. Nr. 31. * 


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2G2 


Kretschmer 


VII. 

Zwei neurologische Fälle. 

Von 

Stabsarzt d. R. Dr. Kretschmer, 

Chefarzt eines Res.-Feldlazaretts, 

Assistent am medizinisch-poliklin. Institut der Universität Berlin. 

Unter den Krankheiten, die ich in zjvei Jahren auf der inneren Station des 
Ortslazaretts einer Sanitätskompagnie im Osten zn beobachten hatte, überwogen 
an Zahl neben Malaria und Ruhr das wolhynische Fieber und die zahlreichen 
Fälle von Fieber unklarer Ätiologie, wie sie von Schittenhelm, Ludwig, de 
Bo er u. a. beschrieben und z. T. als Sumpffieber, z. T. als atypisches, wol- 
hynisches Fieber gedeutet worden sind. Wie die meisten anderen Autoren konnte 
ich bei diesen letzteren Erkrankungen außer der Milzschwellung keinen krank¬ 
haften Befund an den inneren Organen feststellen. Außerdem fehlten Kompli¬ 
kationen und Nachkrankheiten, wie wir sie sonst bei fast allen Infektionskrank¬ 
heiten kennen. Nur einmal beobachtete ich im Verlauf eines Falles von wol- 
hynischem Fieber eine exsudative Pleuritis und akute Endokarditis, ein Zusammen¬ 
treffen, das möglicherweise auch ein zufälliges gewesen sein kann. 

Dagegen glaube ich, daß bei einem Falle von Fieber der Zusammenhang mit 
dem darnach auftretenden apoplektischen Insult nicht von der Hand zu weisen 
ist. Ich lasse zunächst die Krankengeschichte folgen: 

Obergelreiter Franz E., 22 J. Erblich nicht belastet. Angeblich früher nie 
wesentlich krank gewesen. Am 17. 10. plötzlich mit hohem Fieber nnd Kopfschmerzen 
erkrankt 

Befand: Großer, kräftiger Mann. Gesicht gerötet. Znnge leicht belegt.' Rachen 
leicht gerötet. Herz: Grenzen regelrecht, Töne rein, Langen o. B., Baach o. B., Milz 
nicht geschwollen. Urin frei von Eiweiß nnd Zucker. Im Blat keine Malariaplasmodien. 

In den folgenden Tagen Fieber zwischen 39° nnd 40°, das vom 18.—22. 10. 
treppenförmig abftel. Ab nnd zn klagte der Kranke über Schmerzen in den Knien, 
keinerlei Schwellung an denselben festzustellen. 

Am 23. 10. morgens fiel der Kranke plötzlich beim Waschen nm und war kurze 
Zeit bewußtlos. Ich wnrde sofort gemfen nnd stellte eine rechtsseitige Halbseitenlähmung 
fest. Das Bewußtsein war inzwischen zurückgekehrt. Pat. gab auf Befragen noch Ant¬ 
wort. Bei der Krankenvisite eine Stunde später wurde folgender Befand erhoben: 

Am Herzen keine Geräusche zu hören. Grenzen regelrecht. Puls 110. Nerven¬ 
system: Gesichtsmuskulatur r. unten völlig gelähmt, 1. o. B. Arm r. völlig gelähmt, 
1. o. B. R. Bein kann auf der Unterlage im Hüft- und Kniegelenk gebeugt, aber 
nicht gehoben werden. Bewegungen völlig kraftlos, 1. Bein o. B. Die Zunge wird nicht 
herausgestreckt, weicht nach rechts ab. Sprache: es werden nur einzelne lallende Brocken 
hervorgestoßen. Sprachverständnis erhalten. Sensibilität wegen der Aphasie nicht zn 


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Zwei neurologische Fälle. 


2G3 


prüfen. Reflexe: am r. Arm nicht auszulösen, 1. Arm o. B. Patellarreflex r. sehr leb¬ 
haft, 1. +. Achillessehnenreflex r. gesteigert, 1. +. Kein Babinski. Faßklonus: r. +, 
1. ■©.. Cremasterreflex r. 'S-, 1. +. Baachdeckenreflexe r. 'S., 1. +. Papillen bds. 
gleich. Aagenbewegangen o. B. 

Im weiteren Verlauf besserte sich die Sprache etwas, so daß Pat. ja and nein 
sagen konnte. Die Beweglichkeit des Beines kehrte zurück, nar der Faß hing beim 
Gehen herab. Die grobe Kraft war im r. Bein sehr herabgesetzt. Der r. Arm blieb 
völlig gelähmt. Pkt. wurde zur Weiterbehandlung einem Kriegslazarett überwiesen. 

' Es handelt sich also um einen Fall von rechtsseitiger Öalbseitenlähmung mit 
motorischer Aphasie, die bei einem jungen, kräftigen Manne nach einer kurzen 
fieberhaften Erkrankung auf trat. Das Fieber war eines jener schon erwähnten 
unklaren Ursprungs, wie ich sie häufig beobachtete. Das Blut wurde auf Widal 
in diesem Falle nicht untersucht. Da die Wassermannsche Reaktion negativ aus¬ 
fiel, kann man bei einem so jungen Manne eine Atheromatose der Gefäße kaum 
annehmen. Außerdem würde dann die Apoplexie wohl sicher schon früher bei 
den Anstrengungen des Feldzuges aufgetreten sein und nicht bei einer so ge¬ 
ringen körperlichen Bewegung, wie sie das Auf stehen und Waschen darstellt, 
zumal Pat. sich schon in den Tagen vorher sehr wohlfühlte und keineswegs 
durch das kurze Fieber sehr mitgenommen war. Es ist also wohl mit Sicherheit 
eine Embolie der * Gehirngefäße anzunehmen, ausgehend von Auflagerungen auf 
dem Endokard, die sich während der kurzen Erkrankung gebildet hatten. Aus¬ 
kultatorisch nachweisbar waren Veränderungen am Endokard während der Beob¬ 
achtungszeit nicht. Ältere endokarditische Auflagerungen hätten sich wohl sicher 
durch Auskultation feststellen lassen imd hätten auch zu Kreislaufstörungen be¬ 
sonders bei den erhöhten Anforderungen des Feldzuges geführt. Es läge schlie߬ 
lich noch nahe, einen abortiven Rheumatismus anzunehmen, da der Kranke ein 
paarmal über Schmerzen in den Kniegelenken' klagte. Doch waren keine 
Schwellungen an denselben nachweisbar, und derartige Schmerzen in den Ge¬ 
lenken und an den Extremitäten bilden eine häufige subjektive Klage bei allen 
diesen fieberhaften Erkrankungen, so daß sicher öfter Endokarditis beobachtet 
wäre, wenn diese Erkrankungen auf rheumatischer Grundlage beruhten. Alle 
Untersuchungen über ihre Ätiologie sind bisher ohne Resultat verlaufen. Der 
vorliegende Fall beweist jedenfalls, daß auch diese unklaren fieberhaften Er¬ 
krankungen Komplikationen nach sich ziehen können, und daß auch bei ihnen die 
gleichen Vorsichtsmaßregeln wie bei anderen Infektionskrankheiten zur Vermeidung 
von Komplikationen geboten sind. 

Der zweite Fall, den ich mitteilen möchte, war ein Fall von Poliomyelitis 
acuta anterior bei einem Soldaten. Die Krankengeschichte war folgende: 

Reservist P. M., 28 J. alt. Jannar—Mai 17 im Lazarett wegen Gelenkrheuma¬ 
tismus und Gelbsucht. Sonst nie wesentlich krank gewesen. Erblich nicht belastet. 

Am 24. G. 17 erkrankte er plötzlich mit Kopf- und Brustschmerzen und hohem 
Fieber. Konnte am 25. 6. nicht mehr gehen and den rechten Arm, in dem er zackende 
Schmerzen verspürte, nicht mehr bewegen. Blieb bis 27. im Revier and wurde dann 
dem Ortslazarett überwiesen. Bis znm 28. 6. Fieber zwischen 39° und 40°, dann 
lytischer Abfall, seit 1. 7. fieberfrei. Starke Appetitlosigkeit während des Fiebers. In 
den ersten Tagen beim Anfsetzen sofort Erbrechen. 

Befhnd bei der Aufnahme: Schwerkranker Mann mit fieberhaft gerötetem Gesicht. 
Kräftiger Körperbau. Kein Hautausschlag. Herz und Lungen o. B. Leber, Milz nicht 


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Kretschmer, Zwei neurologische Fälle. 


vergrößert. Puls verlangsamt. Nackensteifigkeit. Keine Lähmungen im Gebiet der 
höheren Nerven. Papillen gleich, eng, reagieren träge anf Lichteinfall. R. Arm völlig 
gelähmt, nnr Pro- nnd Supination des Unterarms in geringen Grenzen, sowie Beugung 
der Finger möglich. L. Arm: geringe Beweglichkeit des Oberarms im Schultergelenk; 
Unterarm: Beugung und Streckung nicht, Pro- und Supination in geringem Grade mög¬ 
lich. Finger können gleichfalls nur gebeugt, nicht gestreckt werden. Beide Beine völlig 
gelähmt. TricepBsehnenrefiex bds. nicht auszulösen. Patellarreflex schwach bds. Achilles¬ 
sehnenreflex bds. 'S.. Kein Babinski. Kernigsches Symptom +. Sensibilität o. B. 
Nervenstämme nicht druckempfindlich. 

28. 6. Lumbalpunktion: Unter mäßigem Druck ca. 15 ccm klare Flüssigkeit ent¬ 
leert. (Ergebnis der bakteriolog. Untersuchung: Lumbalpunktal steril.) Kopfschmerzen 
nach der Punktion gebessert, 

29. 6. Patellarreflex bds. nicht mehr auszulösen. Zustand unverändert. 

1. 7. Die Beweglichkeit des 1. Arms ist znrfickgekehrt. Grobe Kraft bei allen 
Bewegungen stark herabgesetzt. Rechter Arm im gleichen Umfange wie bei der Auf¬ 
nahme gelähmt. Beweglichkeit der Beine ebenfalls wieder normal, grobe Kraft stark 
herabgesetzt. Patellarreflex bds. schwach. Pupillen eng, reagieren nicht auf Lichteinfall. 
Nackenstarre und Kernigsches Symptom verschwunden. Noch geringe Kopfschmerzen. 

10. 7. Entlassungsbefund: R. Arm gelähmt wie bei der Aufnahme. L. Arm normal 
mit geringer Kraft beweglich, ebenso beide Beine. Patellarreflexe etwas herabgesetzt. 
TricepsBehnenreflex r. 'S, 1. schwach. Pupillen etwas weiter als im Anfang, Lichtreaktion 
träge. Klagt noch ab und zu über Kopfschmerzen. 

Eine weitere Beobachtung war aus äußeren Gründen nicht möglich, und im Inter¬ 
esse des Kranken nicht wünschenswert. Er wurde in ein Kriegslazarett überführt, um 
dort mit Elektrizität usw. weiterbehandelt zu werden. 

Der vorliegende Fall bietet Interesse wegen des Lebensalters des Kranken, 
da die Poliomyelitis acuta anterior sonst vorzugsweise junge Kinder zu befallen 
pflegt. Eine Ansteckungsquelle konnte nicht ermittelt werden. Der Kranke war 
seit seiner Entlassung aus dem Lazarett an der Front gewesen, andere Fälle von 
Poliomyelitis wurden im Divisionsbereich weder bei Soldaten noch bei Landes¬ 
einwohnern, mit denen er auch kaum in Berührung gekommen war, beobachtet. 
Differentialdiagnostisch kommen andere Krankheiten nicht in Frage, da das Krank¬ 
heitsbild mit der plötzlichen Erkrankung, dem hohen Fieber und raschen Einsetzen 
der Lähmungen ein typisches war. Die Rückbildung der Lähmungen des 1. Arms 
und der Beine erfolgte auffallend rasch. Dem gewöhnlichen klinischen Bilde ent¬ 
sprach nicht die begleitende Leptomeningitis serosa, die sich durch die Nacken¬ 
steifigkeit, Kernigsches Symptom, Verengerung und träge Reaktion der Pupillen 
auf Lichteinfall, sowie die Pulsverlangsamung dokumentierte. 

Andere Nervenerkrankungen wurden im Verlaufe der zwei Jahre, abgesehen 
von einigen Epileptikern, einem Fall von Dementia paralytica und mehreren Fällen 
von Meningitis, nicht beobachtet. Zu den schweren Nervenerkrankungen, wie sie 
in den heftigen Kämpfen der Westfront zur Beobachtung kommen, lag an unserer 
verhältnismäßig ruhigen Front auch kein Grund vor. Die geringe Zahl von 
chronischen Leiden, wie Epilepsie, ist ein Beweis, wie sorgfältig die Ausmusterung 
des Mannschaftsersatzes geschieht. 


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K. Kroner, Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an d. Front. 265 


VIIL 

Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund 
von Beobachtungen an der Front. 

Von 

Dr. Karl Kroner, 

Stabsarzt d. B. 

Wie fast allen Gebieten der Heilkunde, hat der Krieg auch der Nervenheil¬ 
kunde eine Fülle von neuen Beobachtungen und Fragestellungen gebracht. Während 
aber über die Beurteilung der organischen Schädigungen mit* der Zeit eine Über¬ 
einstimmung der Ansichten erzielt worden ist, gehen auch heute noch die Auf¬ 
fassungen von dem Wesen der — um es ganz allgemein auszudrücken — nicht 
grob-organisch bedingten Zustände weit auseinander. 

Es liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit, und es verbietet sich auch aus Platz¬ 
mangel, auf die fast unübersehbare, die sogenannten „Kriegsneurosen“ betreffende 
Literatur 1 ) einzugehen; es sollen hier nur einige bestimmte Punkte besprochen 
werden, die noch der Klärung bedürfen. 

Schon in den ersten Veröffentlichungen während des Krieges wird darauf 
hingewiesen, daß wir bei den Soldaten vielfach die Zustände wiederfinden, die uns 
vom Frieden her als sogenannte traumatische Neurosen bekannt sind. Und alsbald 
tauchte, wie in der früheren Literatur, der Streit darüber auf, wie weit wir es 
hier mit rein seelisch wirkenden Momenten, wie weit mit der Wirkung molekularer 
Erschütterungen, wie weit endlich mit eigenartigen, durch Vermittelung der Psyche 
zustande gekommenen körperlichen Zuständen, bzw. mit einer Kombination der 
beiden letzteren Formen zu tun haben. 

Die über die traumatischen und über die sogenannten Kriegsneurosen vor¬ 
liegenden sehr zahlreichen Arbeiten leiden an dem Übelstande, daß die Beobachtung 
der Erkrankten zu spät einsetzt. Naturgemäß wird der Arzt nur zufällig einmal 
Augenzeuge eines gewerblichen Unfalls sein, und vollends der Facharzt wird den 
bei einem Unfälle zu Schaden gekommenen Kranken meist erst dann sehen, wenn 
sich eine länger dauernde Schädigung des Nervensystems herausstellt. Dann aber 
ist das ursprünglich vorhandene Bild schon verwischt. Im Felde ist nun dem 
Arzte und vornehmlich dem Truppenärzte die Gelegenheit gegeben, die Einwirkung 
eines körperlichen oder psychischen Traumas unmittelbar zu beobachten. Diese 

*) Eine gute Übersicht gibt die Arbeit von H. Vogt in dem Buche: „Die Kriegsbeschä- 
digungen des Nervensystems“. Wiesbaden 1917. Verlag J. F. Bergmann. S. ferner auch bes. 
H. Oppenheim: „Die Neurosen infolge Kriegsverletzungen“. Berlin 1916. S. Karger. 


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Karl Kroner 


Beobachtungen gewinnen an Interesse dadurch, daß sie als Experiment im größten 
Umfange an einem ziemlich gleichartigen Menschenmaterial angestellt sind, das 
noch dazu vorher dem Arzte bekannt ist. 

Es liegen bereits mehrere Arbeiten von Truppenärzten, auch von neurologisch 
vorgebildeten, über diesen Gegenstand vor. Ich erwähne besonders die lesenswerten 
Aufsätze von Jolowicz 1 ), Münzer 2 ), Rohde 8 ), Vexberg 4 ), Boström 5 ) u. a. 
Ein Teil dieser Arbeiten ist in der ersten Zeit des Krieges erschienen. Es fehlt 
daher die Berücksichtigung der Einflüsse, die als besonders begünstigend.auf das 
Eintreten von nervösen Folgezuständen angesehen werden, nämlich der chronischen 
Erschöpfung und der gesteigerten Wirkung der Kampfmittel. Gerade die Berück¬ 
sichtigung dieser Momente ist aber unumgänglich notwendig. 

Es sei daher nachstehend kurz über die Erfahrungen berichtet, die Ver¬ 
fasser als Truppenarzt im Westen während dreier Jahre sammeln konnte (mit 
einer mehrmonatigen Unterbrechung, während welcher Zeit er Gelegenheit hatte, 
in einem Kriegslazarett neurologische Fälle zu beobachten). 

Es soll zunächst die Frage kurz erörtert w’erden: Kann ein gesundes Nerven¬ 
system die ungeheuren Anforderungen, die der Krieg besonders in Großkampf¬ 
gebieten stellt, ohne Schädigung ertragen? Die Beantwortung dieser Frage 
scheint mir auch über das vorliegende Thema hinaus von Bedeutung zu sein. 
Hier bietet nun die Beobachtung einer im Kampfe stehenden Truppe ein unschätz¬ 
bares Material, dessen Bearbeitung kaum erst begonnen hat. Unsere bisherigen 
fast ausschließlich in Lazaretten hinter der Front sowie im Heimatsgebiete ge¬ 
wonnenen Erfahrungen reichen zur Beantwortung der Frage nicht aus. Denn das 
hier zusammenströmende Material ist naturgemäß einseitig. Der im Lazarett tätige 
Arzt sieht eben nur diejenigen, die versagt haben. Es ist aber hinterher oft sehr 
schwierig, wenn nicht unmöglich, festzustellen, ob es sich um vorher völlig Gesunde 
gehandelt hat oder nicht. Wo objektive Symptome fehlen (und sie fehlen recht 
häufig) ist der Arzt auf die eigenen Angaben des Untersuchten angewiesen. 

Mit wie großer Vorsicht die Vorgeschichte aber gerade auf diesem Gebiete 
verwertet werden muß, weiß jeder erfahrene Neurologe. Schon das weit ver¬ 
breitete Vorurteil, das dem nervös Belasteten anhaftet, wird manchen veranlassen, 
frühere nervöse Erkrankungen zu verschweigen. Dies gilt besonders für Psycho¬ 
pathen und Epileptiker, auf deren „Kriegsfreudigkeit“ als geradezu charak¬ 
teristisches Symptom neuerdings erst Hauptmann 6 ) mit Nachdruck hingewiesen 
hat. Bei anderen wird die, wenn auch unbegründete, Besorgnis, bei bereits vor¬ 
handener nervöser Erkrankung in der Rentenabmessung benachteiligt zu werden, 
die Veranlassung zum Verschweigen geben. Am häufigsten jedoch wird eine 
nervöse Belastung oder Erkrankung durchaus bona fide nicht angegeben werden. 
Viele Belastete versagen eben erst, wenn eine stärkere Beanspruchung eintritt; 
eine solche wird aber, da es sich bei der Truppe vorwiegend um jüngere Menschen 


] ) Zeitschrift f. d. ges. Neurologie und Psychiatrie 36, H. 1 und 2. 

*) Beri. klin. Wochenschrift 1915, S. 10. 

3 ) Zeitschrift für die gesamte Neurologie. D. 29, S. 379. 

4 ) Wiener med. Wochenschrift. 1915. S. 27. 

*) Med. Klinik. 1917. Nr. 50. 

6 ) „Ober Epilepsie im Lichte der KriegserfahrungeD“. Berlin 1917. Springers Verlag. 


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Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an der Front. 267 


handelt, oft vor dem Kriegsdienst noch nicht erfolgt sein. Kurz, es ergibt sich 
hieraus, daß die in den Lazaretten, besonders denen des Heimatsgebietes, ge¬ 
wonnenen Erfahrungen zur Beantwortung der Frage, wie ein gesundes Nerven¬ 
system auf die akuten und die chronischen Schädigungen des Frontdienstes reagiert, 
nur mit großer Vorsicht zu verwenden sind. Auch die Statistik versagt hier. 
Wir können wohl feststellen, wie groß der Prozentsatz der an Neurosen (dieser 
Begriff im weitesten Sinne genommen) Erkrankten ist; wieviel vorher Gesunde 
sich aber darunter befinden, sagt uns die Statistik nicht, und sie kann es uns 
auch nicht sagen, da sie zu Verschiedenartiges zusammenfaßt. 

Meine Beobachtungen wurden zunächst angestellt an einem fast ausschließlich 
aus jungen Kriegsfreiwilligen bestehenden Truppenteil, später bei einer aus den 
verschiedensten Altersklassen (mit Ausnahme der ältesten) gemischten Truppe, die 
wiederholt in den schwierigsten Kampfabschnitten eingesetzt wurde. 

Das Ergebnis war aber überall fast das gleiche; Lähmungen und Kontrak¬ 
turen, Zitterzustände, kurzum das Heer der Krankheitsbilder, die in den Heimat¬ 
lazaretten das Gros bilden, gehören bei der kämpfenden Truppe zu den größten 
Seltenheiten. So sah ich im vergangenen Frühjahr an einem Brennpunkte des 
Kampfes auf einem Verband- und Sammelplatz, dem zunächst fast alle Ver¬ 
wundeten und Kranken eines Divisionsabschnittes zuströmten, während eines Zeit¬ 
raumes von 8 Tagen nur einen einzigen Fall von Stupor mit chorea-ähnlichen 
Zuckungen. Dieser Zustand war in vorderer Stellung eingetreten. Über die Vor¬ 
geschichte war nichts Näheres zu erfahren. 

Nimmt man aber bei derartigen Kranken später im Lazarett, nach Abklingen 
des akuten Stadiums, die Anamnese auf, so wird man fast regelmäßig als ver¬ 
meintliche Ursache hören, der Zustand sei eine Folge einer Verschüttung oder 
einer in unmittelbarer Nähe erfolgten Granatexplosion. 

Diese immer wiederkehrenden Angaben sind nun in die Literatur über¬ 
gegangen, und sie haben bei der Erörterung der Frage, ob es sich hier um lediglich 
funktionelle Zustände oder um die Folge einer Erschütterung handelt (die man 
sich wieder mehr oder minder organisch bedingt oder auf molekularen Er¬ 
schütterungen beruhend vorstellen kann), eine große Rolle gespielt. Es muß daher 
auf diese Frage etwas genauer eingegangen werden. 

Daß eine Granate beim Krepieren eine kolossale Luftdruckschwankung 
hervorbringt, ist bekannt, und ganz besonders gilt dies für die schwereren Kaliber 
und für die Minen, deren Anwendung im Stellungskrieg immer mehr zugenommen 
hat. Der Überdruck im Augenblick der Explosion beträgt etwa 500 Atmosphären. 
Daß dieser Druck, um sich auszugleichen, einen großen Radius erfordert, zeigt 
schon die Erfahrung, daß zum Beispiel bei Beschießung einer Ortschaft die Fenster¬ 
scheiben meist in einem Umkreis von mehreren 100 Metern zerspringen. 

Wie rasch der ungeheure am Ort der Explosion entstandene Luftdruck 
absinkt, wie lange er überhaupt einwirkt, und ob es sich um ein einfaches, zur 
Peripherie fortschreitendes Absinken oder ob es sich um Verdichtungs- und Ver¬ 
dünnungswellen handelt (vgl. Ho che, Med. Klinik 1917, Nr. 34), darüber ist noch 
wenig bekannt. Fest steht jedoch, daß der Luftdruck in der Nähe der Einschlags¬ 
stelle hinreicht, um nicht nur Menschen, sondern sogar viele Zentner schwere 
Gegenstände weit fortzuschleudern. Daher sehen wir nicht selten bei Explosionen. 


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Karl Kroner 


besonders wenn der Anprall des durch die Gewalt der Explosionen fortgescldeuderten 
Körpers, gegen unnachgiebigen Boden, die Wand des Schützengrabens oder der¬ 
gleichen erfolgt, schwere mechanische Verletzungen, wie Knochenbrüche und Kon¬ 
tusionen, und bei stärkerem Anprall des Schädels sehen wir das bekannte Bild 
der Commotio cerebri. Die hierdurch bedingten Schädigungen bieten aber nichts 
für die Luftdruckwirkung als solche Charakteristisches. Denn an sich ist es für 
den Mechanismus des Zustandekommens der Commotion gleichgültig, ob der Be¬ 
wegungsimpuls durch Fortgeschleudertwerden des menschlichen Körpers infolge 
des Luftdrucks oder zum Beispiel durch Fortschleudern aus einem Gefährt erfolgt, 
oder ob endlich eine bewegte Masse gegen den ruhenden Körper geschleudert wird. 

Die Frage ist vielmehr so zu stellen: Kann der Luftdruck allein zu einer 
Erschütterung und dauernden Schädigung des Zentralnervensystems führen? Diese 
Frage muß ich nun im Gegensatz zu den Angaben besonders von v. Sarbo, 
Ravaut u. a. durchaus verneinen. Ich habe trotz einer recht ausgedehnten 
Beobachtungsmöglichkeit niemals etwas Derartiges gesehen. Bei den langdauernden 
Stellungskämpfen ist das Krepieren von Granaten in der Nähe von Posten, Unter¬ 
ständen usw. etwas so Gewöhnliches, daß bei der Möglichkeit einer reinen 
Luftdruckwirkung eine schädliche Einwirkung bei der großen Mehrzahl der Kriegs¬ 
teilnehmer eingetreten sein müßte. Es dürfte wohl wenige Kämpfer in der 
vordersten Linie geben, in deren unmittelbarer Nähe nicht wiederholt Granat¬ 
einschläge stattgefunden hätten. Im Stellungskampf kommt noch dazu, daß der 
Einschlag meist in der Nähe der Gräben und Unterstände erfolgt, in denen der 
Ausgleich der Luftdruckschwankung viel unvollkommener erfolgt als im Freien. 
Freilich muß man auch hier eine verschiedene Widerstandsfähigkeit der Organismen 
voraussetzen, aber diese kann bei einem mechanisch wirkenden Agens nicht so 
verschieden angenommen werden, um derartig weitgehende Unterschiede zu er¬ 
klären. Sehen wir doch, daß auch bei der Gehirnerschütterung durch Schlag 
oder Stoß die Widerstandskraft des Nervensystems keine sehr bedeutende Rolle 
spielt; diese kommt erst zur Geltung in der Art, wie die Folgen überwunden 
werden. 

Es ist aber hier noch ein Punkt zu beachten, der meines Wissens bisher 
nicht erwähnt worden ist: Das Zentralnervensystem ist gegen nicht unmittelbar 
einwirkende Gewalt durch seine Lage von Natur ganz außerordentlich ge¬ 
schützt. Von Knochen (mit darüber liegenden Weichteilen) völlig umgeben, in 
einer Flüssigkeit suspendiert, ist es den Luftdruckschwankungen völlig entzogen. 
Nur auf zwei Wegen können diese Schwankungen auf das Gehirn wirken: durch 
das Auge und durch den Gehörgang. 

Nun sind in der Tat von Augenärzten Schädigungen des Auges infolge des 
Luftdruckes beschrieben worden (Pachantoni) 1 ). Aber einmal sind diese Ein¬ 
wirkungen (Blutungen) in ihrer Ätiologie noch nicht genügend geklärt und zweitens 
beweisen sie nichts in der vorliegenden Frage. Denn selbst wenn eine Verletzung 
des Auges lediglich durch den Luftdruck möglich sein sollte, so ist damit noch 
nicht gesagt, daß nun auch das Gehirn beschädigt wird, eher im Gegenteil: Das 
hinter dem Bulbus liegende orbitale Fettpolster würde alsdann den Stoß elastisch 


') Revue inöd. de la Suisse romande 1917, Nr. 4, ref. in Neur. C. 1917, Nr. 11. 


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Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an der Front. 269 


auffangen. Auch bei unmittelbar auf das Auge wirkender schwerer Gewalt sehen 
wir ja keine Fortleitung des Stoßes auf das Gehirn. 

Der zweite Weg ist der durch das Ohr. Am Gehörorgan sind nun Schädigungen 
gar nicht selten; sie sind gut bekannt und genau beschrieben. Hier haben wir es 
also in der Tat mit einer reinen Luftdruckwirkung zu tun, die zu Veränderungen 
des mittleren und namentlich des inneren Ohres führt. 

Schwerhörigkeit, sogar völlige Ertaubung, ist dabei häufig. Aus diesen 
Schädigungen des N. acusticus darf man jedoch nicht schließen, daß auch andere 
Nervengebiete durch den Luftdruck getroffen werden können. Denn hier handelt 
es sich um einen nur übermächtigen adäquaten Reiz, der etwa in Parallele zu 
setzen ist mit der Schädigung des Nervus opticus durch Blendung. Gerade diese 
Fälle zeigen im Gegenteil, wie wenig das Zentralnervensystem auf die bei der 
Granatexplosion zustande kommende Luftdruckschwankung anspricht.' Denn ge¬ 
wöhnlich findet man gerade bei den nach Explosionen Ertaubten, bei denen also 
sicherlich die Einwirkung eine besonders große war, keine Erscheinungen einer 
weiteren Beteiligung des Nervensystems, während umgekehrt diejenigen, die nach 
einer angegebenen Explosion an Neurosen bezw. Psychoneurosen erkrankt sind, 
fast nie eine Beteiligung des N. acusticus zeigen. 

Nun sind allerdings, auch in der französischen und englischen Kriegsliteratur 
(Ravaut 1 ), Hurst 2 ) u. a.) Symptome beschrieben worden, die auf eine molekulare 
oder auch auf eine gröbere organische Erschütterung hindeuten könnten, nament¬ 
lich Drucksteigerung des Liquor cerebro-spinalis und Auftreten von Eiweiß und 
Lymphozyten in demselben. 

Was das erstere anbetrifft, so handelt es sich wohl um Fälle, in denen eine 
commotio cerebri durch Fortgeschleudertwerden Vorgelegen hat. Ob indessen eine 
Liquorstauung nicht lediglich auch nach einem psychischen Trauma allein vorkommt, 
müßte erst noch festgestellt werden. Daß sie, wie die Blutdrucksteigerung bei 
traumatischen Neurosen, noch nach Jahren vorhanden sein kann, ist längst fest¬ 
gestellt. Bei dem innigen Einfluß, den der Schreck auf die Vasomotoren hat, wäre 
es durchaus möglich, daß eine entsprechende Einwirkung auch durch Vermittelung 
der Plexus chorioidei auf die Produktion des Liquor cerebro-spinalis zustande 
kommt. 

Wie das Auftreten von Eiweiß und Lymphozyten zu deuten ist, kann hier 
nicht näher ausgeführt werden. Vermutlich hat es sich in diesen Fällen um 
groborganische Schädigungen mit Blutaustritten gehandelt. Es wäre jedoch auch 
daran zu denken, ob nicht bei einer bestimmten neuropathischen Konstitution, 
entsprechend der Vermehrung der Lymphozyten ira Blut, auch eine solche im 
Liquor vorkommt. Untersuchungen hierüber liegen meines Wissens nicht vor. 

Für die eben dargelegte Anschauung gibt es endlich noch einen zwingen¬ 
den Beweis: Würde der Luftdruck allein zu Schädigungen des Zentralnerven¬ 
systems führen, dann müßte man diese am häufigsten und am reinsten in den 
Fällen finden, in denen die Luftdruckwirkung am größten gewesen ist, d. h. bei 
denjenigen, die dem Orte des Einschlags am nächsten waren: das sind die Schwer¬ 
verwundeten. Denn bei der Sprengwirkung der modernen Geschosse ist es klar,. 

•) Press. m<d. 1915, Nr. 39, ref. in Neur. C. 1911, Nr. 1. 

*) British, med. journ. 1917, 29. September, ref. in Neur. C. 1918, Nr. 5. 


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Earl Kroner 


daß ceteris paribus die Verletzungen um so schwerer und um so zahlreicher sein 
werden, je näher sich der Verwundete der Einschlagstelle befunden hat. Gerade 
bei Schwerverletzten habe ich aber Luftdruckwirkungen niemals feststellen können, 
wie ja auch nervöse Spätfolgen bei dieser Kategorie sehr selten sind. Ich fand 
sie aber auch nicht bei Leichtverwundeten mit zahlreichen Verletzungen, die, nach 
der Verteilung und der Zahl der Verletzungen zu schließen, sich gleichfalls in 
unmittelbarer Nähe der Einschlagstelle befunden haben müssen. Bei dieser 
Kategorie von Verwundeten ergab sich durch das Fehlen der Shockwirkung ein 
noch klareres Bild. 

Ich möchte also mit Bestimmtheit sagen, daß eine Luftdruckwirkung allein, 
wenn sie überhaupt vorkommt, sicherlich recht selten ist, daß sie zumindest die 
zahlreichen Krankheitsfälle, die auf sie zurückgeführt werden, nicht erklärt. 

Wie ist nun diese häufige Angabe der Erkrankten zu erklären? Sie erklärt 
sich sehr einfach, wenn man die Soldaten genau über den Hergang befragt. Da 
ergibt sich dann gewöhnlich, daß die Betreffenden in ihren Angaben unsicherer 
werden und dann meist zugeben, daß sie den Hergang nicht wüßten, da sie 
plötzlich bewußtlos geworden seien. Häufig geben sie dann auch zu, von einem 
Einschlag in der Nähe nichts zu wissen. Aber selbst wenn ein solcher statt¬ 
gefunden haben sollte, möchte ich die Wirkung nicht als Luftdruckwirkung, 
sondern einfach als Folge des Schrecks und des starken akustischen Keizes auf¬ 
fassen. Die reine Luftdruckwirkung zeigt sich beim Gesunden, wie ich auch aus 
Selbstbeobachtungen bestätigen kann, abgesehen von der Einwirkung auf das 
Gehörorgan, lediglich in einer momentanen Erschwerung des Atmens, bisweilen 
auch in dem Gefühl, einen Schlag gegen den Leib erhalten zu haben (Druck auf 
die nachgiebigen Bauchorgane). 

Zusammenfassend möchte ich also sagen: die Tatsache, daß bei Schwer¬ 
verletzten Folgezustände, die als Luftdruckwirkung angesehen werden könnten, 
fast ausnahmlos fehlen, daß derartige Folgen auch bei sicherer Luftdruckwirkung 
auf das Gehörorgan fast stets vermißt werden, wehrend andererseits bei den 
infolge angeblicher Granatexplosion in der Nähe Geschädigten fast stets Ver¬ 
letzungen fehlen, diese Tatsachen zeigen mit größter Wahrscheinlichkeit, daß das 
Zustandekommen dieser Zustände auf rein psychische Einflüsse zurückzuführen ist. 

Zu erwähnen wäre hier allerdings, daß unter bestimmten Voraussetzungen 
bei Explosionen Schädigungen des Nervensystems durch Kohlenoxydvergiftung 
eintreten können. Diese Möglichkeit ist besonders in Sprengtrichtern und in 
Unterständen gegeben, in denen das infolge seiner Schwere nach unten sich 
senkende Kohlenoxyd nicht abfließen kann. Auf diese Weise zustande gekommene 
Kohlenoxydvergiftungen habe ich wiederholt gesehen. In den Fällen, die ich 
verfolgen konnte, trat indessen meist nach wenigen Tagen völlige Erholung ein; 
nur einige wenige erholten sich nicht so rasch. Diese klagten über Mattigkeit 
und leicht eintretende Erregbarkeit, sie boten das Bild, das uns aus der Literatur 
bekannt ist, das uns hier jedoch nicht weiter interessiert. Denn wir haben hier 
nichts anderes vor uns als den zum Beispiel bei der Leuchtgasvergiftung vor¬ 
kommenden Symptomenkomplex. 

Die zweite, häufig von den nervös erkrankten Soldaten angeschuldigte Ursache 
ist, wie oben erwähnt, die Verschüttung. Auch hier ist zunächst an eine grob- 


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Zur Frage der Kriegsneurosen auf Grund von Beobachtungen an der Front. 271 


mechanische Einwirkung bzw. eine molekulare Erschütterung zu denken, und sie 
kommt zweifellos auch vor. Wird ein Mann zum Beispiel beim Einstürzen einer 
Grabenwand verschüttet, dann kommt es meist zu schweren Quetschungen, die 
natürlich auch Schädel und Wirbelsäule und damit das Zentralnervensystem in 
Mitleidenschaft ziehen können. Daß man derartig Verschüttete iu Behandlung 
bekommt, ist aber ziemlich selten, da beim Einstürzen von größeren Erdmassen 
gewöhnlich der Tod durch Erstickung eintritt. 

Wird vorwiegend der Rumpf von der Verschüttung getroffen, dann werden 
schwere innere Verletzungen die Folge sein. Kurz: bei einer Verschüttung durch 
schwere Erd- oder Gesteinsmassen werden umfangreiche organische Verletzungen 
im Vordergründe des Krankheitsbildes stehen. Eine etwaige Schädigung des Zen¬ 
tralnervensystems spielt dabei eine durchaus sekundäre Rolle. 

Gewöhnlich wird mm aber von einer Verschüttung da gesprochen, w r o dieser 
Ausdruck nicht am Platze ist. Meist handelt es sich nur darum, daß eine in der 
Nähe krepierende Granate Erdbröckel und Gesteinstrümmer aufwirft, die, wenn 
es sich um kompakte Massen handelt, wie bei Gesteinstrümmern, grobmechanisch 
wirken, während bei der Überschüttung mit Erde dieser Vorgang an sich gar keine 
Rolle spielt, sondern lediglich die Shockwirkung infolge des Schrecks, der Glaube 
verletzt zu sein, in Frage kommt. 

In diesen Fällen werden wir bei näherem Befragen gewöhnlich auch von 
dem Verletzten die Auskunft erhalten, daß er bewußtlos gewesen sei. Die Einzel¬ 
heiten sind dann meist nur aus Angaben der Kameraden, die Augenzeugen 
gewesen sind, zu entnehmen. Gewöhnlich ergibt sich dann, daß eine Verschüttung 
überhaupt nicht eingetreten ist, sondern daß ein Zustand von Stupor durch 
Schreck, eine mehr oder weniger tiefe und langdauernde Bewußtlosigkeit mit 
retrograder Amnesie Vorgelegen hat. Die Angaben des Mannes selbst werden 
jedoch von Lazarett zu Lazarett immer bestimmter, und nur darauf ist es wohl 
zurückzuführen, daß in den Krankheitsgeschichten der Lazarette, besonders der 
Heimatlazarette, so häufig eine Verschüttung als Ursache nervöser Störungen an¬ 
gegeben wird, wo es sich um nichts weiter handelt, als um die Folge eines 
psychischen Traumas. 

Besonders trifft das zu für die Fälle, bei denen eine Verschüttung in einem 
Unterstände stattfand. Ist durch einen Treffer der Unterstand selbst eingeschossen, 
dann werden schwere Quetschungen und sonstige organische Verletzungen die 
Folge sein. Handelt es sich aber, wie häufig, um ein Verschütten des Eingangs 
zu einem Unterstände, so liegt ja eine eigentliche Verschüttung der Insassen 
gar nicht vor, sondern lediglich ein in diesem Falle besonders stark wirkendes 
psychisches Trauma, nämlich die Angst, lebendig begraben zu sein. Daneben 
kommen allerdings noch bei länger dauerndem Eingeschlossensein die Folgen des 
Sauerstoffmangels und der Kohlensäureüberladung der Luft, sowie eine etwaige 
Kohlenoxydvergiftung hinzu. 

Also auch bei der Verschüttung ist ebenso wie bei der Granatexplosion in 
den weitaus meisten Fällen, wenn nervöse Folgezustände auf treten, ein psychisches 
Trauma das auslösende Agens gewesen. Dafür spricht auch, daß auch hier die 
Folgezustände fast stets bei organisch nicht Verletzten beobachtet werden, während 
sie bei körperlich Schwerverletzten sehr selten sind. 


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272 


Karl Kroner 


Es ergibt sich somit, daß auch die anscheinend körperlichen Einwirkungen 
fast nur im Sinne eines psychischen Traumas sich geltend machen. Daß aber 
rein psychische Traumen imstande sind, die Krankheitsbilder zu erzeugen und zur 
Fixation zu bringen, die wir jetzt bei Kriegsteilnehmern beobachten, hat Gold¬ 
scheider 1 ) überzeugend nachgewiesen. Seine 1. c. niedergelegte Auffassung, daß 
es die Emotion, der Schreck ist, welcher dem Trauma diejenige Verbreitung und 
Fixierung der nervösen Unfallfolgen verleiht, welche dem rein somatischen Reiz 
an sich nicht zukommen, habe ich immer wieder bestätigt gefunden. Je mehr Ver¬ 
wundete man unmittelbar nach der Verletzung in der Feuerlinie gesehen hat, um 
so mehr kommt man zu der Überzeugung, daß das körperliche Trauma fast nichts, 
das psychische fast alles ist. 

Wie wirken nun diese psychischen Traumen auf den gesunden, nicht be¬ 
lasteten Kriegsteilnehmer? Die Antwort lautet, man muß schon sagen, merk¬ 
würdigerweise: außerordentlich gering. Jeder, der in einem Großkampfgebiet 
gewesen ist, jeder, der ein Trommelfeuer miterlebt hat, macht in wenigen Tagen 
eine Unzahl von körperlichen und seelischen Erschütterungen durch. Das Resultat 
ist nicht selten eine körperliche und seelische Erschöpfung, die sich aber selten 
in Reizerscheinungen, sondern eher in einer Abstumpfung zeigt, die sich namentlich 
bei den jüngeren Jahrgängen in der Ruhe sehr rasch wieder ausgleicht. Die 
Ursache für die Erschöpfungszustände sehe ich aber weniger in den voraus¬ 
gegangenen seelischen Erschütterungen als in dem bei starker Beanspruchung der 
Kämpfer stets vorhandenen Schlafmangel und der dauernden Anspannung der Auf¬ 
merksamkeit. Beides wirkt am meisten zusammen da, wo die Verantwortung am 
größten ist, d. h. bei Offizieren. 

Und in der Tat sehen wir auch bei Offizieren die Erschöpfungszustände 
relativ häufig und relativ schwer, während bei den Mannschaften, sobald Ruhe 
eingetreten oder Ablösung erfolgt ist, das Stadium der Erschöpfung sehr rasch 
überwunden wird. Ein schwerer dauernder Schaden tritt also bei einem ge¬ 
sunden Nervensystem in der Regel nicht ein, es handelt sich nur um ein akutes 
Erschöpfungsstadium, das, Schonung vorausgesetzt, ohne Residuen vorübergeht. 
Wie die häufige Wiederholung derartiger Zustände wirkt, soll noch erörtert 
werden. 

Während der Dauer der stärksten körperlichen und seelischen Beanspruchung 
hat der Beobachter jedenfalls durchaus den Eindruck, daß durch die Anspannung 
der Aufmerksamkeit und die Masse besonders der akustischen Eindrücke eine Er¬ 
höhung der Reizschwelle eintritt, die, ich möchte fast sagen, den Weg für, ein 
psychisches Trauma sperrt. Vielleicht erklärt dies auch, daß, worauf Hirschlaff 2 ) 
neuerdings hinweist, über die Erscheinungen einer traumatischen Neurasthenie 
hinausgehende Störungen bei Fliegern sehr selten sind, während nervöse Er¬ 
schöpfungszustände nach längerer und stärkerer Beanspruchung öfter beobachtet 
werden. Nur diese Sperrung, zu der mit der Zeit auch Gewöhnung an Gefahr 
und Abstumpfung eintritt, ermöglicht es dem Soldaten, die seelischen Strapazen 
des Krieges jahrelang auszuhalten. Bestände sie nicht, dann würden in der Tat 


*) Dtsch. m. W. 1916, Nr. 46. 
a ) B. kl. W. 1918, Nr. 15. 

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Zur Frage der KriegsneuroBen auf Grund von Beobachtungen an der Front. 273 


die Befürchtungen begründet sein, die vor dem Kriege und auch in der ersten 
Zeit des Krieges geäußert wurden, dann würde kaum einer, der lange in der Front 
war, ohne Schädigung seines Nervensystems heimkehren. 

Wie sehr die auf das Nervensystem einstürmenden Eindrücke ausgeschaltet 
werden, zeigt auch das Verhalten im Schlafe. Der Schlaf des Soldaten in der 
Feuerlinie ist meist sehr fest, man sieht selten unruhige Bewegungen, hört Selten 
ein abgerissenes Wort. 

Wie ich auch durch häufiges Befragen festgestellt habe, ist der Schlaf meist 
traumlos; der Traum berührt, wenn überhaupt militärische, gewöhnlich gleichgültige 
Angelegenheiten. Während des Tages erlebte schreckhafte Eindrücke gehen 
selten in den Schlaf über. Dieses Verhalten ist für mich direkt ein Kriterium 
geworden. Das Auftreten ängstlicher Träume in der Feuerliuie zeigt an, daß das 
Nervensystem nicht, oder nicht mehr intakt ist. Während der Ruhezeit, nament¬ 
lich in den ersten Tageh, werden dagegen die Ereignisse der voraufgegangenen 
Kampfperiode nicht selten im Schlafe weiterverarbeitet, hier ist das Auftreten 
von schreckhaften Träumen häufig, aber belanglos. 

In der Tat sieht man, daß eine Truppe nach einer meist sogar recht kurzen 
Ruhezeit wieder einen völlig frischen Eindruck macht, daß die akuten Schädigungen 
der voraufgegangenen Kampfperiode anscheinend restlos überwunden sind. Aber 
doch nur anscheinend. In Wirklichkeit wird, zumindest bei einigen, eine Dis¬ 
position, eine erhöhte Bereitschaft zum Auftreten eines Reiz- oder Erschöpfungs¬ 
zustandes Zurückbleiben, es wird bei der nächsten Beanspruchung eher die Toleranz¬ 
grenze erreicht sein. 

Es ist dies eigentlich auch selbstverständlich und deckt sich vollständig 
mit den Erfahrungen, die wir im Frieden auf den Gebiet des bürgerlichen Berufs¬ 
lebens machen. Auch hier sehen wir, daß eine dauernde starke Inanspruchnahme 
selbst bei Unbelasteten, wenn auch bei diesen erst spät und nicht sehr hochgradig, 
allmählich zu einer reizbaren Schwäche des Nervensystems führt. Wir sehen aber 
dann fast nur die Krankheitsformen, die in das Gebiet der Neurasthenie und der 
Erschöpfungszustände gehören. Wieweit sie durch Störungen des endokrinen 
Gleichgewichts bedingt sind, bedürfte noch näherer Untersuchung. 

Zu einer hochgradigen Ausbildung dieser Zustände kommt es aber bei der 
Truppe infolge der den Kampfperioden folgenden Ruhezeiten in der Regel nicht. Sonst 
wäre es nicht möglich, daß das Gros der Soldaten nach bald vier Kriegsjahreu den 
ständig gesteigerten-Strapazen Stand hielte und zwar ohne subjektive Erscheinungen 
seitens des Nervensystems. Objektive Veränderungen, wenn auch nur solche ge¬ 
ringeren Grades, finden sich jedoch häufig. Bei der Untersuchung von Soldaten, 
die lange Zeit in der Front gestanden haben, fand ich fast regelmäßig eine Er¬ 
höhung der Haut- und Sehnenreflexe, ferner auch fast stets eine Steigerung 
der mechanischen Muskelerregbarkeit. Diese Anomalien, die ohne irgendwelche 
subjektiven Störungen bestanden, waren oft so erheblich, cftiß man sie beim 
Vorbringen von Klagen ohne weiteres als genügende objektive Unterlage be¬ 
trachtet hätte. 

Daß die Erlebnisse des Krieges allein im allgemeinen von einem intakten 
Nervensystem ohne wesentlichen Schaden überstanden w r erden, zeigen auch die 
Erfahrungen an Kriegsgefangenen, die auch durch neuere Arbeiten, wie die von 

Zeit*chr. L pby*ik n. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8/0. 18 


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274 K. Kroner, Zur Frage der Kriegsneuroaen auf Grund von Beobachtungen an d. Front. 


Imboden 1 ) und Hörmann 2 ) immer wieder bestätigt werden, wenn auch Mörchen, 
dem wir die erste und umfassendste Arbeit hierüber verdanken, sein urprüngliches 
Urteil eingeschränkt und modifiziert hat. Auf dieses Kapitel will ich, da mir 
eigene größere Untersuchungreihen fehlen, hier nicht eingehen. 

Dagegen möchte ich, da sie ein interessantes Seitenstück bieten, kurz über 
die Beobachtungen berichten, die ich an den Bewohnern des besetzten Gebietes 
in Frankreich und Belgien anstellen konnte; es liegen hierüber meines Wissens 
keine ausführlichen Arbeiten vor: 

Wenn auch aus der Feuerzone selbst die Bevölkerung in ihrem eigenen 
Interesse entfernt wird, so kommt es doch bei der immer größer werdenden 
Reichweite der Geschütze vor, daß weit hinter der Front gelegene, bisher ver¬ 
schonte Ortschaften beschossen werden. Namentlich hat aber die Gefahr der 
Fliegerangriffe erheblich zugenommen. Wenn nun natürlich auch kein Vergleich 
gezogen werden soll zwischen den Strapazen und Gefahren des Frontkämpfers und 
den Gefahren, denen die Bevölkerung des besetzten Gebietes ausgesetzt ist, so 
muß doch beachtet werden, daß es sich hier um ein wenig widerstandsfähiges, 
psychisch labileres Menschenmaterial handelt, das zudem fast ausschließlich aus 
alten Männern, Frauen und Kindern besteht. Trotzdem sind hier Neurosen, die 
auf die Kriegsereignisse bezogen werden müssen, selten. So sah ich in einem 
größeren Ort hinter der Front, der von Zeit zu Zeit beschossen wurde, nur einen 
einzigen Fall. Es handelte sich um eine Frau anfangs der 40er Jahre, bei der 
seit einer kurz vor dem Kriege vorgenommenen Hysterektomie Ausfallserscheinungen 
bestanden. Da ich mehrere Monate lang in diesem Städtchen Ortsarzt war, glaube 
ich nicht, daß mir weitere Fälle entgangen sind. 

Jedenfalls sah ich immer wieder, daß Beschießungen und Bombenabwürfe 
mit großer Ruhe, fast mit Fatalismus ertragen wurden. Ähnliches beobachtete 
ich auch an anderen Orten hinter der Front. Also auch hier dasselbe Ergebnis 
wie bei den Kriegsgefangenen: Neurosen sind selten, Zitter-, Krampf- und Lähmungs¬ 
formen fehlen fast völlig. Besonders auffallend war dies bei den Franzosen und 
Belgiern, die durch die Geschosse ihrer eigenen Landsleute verwundet waren. 
Meine Beobachtungen hierüber beziehen sich naturgemäß auf ein relativ geringes 
Material. Es wäre wünschenswert, wenn hier ausgedehntere Untersuchungen vor¬ 
genommen würden. 

Zum Schluß möchte ich meine Erfahrungen wie folgt zusammenfassen: 

Die körperlichen und seelischen Strapazen des . Krieges werden 
von einem gesunden Nervensystem im allgemeinen ohne wesentlichen 
Schaden ertragen. Die Schädigungen sind hauptsächlich durch Er¬ 
schöpfung, besonders infolge Schlafmangels, bedingt. Sie bieten das 
bekannte Bild der Neurasthenie in ihren verschiedenen Abstufungen. 
Die Kriegserei^nisse wirken fast ausschließlich als psychisches 
Trauma, besonders durch Schreck; schwere Erkrankungsformen sieht 
man nur bei einem von vornherein minderwertigen Nervensystem. 
Wohl nur in diesen Fällen kommt es zum Auftreten der Krampf-, 

’) Das Neurosenproblem im Lichte der Kriegsneurologie. (Korresp. f. Schweizer Ärzte 1917, 
ref. in Neur. C. 1917, Nr. 19.) 

») Med. Kl. 1917, Nr. 26. 


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Kart Singer, Prinzipien and Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen, 


275 


Zitter- und Lähmungsformen, für deren Zustandekommen lediglich 
psychische, nicht organisch bedingte Momente verantwortlich zu 
machen sind. Auch Granatkontusion und Verschüttung sind nur als 
psychische Traumen anzusehen. Eine gleichzeitig erfolgte Verletzung 
mag auf Art und Ort der Reaktion von Einfluß sein; ihre Dauer und 
ihre Stärke sind jedoch einzig und allein durch die psychische Kon¬ 
stellation des Verletzten bedingt. 


IX. 

Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen. 

Von 

Dr. Kurt Singer 

in Berlin. 


Die aktive Therapie der Kriegsneurosen und besonders der veralteten Fälle, 
die uns in den Heimatlazaretten begegnen, ist jetzt in ein Stadium getreten, in 
dem von Versuchen und Tasten nicht mehr geredet werden kann. Sie ist ein 
zielbewußtes, durch wissenschaftliches Denken, theoretische Überlegung und 
praktische Erfahrung ausgebautes methodisches System geworden, an dessen Grund¬ 
linien und an dessen Wirksamkeit bei aller geringen oder reichen Variabilität 
nicht mehr gerüttelt werden kann. Diese Richtlinien eröffnen die weiteste und 
beste Perspektive auch für die Friedensarbeit bei den Unfallsneurosen aller Art; 
nur daß hier aus äußeren Gründen die Frage der Entschädigungsansprüche, der 
Rente eine noch größere Rolle spielen wird, während bei den neurotischen Soldaten 
die Heilung zunächst das ausschlaggebende Moment für unser Handeln sein muß. 

Eine jetjst schon nach Tausenden von Fällen zählende Erfahrung hat uns 
gelehrt, daß jeder auch noch so iriveterierte, noch so oft vergeblich behandelte 
Neurotiker symptomfrei gemacht werden kann. Für seinen bürgerlichen Beruf, 
für eine Arbeitsverwendung, also auch für die Frage der Dienstbeschädigung und 
Rente bedeutet aber Symptombeseitigung so viel wie Heilung. Die Disposition 
zur Neurose, all die inneren und äußeren Bedingungen zu einer Steigerung latenter 
nervöser Reizerscheinuügen, die Bereitschaft des Individuums zur Aufnahme und. 
krankhaften Verarbeitung späterer neuer seelischer Traumen können wir ihm 
selbstverständlich nicht nehmen. Wer aber über viele eigene Beobachtungen 
verfügt, der kann leicht feststellen, daß der Zusammenhang der äußerlich sicht¬ 
baren neurotischen Erscheinungen sowohl mit dem körperlichen Wohlbefinden 
als mit gemütlicher Stimmung und seelischem Gleichgewicht ein viel engerer und 
wohl auch viel gesetzmäßigerer ist, als das von vornherein sichtbar ist. Diese 
Frage bis zu Ende zu durchforschen, ist hier nicht der Platz, greift sie doch bis 
tief in den physio-psychischen Parallelismus des Lebens, überhaupt in das Ab- 


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Kurt Singer 


hängigkeitsverhältnis von Körper lind Geist, Bewegung und Seele hinein. Doch 
so viel kann gesagt werden, daß der Hysteriker in der Zeit seiner manifesten Er¬ 
scheinungen trotz guter Pflege herunterkommt, daß mit seiner Heilung sich mit 
einem Schlag Appetit, Eßlust, Gewichtszunahme, körperliche Frische, Gesundheit 
der Gesichtsfarbe zum Besseren wenden, und daß vor allem auch der Drang nach 
Betätigung und Dienst ■wachsen. Man staunt so oft, daß Kranke, die sich un¬ 
willig gegen eine „schon so oft“ geübte Heilprozedur sträuben, die in Wut und 
Erregung geraten, wenn von ärztlicher Behandlung, sicherer Heilung usw. ge¬ 
sprochen wird, daß Kranke, die heute noch mit dem bekannten, aus Leid, Unwillen, 
Verbitterung und hypochondrischer Depression (oft auch Hohn) gemischten Gesichts¬ 
ausdruck ungehörige Antwort geben, eine Stunde nach der Heilung freundliche, 
offene, zugängliche, frohe und oft arbeitsbeflissene Menschen geworden sind. 
Es ist, als seien sie einen Stein, eine Last von ihrer Seele los gewordenem der 
Art, wie die Soldaten das zum Ausdruck bringen — froh oder unlustig — zeigt 
sich auch retrospektiv noch der Grad der Übertreibung, die ja fast physiologisch 
zum Bild der Hysterie gehört 1 ). 

Diese Hebung des psychischen Wohlbefindens, diese seelische Veränderung 
beweist uns, daß durch die Kur ein drückender, ein „eingeklemmter“ Affekt 
(nach Freud) freigeworden ist. Dieser weit zurückliegende Affekt muß aufgedeckt 
werden; all die psychischen Bausteinchen, die das Mosaikbild der Neurose zu¬ 
sammensetzten, all die assoziativen Bindemittel, durch die das zeitlich und ur¬ 
sächlich Getrennte hier fixiert und vereint bleibt, der ganze Komplex von 
Krankheits-, Angst- und Wunschvorstellungen, von unbewußten und 
bewußten Abwehrmaßnahmen muß gesprengt, muß für immer zersetzt 
und zerfetzt werden. Das ist Sinn und Zweck der aktiven Therapie. 

Gegner der aktiven Therapie konnten nur auftreten, solange an der unhalt¬ 
baren und unmöglichen These von der organischen Grundlage der Kriegsneurosen 
mit oder ohne Einschränkung festgehalten wurde. Seit man weiß, daß genau die 
selben neurotischen Bilder des Zitterns, der Lähmung, des Stummseins, der Aphonie, 
der Krampfzustände mit photographischer und kinematographischer Treue auch ohne 
jedes körperliche Trauma auftreten, lediglich bedingt durch schreckhafte Eindrücke, 
aufregende Vorkommnisse und angstbetonte Erlebnisse in der Heimat, bei der mili¬ 
tärischen Übung, im Zug oder in den vier häuslichen Wänden, seitdem ist es den 
Einsichtigen unter den Gegnern auch klar geworden, daß die somatische, auch 
die aus Verlegenheit konstruierte molekular-somatische Ursache der Neurose zu den 
Akten zu legen ist. Die Neurose ist eine Abwehrmaßnahme des Organismus, der 
mehr oder weniger durch Belastung schon einen guten öder gut vorbereiteten 
Boden zur Aufnahme des neurotischen Infekts bietet. In der Neurose reagiert das 
Individuum die gesteigerten und eingeschlossenen Affekte ab, sie ist eine unbe¬ 
wußte Sicherung gegen das Auftreten und Überwuchern unlustiger, angstvoller 
Situationen, sie schließt, meist dem Individuum unbewußt, den Zweck in sich, 
Gefahren und seelisch-körperlichen Strapazen durch die Krankheit zu entfliehen. 
Dieser „Flucht in die Krankheit“ setzt sich die aktive Therapie als Mittel zur 
Flucht in die Heilung entgegen. Sie baut die Brücke, auf der das erkrankte 

') S. dazu meine Arbeiten zur Simulationsfrage in den Würzburger Abhandlungen XVI, 1 
und XVI, 6. 


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Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen. 


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Individuum zurückfindet in die spannungslose, affektfreie, gereinigte seelische 
Konstellation gesunder Tage. 

An diesem Prozeß der Spaltung, Sprengung und Verdrängung falsch einge¬ 
stellter Assoziationen muß sich nach unserem Erachten der kranke Soldat selbst 
beteiligen, soll das Heilresultat ein möglichst dauerndes sein. Deswegen ist die 
Hypnose nicht prinzipiell als Methode der Wahl anzuerkennen, denn hier erlebt 
und durchlebt der Kranke den Heilvorgang nicht im mindesten selber mit, er lebt 
vielmehr ohne eigenes Zutun aus der Krankheit durch Vermittlung eines traum¬ 
haften, kaum erinnerten Zustandes der Bewußtseinstrübung in die Gesundheit hinein. 
Auch bei starker Gegensuggestion gelingt es sehr oft nicht, diese oft gewünschte, 
dann verwünschte Willenlosigkeit für später zu bannen. Wie in der Hypnose 
durch einen Lufthauch (nämlich das Wort „werde krank“) das alte Bild der Neurose 
wieder hervorgerufen werden kann, so ist der Kranke konsequent auch bereit, jeden 
seelisch unangenehmen Eindruck hinter der Hypnose auch wieder als adäquaten 
Anlaß eines neurotischen Komplexes im Rückfall aufzufassen. Ich habe Rezidive 
bei Hypnotisierten gesehen, wenn die Tür des Krankensaales zugeworfen wurde, 
wenn ein Brief von daheim verspätet ankam, wenn ein Kamerad den einstmals 
Kranken hänselte. Auch gelingt weder jede Hypnose (wobei allerdings die Technik 
eine Rolle spielt), noch aber verschwinden immer die in der Hypnose beseitigten 
Symptome auch für die Zeit nach der Hypnose. Ich habe Zitterer gesehen, die 
in der Hypnose ihr Zittern verloren und unmittelbar nach dem Aufwachen, trotz 
reichlich gegebener Suggestion, wieder zitterten; Kranke also, die die Schläf- 
suggestion prompt, die Heilsuggestion aber kaum annahmen. Zuletzt sind mir mehrere 
Kranke in Erinnerung, bei denen auch das Einachläfern durch hervorragendste 
Hypnotiseure mißlang, weil die Kranken für die Erfassung des Sinns der Hypnose 
zu minderwertig waren. 

AU diese hemmenden Momente fallen bei der aktiven Methode der Therapie, 
wie wir sie meist üben, fort. Es gibt keinen Hysteriker, der ihr nicht zugängig 
wäre, es gibt kein Sympton, das durch sie nicht in einer Sitzung beseitigt werden 
könnte, es gibt keine Mißerfolge, und es gibt — nach unseren bisherigen kat- 
amnestischen Erhebungen — bei geeigneter müitärischer Verwendung kaum Rezi¬ 
dive. Man tut gut, die Angstneurosen und die schweren Psychopathen von der 
Therapie, wie sie in Hornberg und bei uns geübt wird, auszuschüeßen; diese 
Kranken sind ebenso wie die konstitutioneU Nervösen, Depressiven und die Cyclo- 
thyrnen für die konservative medikamentöse, psycho-analytische und sonstwie rein 
suggestive (auch hypnotische) Art der Behandlung zu reservieren. Sie bieten 
auch für ein sehr aktives Eingreifen meist weniger Handhabe und Anlaß. 

Wir wenden die aktive Therapie bei aUen Formen der psycho-motorischen 
Neurose an, besonders also bei folgenden Symptomkomplexen: Zittern und Schütteln, 
Tic und Krampfzuständen, Haltungs-Anomalien des Körpers, der Wirbelsäule, der 
Schulter, psychogener Lähmung und Kontraktur, Pseudo-Ischias und Lumbago- 
Schmerz, Aphonie, Stottern, Stummheit, Amblyopie und Schwerhörigkeit, Pseudo¬ 
demenz, Stupor, Enuresis, Singultus, Vomitus. Es ist von selbst verständlich, daß 
eingehendste körperliche Untersuchung und der Versuch, in den psychischen Zu¬ 
sammenhang zwischen Schreckerlebnis und Neurose einzudringen, dem Behandlungs¬ 
akt vorhergeht. Eine gewisse Vorbereitungszeit, in der der Kranke im Bett liegt 


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Kart Singer 


und der starken Suggestion des Heilmilieus (durch Gespräche mit früher behandelten 
und geheilten Kameraden) ausgesetzt ist, wirkt zuweilen so gut, daß sich eine 
Therapie überhaupt erübrigt. In den letzten Wochen sind so innerhalb weniger 
Tage 10 Kranke auf dem Weg vom Krankensaal zum Behandlungsraum geheilt. 
Eine Idealmethode, der allerdings noch die Möglichkeit der Verallgemeinerung fehlt. 

Die Behandlung selbst ist, analog der Kehrerschen, eine Kombination aus: 
suggestiven Einspritzungen in die kranken Organe, starker verbaler Beeinflussung, 
vermeintlicher Behandlung von Rückenmark und Nervensträngen mit unfühlbaren 
galvanischen Strömen bis zum Nachweis der völligen Gesundheit dieser Organe, 
starker faradischer Reizung der Schmerzpunkte im Gebiet der befallenen Partien, 
suggestive (scheinbare) Steigerung der Stromstärke bis zu den höchsten Graden 
(2000 Volt und mehr) unter lauten und anregenden Suggestionen, Betonung der 
Selbstarbeit und Willensanspannung des Kranken, Zwangsübungen und Zwangs¬ 
exerzieren. Alle diese Etappen der Heilung werden je nach der Lage des Falls 
variiert. Die Einzelheiten stärker oder schwächer, länger oder kürzer ausgedehnt, 
die scheinbare Stärke der Ströme abhängig gemacht von dem Mitgehen oder Ver¬ 
sagen des Kranken. Es gibt dabei kein Sichgehenlassen und Schwachwerden des 
Patienten. Der militärische Ton bleibt auch gewahrt, wenn er nicht rigoros wird, 
das Odium der Strafe fehlt vollkommen, die ganze Prozedur muß in jedem Augen¬ 
blick wie ein wohlvorbereiteter, gerade für das zu behandelnde Individuum speziell 
zusammengesetzter Heilplan wirken. Eine Marter nur für den AAt, der in schweren 
Fällen auch 1 bis 2 Stunden bei dem Kranken lehrend, übend, zuredend und behan¬ 
delnd ausharren muß; für den Kranken nur anstrengend, wenn er eine mala voluntas 
gegen den eindringenden Heileffekt stemmt. Durchschnittlich dauert die suggestive 
Vorbehandlung (die im einzelnen nicht beschrieben werden kann) 5 bis 10 Minuten, 
die eigentlich elektrische und Übungsbehandlung 10 bis 20 Minuten. 

Was nützt die aktive Therapie und welche Grenzen sind ihr gezogen? Zu 
allererst werden mit absoluter Sicherheit die krankhaften, äußerlich sichtbaren 
Symptome beseitigt. Damit, sagen manche, sei noch nicht viel gewonnen. Man 
könnte ja allerdings darauf vergleichsweise hinweisen, daß man einen Kranken 
noch nicht geheilt hat, wenn man eine äußerlich fühlbare karzinomatös oder 
syphilitisch verhärtete Drüse entfernt hat, wenn man nach einem Hirnschuß den 
Prolaps abträgt. Der Kranz, der Boden, der Keim der Krankheit bleibt unaufhörlich 
wuchernd und stets bereit, sich wiederum äußerlich sichtbar zu machen. Es ist aber 
schon oben gezeigt, daß die gesamte Persönliclikeit mit all ihren Vorstellungen, 
Affekten, Wünschen und Abwehr-Reaktionen durch das Befreien von lästigen Krank¬ 
heitssymptomen zum Guten verändert wird. Die Trägen arbeiten, die Unfreund¬ 
lichen werden umgängig. Das, was äußere Einflüsse an dem seelischen Gleich¬ 
gewicht unserer Soldaten verschieben konnten, das vermag die erfolgreiche Therapie 
auch wieder auszugleichen. Solche Leute sind in nicht viel anderem Sinne „geheilt“, 
als Leute mit Gelenkrheumatismus, Spitzenkatarrh, Ischias, Nephritis, auch allen 
möglichen muskulären und endokarditischen Herazffektionen. Setzt man derartige 
Patienten wieder der Möglichkeit aus, mit den gleichen schädigenden ätiologischen 
Faktoren zusammenzutreffen (Durchnässung und Überanstrengung beim Marsch, 
Infekte u. a.), so rezidiviert auch der Kranke dieser Art, der Organiker. Nur vom 
Neurotiker verlangt man, in Anerkennung der Gefahr, die das Anwachsen dieses 


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Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen. 


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St amm es bedeutet, in Überschätzung aber seiner militärischen Ausnutzungsmöglich¬ 
keit, daß er rezidiv-frei geheilt werde. Nirgendwo ist man so kritisch, so 
skeptisch, so nervös-befangen und anspruchsvoll in der Beurteilung 
eines Gesundheitszustandes, wie beim Hysteriker. Die seelischen Schä¬ 
digungen sind einschneidender, aber sie sind auch nicht seltener, als die Schäden 
durch Infektion, Erkältungen, körperliche Überanstrengung. Die einen Faktoren 
werden wohl für die Rheumatiker, die Herzkranken, .Lungenkranken u. a. ähn¬ 
liche Bedeutung haben wie die psychischen Einflüsse für die Nervösen. Für die 
einen wie für die andern droht im Bereich der ätiologischen Schädigungen das 
Rezidiv. 

Nun ist in der Tat der objektive Nachweis der Neurose nicht so einfach wie 
bei inn erlich Kranken oder dem Organiker. Und man könnte sagen: auch die 
Lust an der Neurose, das Hineinleben in diesem ganzen diffizilen Mechanismus 
ist nicht so ganz wegzudisputieren, die Flucht in die Krankheit wird immer 
wieder einsetzen, wenn ein anderer Weg, ängstlicher, erregender, affektbetonter 
Situationen Herr zu werden, versperrt ist. Aber wenn von hundert oder tausend 
Menschen, die derselben Gefahr, derselben Strapaze, denselben Einflüssen körper¬ 
licher und seelischer Art ausgesetzt sind, nach einem gleichen äußeren Schreckreiz 
nur einer oder zwei mit den Erscheinungen eines hysterischen Stotterns, eines 
generalisierten Tremors, einer Paraplegie der Beine antworten, so erweisen sich 
doch diese ein oder zwei Menschen als anders geartet, als anders disponiert, als 
hysteriebereiter, denn Hundert andere, eben durch die Schnelligkeit und Sicherheit 
ihrer krankhaften Reaktion. Das Gros dieser Leute ist erfahrungsgemäß stark 
belastet, von Haus aus seelisch oder bezüglich der allgemeinen Nervenkraft minder¬ 
wertig. Der kleinere Teil ist gesund und nur durch starke innere Erlebnisse für 
die Entstehung und Aufnahme psychogener Störungen vorbereitet. Solche mehr 
oder weniger mit dem Individuum verwachsene, angeborene oder erworbene Prädis¬ 
position kann natürlich auch die aktive Therapie nicht beseitigen. Kein Ein¬ 
sichtiger verlangt die Garantie des Gesundbleibens beim „geheilten“ Ulcus ventriculi, 
beim Lungeninfarkt, bei der Polyarthritis. Man soll den Bogen der Erwartung 
auch dem Neurotiker gegenüber nicht überspannen. Wir entlassen ihn nach 
dem Erfolg der aktiven Therapie auch nur mit einer Narbe, einer Narbe im Seeli¬ 
schen, im Gehirn, in der Erinnerung. Ist das ein Defekt der Heilung, so gibt es 
eben in der Medizin überhaupt noch keine Heilung. 

Durch die energische, dem Gedanken- und Gefühlskreis des Soldaten an¬ 
gepaßte aktive Behandlung zwingen wir den Kranken beredter und nachdrücklicher 
unseren Willen auf, als durch die hypnotische Suggestion. Seine Ausdrucksbe¬ 
wegungen werden einer Revision unterzogen, seine körperlichen Leistungen kon¬ 
trolliert, schiedsgerichtlich abgeurteilt und korrigiert, der Weg der Entstehung 
einer Neurose wird rückwärts verfolgt unter Zuhilfenahme nicht militärischer, aber 
aus soldatischem Geist geborener Erziehungsmethoden. Befehl und Ausführung 
des Befehls folgen sich hart aufeinander, wenn nötig unter Anbahnung entwöhnter 
Willensleistungen durch den Schmerz. Dabei wird die Übung nicht zum befehls¬ 
automatischen Moment, wie bei der Hypnose, sondern motiviert und deutlich ge¬ 
macht durch den Wegfall von Hemmungen, unter vollem Bewußtsein undganzer Ver¬ 
antwortlichkeit des zu Heilenden. Er erlebt die Heilung, erlebt den Genuß 


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Kurt Singer 


des Gesundwerdens. Strom, Schmerz, Gymnastik, Exerzieren, Arzt, Spritze und 
Wort werden Vehikel. Der Heilung ist die aktive Mitarbeit des Soldaten als 
Grundbedingung vorgestellt. Der Schock bei der ersten faradischen Muskelreizung 
überwiegt den vorher übermäßig wirksamen Schmerz; der Kranke, der aus Ge¬ 
wohnheit, aus Erinnerung an Unlustgefühle, aus der Erkenntnis heraus, daß sein 
bewegtes Bein mehr Schmerz erzeugt, als das ruhende, der aus all diesen wohl 
bewußten Momenten heraus sein Bein fixiert und schont, bewegt es ohne Hemmung 
wieder, wenn ihn die tetanisch'e Kontraktion durch den Strom davon überzeugt 
hat, daß die Anspannung, das Durchdrücken des Knies, die Mobilisierung der 
Gelenke ohne Schaden vor sich geht. Der Zitternde erkennt die Möglichkeit, 
daß seinem Schütteln durch eine äußere Macht schnell beizukommen ist; diese 
Erkenntnis, zusammen mit der Furcht vor einer Fortsetzung der elektrischen 
Prozedur erzwingt die subjektiv erhöhte Anspannung aller verloren gegangenen, 
in periphere Gebiete planlos abgeirrten Energie. Nicht viel anders ist es bei der 
Neuerweckung von Leistungen der Sinneswerkzeuge. Bei Auge und Ohr sind es 
die ersten, scharfen Reize, die eine dem Sinnesorgan spezifisch zukommende Emp¬ 
findung (Helligkeit, Blitz, Sausen, Geräusch) hervorrufen und dadurch die Kette 
der bisherigen defekten Empfindungen zerreißen. Bei der Heilung von Sprach¬ 
störungen (Aphonie, Mutismus) bewirkt die suggestive Vorbereitung zunächst eine 
erhöhte Einstellung auf den motorischen Stimmbänderakt. Die erste Phonation 
ist nichts als ein Schrei der Abwehr. Der aber genügt fast stets, um an ihn die 
Glieder des Vokal- und Wörtersprechens schnell anzuknüpfen. Es wirkt dabei 
sehr anregsam, wenn der Arzt seine eigene Erregung nicht verbirgt, d. h. die 
freudige Erregung beim Eintritt des „Wunders“. Auch eine gewisse überrumpelnde 
Schnelligkeit des Vorsprechens ist von Nutzen, eine Gehobenheit des Phonierens; 
ich habe immer das Gefühl gehabt, als käme aus dem Kranken das Echo des 
Heilenden zurück. Und der Vorwurf eines gewissen jugendlichen Schneids oder 
kurpfuscherischer Methodik bei der Heilung verschlägt nichts gegenüber der 
Promptheit und Sicherheit der Heilresultate; der Arzt, der bei aller Kenntnis 
des Wie der Heilung seinem wissenschaftlichen Wortschatz, seiner rein 
ärztlichen Schulbildung Opfer abverlangt, um Kranke gesund zu machen, 
ist viel weniger ein Kurpfuscher als der Arzt, der auf der Höhe der 
Lehrmeinungen stehend, mit Salben und Mixturen, mit Zureden und 
Analysieren, mit Beobachtung und Erziehung nicht zum Ziel kommt. 

Es ist auffallend, daß wir unter den hysterisch Stummen, Gelähmten, 
Zitternden, nicht öfter Menschen treffen, die wirklich leidend sind, d. h. denen 
die Beschwerlichkeit und soziale Bedrückung durch ihre Krankheitssymptome an 
den Augen, an dem Gesamtbild ihrer seelischen Verfassung abzulesen ist. Gewiß 
treffen wir auch in Neurotiker-Abteilungen auf Depressive, Hypochondrische, im 
ganzen seelisch mitgenommene, ramponierte Individuen; aber diese bieten eben 
das seelische Stimmungsbild als besonderen Krankheitszustand dar, gegen den eine 
aktive Therapie gar nichts verschlagen kann, ein Bild, das sich’s mit der gemüt¬ 
lichen Veränderung genug sein läßt. Im übrigen kann man ein Zurücktreten 
der permanenten psychischen Alteration beobachten, entsprechend der Zunahme 
der körperlichen Erscheinungen. Hysteriker mit Massensymptomen schwersten 
Formats sind oft in ihrem Wesen gleichmäßiger, psychisch ausgeglichener, indo- 


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Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen. 


281 


lenter, als solche mit einem einzigen, kräftig vorgetriebenen Symptom. Am nach¬ 
drücklichsten schien mir immer der leidende, unzufriedene, schwermütige Zustand 
im Gesicht der Zitterer ausgesprochen, während z. B. bei Gehstörung, Enuresis, 
Armlähmung sehr oft ein lebhaftes, ja auch heiteres Temperament der Leute nicht 
zu tangieren schien. Doch ist auch das sicher keine Regel; manchem Bettnässer 
z. B. ist auch sein Leiden entsprechend der Bedeutung in sozialer und erwerb- 
licher Beziehung voll und ganz zu Bewußtsein gekommen. Sowohl mündliche 
Berichte, wie schriftlicher Dank und die Wandlung der Gesichtszüge nach Be¬ 
seitigung des Zustandes, lassen diesen doch rückschauend als vom Patienten sehr 
quälend empfundenen erkennen. Ein gut Teil der völlig Gleichgültigen zeigte 
auch deutliche Zeichen der Degeneration oder geistigen Minderwertigkeit. Jeden¬ 
falls muß auch der Erfahrene mit einer in regelmäßigem Umgang mit Neurotikern 
gern (und mit Erfolg) geübten Diagnostik der Mimik vorsichtig sein. Denn es 
würde aus der Disrepanz zwischen Schwere des objektiven Befundes und Mangel 
an adäquaten seelischen Veränderungen gar zu häufig der Schluß gezogen werden, 
daß hier krasse Übertreibung oder Simulation vorliege. Bei der Schwierigkeit, 
die physiologischen Unterstreichungen der Hysteriker von dem zweckvoll und mit 
Ziel durchgeführten bewußten Übertreibungen der mehr oder weniger Gesunden 
zu unterscheiden, dürfte die nicht zu unterschätzende Beobachtung der Mimik 
jedenfalls nur eins der vielen differential-diagnostischen Hilfsmittel, und nicht 
einmal das wertvollste sein. Auch Simulationsverdächtige zeigen nach der Heilung 
eine Aufhellung ihres seelischen Habitus, zeigen sich durch Geste, Wort und Be¬ 
tätigung, die keinen Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit lassen, oft so verwandelt, 
daß man noch nachträglich zu der. Annahme gezwungen ist, hier sei ein wirklicher 
Krankheitsherd zur Freude des Patienten und des Arztes beseitigt.- 

Jede Methode, jeder Heilplan, jedes neue und alte Mittel haben und er¬ 
werben ihre Berechtigung durch die nachweislichen Erfolge. Diese will ich im 
folgenden für unsere aktive Therapie noch kurz nachweisen, wobei aus dienstlichen 
Gründen allerdings von zahlenmäßigen Belegen an dieser Stelle abgesehen werden 
muß. Es soll nicht bezweifelt werden, daß auch auf anderem Wege die gleichen 
Resultate erzielt werden, und daß sich Stimmen und Bedenken gegen eine Ver¬ 
allgemeinerung, sowie gegen manche unumgängliche Härten der von uns geübten 
Methode erheben könnten. Doch kommen sie gegenüber den Erfolgen gar nicht 
in Betracht. Prinzipielle Bedenken gegen andere Heilverfahren gerade bei den 
Soldaten habe ich oben vorgebracht. 

Die Art und Raschheit des Erfolges bei der aktiven Therapie bringt zu¬ 
nächst eine Veränderung der Aufnahme- und Entlassungsfrequenz der Patienten 
mit sich. Schon im ersten Vierteljahr, da wir aktive Therapie trieben, ist das 
deutlich und sicher, späterhin noch nachdrücklicher in Erscheinung getreten. Es 
prägt sich auch dadurch ein großer Unterschied gegen früher aus, daß ein An¬ 
wachsen der Dienstfähigkeit (in irgendwelchem Grade) aller unserer Neurotiker 
von 59 °/ 0 auf 79 °/ 0 zu konstatieren war. 

Einen besonderen Vorteil bietet dabei allerdings die jetzt generell geübte 
Methode, daß die von uns geheilten Neurotiker zur Arbeitstherapie und Einführung 
in ihren Beruf dem Kurhaus St. Georg (Hermsdorf) oder (seltene^) dem Lazarett 
Lankwitz überwiesen werden, wo derselbe therapeutische Geist herrscht, wie in 


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282 


Kurt Singer 

. - . 

unserem Lazarett 1 ). Selbstverständlich fallen die Verlegungen in ein anderes La¬ 
zarett zum Zweck der Behandlung (wie früher nach Hornberg) vollkommen fort. 
Unter den wenigen als kr. u. Entlassenen befindet sich kaum ein funktionell 
Kranker. Höchstens bei schwer degenerativen Psychopathen braucht man von 
dieser Regel abzugehen, der Durchschnitts-Hysteriker ist zumindest in seinem 
Beruf arbeitsverwendungsfähig nach Beseitigung seiner Krankheitssymptome. 
Unsere Erfahrungen über den Nutzen der Kriegs Verwendung bei den Neurotikern 
sind noch zu gering, als daß wir uns heute schon auf das Experiment einlassen 
könnten, die Leute gar zu häufig als k. v. zu entlassen. Man züchtigt damit nur 
(nach theoretischer Überlegung und gewissen Heimatbeobachtungen) die Rück¬ 
fälligen und füllt die Lazarette. Sicher soll der Hysteriker nicht eine Prämie er¬ 
halten für das Sichgehenlassen und die bewußten Übertreibungen, die oft genug 
unterlaufen. Aber der Dienst, der dem Vaterland durch Zuführung von 
militärischer Arbeitskraft geliefert wird, ist größer, wenn der ge¬ 
heilte Neurotiker an einen Platz hinter der Front gestellt wird, den 
er voll auszufüllen imstande ist, als wenn er in der Front zu einem 
unliebsamen Kameraden, schlappen Soldaten, zu einem dem Arzt und 
dem Truppenführer zur Last fallenden Nachläufer gedrillt wird. Die 
schlechte psychische Atmosphäre, die ein einziger Hysteriker mit Anfällen, 
Stimmungsschwankungen, Depression, zu verbreiten imstande ist, kann unheil¬ 
voller wirken und durch Ansteckung gefährlicher werden, als der Verlust von 
einem Dutzend gesunder Soldaten. Solange der echte Hysteriker als Kranker 
angesehen wird, solange taugt er gewöhnlich nicht zum Frontdienst, oder doch 
erst nach einer etappenweis durchgeführten Vorbereitung. Diese allein gehört 
zunächst zum Wirkungsbereich des Nervenarztes. Durch Heilung der Symptome, 
durch Turnen, psychische Abhärtung, allgemein-soldatische Erziehung, Arbeits¬ 
dienst führen wir allmählich dem Neurotiker die Energien zu, die ihn befähigen, 
beruflichen oder Gamisondienst zu leisten. Von hier führt der Weg aufwärts zu 
dem körperlich und nach Seite der gemütlichen Alteration wesentlich angreifenderen 
Frontdienst. Ohne zahlenmäßige Beweise geben zu können, sind wir überzeugt, 
daß viele der von uns als a. v. H. oder g. v. E. entlassenen Neurotiker nach 
rückfallos verstrichener Dienstzeit in dor Garnison auch wieder die nötigen Kräfte 
für den Felddienst in sich aufgespeichert haben und zur rechten Zeit in An¬ 
wendung bringen. Nur da, wo uns die Übertreibungen über das Maß des Physio¬ 
logischen sichtlich hinauszugehen scheinen, wo die Krankheitserscheinungen einen 
stark artefiziell gefärbten Beigeschmack haben, entlassen wir die Leute sofort aus 
dem Lazarett als k. v. Diese k. v. Entlassungen sind aus erzieherischen Gründen 
in Neurotikerlazaretten ab und zu durchaus am Platz. Die Aufnahme auf der 
Station soll nicht zur stillschweigend anerkannten Befreiung von irgend¬ 
wie möglichen militärischen Dienstleistungen werden. 

Der Fortschritt, den die generelle Einführung der aktiven Therapie bedeutet, 
ist aber besonders groß, w r enn w r ir nicht unsere eigenen früheren Beobachtungen 
in Anrechnung ziehen (wo doch auch bereits energisch behandelt wmrde), sondern 
die Beobachtungen aus anderen Lazaretten zur Hilfe nehmen. Da ist es denn 


*) Reserve-Lazarett „Nord“, Berlin. 


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Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen. 


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vor allem die Schnelligkeit der Heilung und die Kürze des Lazarettsaufenthalts, 
die schwerwiegend als Erfolge zu buchen sind. Da wir die Soldaten durch¬ 
schnittlich zur Vorbereitung, und damit das Heilmilieu ihnen in Fleisch und Blut * 
übergehe (Erzählungen der Kameraden, Beobachtung von Heilungen), 2 bis 3 Tage 
im Bett liegen lassen, bevor die Kur beginnt, so brauchen 250 Kranke bis zur 
Heilung insgesamt 500 Tage im Lazarett zu sein. Wenn durchschnittlich hinterher 
noch 8 bis 14 Tage weiter beobachtet wird, so wäre das für 250 Leute ein 
Gesamtaufenthalt im Lazarett von höchstens 3500 Tagen = 117 Monaten. 
Dieselben 250 ersten Kranken unserer aktiven Therapie hatten sich, bevor sie 
zu uns kamen, in anderen Lazaretten insgesamt 

29 160 Tage = 973 Monate 

aufgehalten. Dabei sind in dieser Zeit nicht eingeschlossen die Soldaten, bei 
denen die äußerlich sichtbaren Erscheinungen erst 2—3 Wochen bestanden, und 
ebenso diejenigen nicht, bei denen schon eine „Heilung“ eingetreten war und*die 
dann — nach längerer Dienstzeit — wieder rückfällig geworden waren. Diese 
Zahl und diese Riesendifferenz allein spricht mehr und deutlicher als jede 
theoretische Untersuchung. 

Als weitere, besonders eingreifende Änderung gegen frühere Verfahren, die 
nicht mit vollständiger und nicht mit schneller Beseitigung der Krankheitssymptome 
endeten, ist die Änderung der Rentensätze und die neue Einstellung in der 
Frage der Dienstbeschädigung zu buchen. Eine volle Dienstbeschädigung 
nehmen wir nur als vorliegend an, wenn auch der symptomfrei Gemachte noch 
psychische Veränderungen, also auch Veränderungen in seinem Verhalten der 
Umwelt, den Anforderungen des Lebens und der sozialen Betätigung gegenüber 
zeigt, die ihn als einen wirklich Geschädigten erscheinen lassen. Gewöhnlich 
ist bei von Haus aus Gesunden mit der Befreiung von der Symptomreihe auch 
der Status quo ante wiederhergestellt, sowohl bezüglich der körperlichen und 
nervösen Gesundheit, als auch hinsichtlich der Leistungsfähigkeit. Wir sind 
gerade nach den Erfahrungen des Kriegslebens nicht (oder nicht mehr) berechtigt, 
anzunehmen, daß die einmalige in Form des hysterischen Krankheitsbildes 
auf getretene psychogene Reaktion bereits als Ausdruck einer psychopathischen 
Belastung anzusehen sei. Wie gesagt wurde (Hoche), ist in diesem Kriege 
jeder Mensch, auch der unbelastete und robusteste, hysteriefähig. Wer 
körperlich und seelisch gesund war und durch Bombenwurf oder Granat¬ 
explosion einen generalisierten Tremor bekam, ist, nachdem der Tremor beseitigt 
wurde, wieder als gesund anzusehen, wofern die Aufgaben, die er fernerhin zu 
erfüllen hat, seiner allgemeinen körperlichen Konstitution angemessen sind. Dies 
ist aber fast durchweg der Fall für die als arbeitsverwendungsfähig zu Entlassenden. 
Andererseits sind fast alle Soldaten, die auch nach der Heilung in dem alt¬ 
gewohnten oder doch ähnlich gearteten Arbeitsmilieu wieder zusammenbrechen. 
von Haus aus schwächliche, degenerierte, psychisch minderwertige, kranke Individuen. 

In diesen Fällen kann ebenfalls der erste Schock im Kriegsdienst nur als eine Ver¬ 
schlimmerung, nicht aber als volle D. B. angesehen werden. Die bislang so häufig 
verliehenen Rentensätze von 50 bis 100 °/ 0 sind daher sämtlich zu streichen 
für die von Haus aus Gesunden, sind auf ein wesentlich geringeres Maß 


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Kart Singer 


(kaum je über 30 °/ 0 ) herabzusetzen bei den schwer Belasteten» Es kommt 
ja vor, und kam besonders in der Begeisterung der ersten Kriegsmonate häufig vor, 
daß die Psychopathen (und andere Grenzfälle der Psychosen, wie die Cyclothymen, 
auch wohl Hebephrene) in völliger Verkennung ihrer psychischen und körperlichen 
Leistungsfähigkeit sich zur Front drängten, dann Monate hindurch tapfer aus¬ 
hielten, um bei einem besonderen seelisch schädigenden Anlaß kläglich zusammen¬ 
zubrechen. Es sind die Leute, die auch im Frieden die Sanatorien bevölkerten, in 
Anstalten für Krampfkranke lagen, die Fürsorge-Instituten besuchten usw. Wo die 
leider oft mangelhafte Anamnese solche Daten aufdeckt, ist auch die D. B.-Frage 
meist negativ oder doch nur im Sinne einer Verschlimmerung zu beantworten, und 
auch diese muß meist als durch die Symptombeseitigung erledigt angesehen werden. 
So kommt es, daß wir bei unseren Entlassungen in nur sehr seltenen Fällen eine 
Rente von mehr als 10 °/ 0 zugestehen konnten; bei allen anderen wurde die Er¬ 
werbsfähigkeit nach Prüfung als normal oder als unter 10 °/ 0 anerkannt, 
woftiit sich die Frage der D. B. von selbst löste. Der Wille zum Arbeiten und vor 
allem zum Gesundwerden war im allgemeinen kein schlechter, er wuchs mit der Sicht¬ 
barkeit der Heilungen. Gewiß fehlt es nicht an Widerspenstigen, an- Auf gehetzten, 
an Fortläufern, aber sie sind nicht zahlreicher, als die spontan, ohne Behandlung, 
lediglich durch das Heilmilieu gesund Gewordenen. Die Zahl der letzteren betrug 
innerhalb 3 Monate 10. Bei den Aufbegehrenden, Erregten, sich Sträubenden ist 
die objektive Beobachtung interessant und charakteristisch, daß sie nach der 
Heilung oft die Willigsten, Dankbarsten sind. Gerade diese sind es oft, die dem 
behandelnden Arzt nach der Kur dankbar die Hand drücken und den Heilbazillus 
auf der Station zur Weiterentwicklung bringen. Die ehrliche Freude über die 
Heilung, auch wenn eine kleine Rente dabei verloren ging (von der sie „doch 
nicht leben und die Familie ernähren“ können), ist mündlich und schriftlich uns 
Ärzten der Station dutzendfach ausgesprochen worden. 

Mißerfolge sind so gut wie überhaupt nicht zu verzeichnen, Rückfälle während 
unserer Beobachtung sehr selten, ebenso w'ährend der Einführung in die Arbeit 
(die 6 bis 8 Wochen dauert). 

Die hysterischen Anfälle sind unserer aktiven Therapie am schlechtesten zu¬ 
gängig, so daß wir hier sogar von der üblichen Methode jetzt übergegangen sind 
zu dem von den Franzosen besonders empfohlenen Versuch mit Apomorphin-In¬ 
jektionen. Die Versuche sind noch im Gange. Jedenfalls sind aber die Anfälle 
auch mit aktiver Therapie in ihrer Häufigkeit gut zu beeinflussen, Rückfälle bleiben 
jedoch nicht aus. Von 23 Bettnässern wurden während der Beobachtung 9 
(= 39 °/ 0 ) rückfällig; bis auf einen blieben dann aber alle rezidiv-frei und auch 
Hermsdorf meldet keine Wiedererkrankungen. Merkwürdigerweise war besonders 
die erste Nacht nach der Behandlung noch unbeeinflußt, die darauffolgenden dann 
mit oder ohne neue Therapie gut. Auch bei diesen kombinieren wir jetzt Fara- 
disation Apomorphin-Injektionen. 

Von 16 Soldaten mit hysterischen Anfällen würden während der Beobachtung 
6 (also 33°/ 0 ) rückfällig, verloren dann aber auch für die Hermsdorfer Zeit ihre 
Anfälle. 

Für alle anderen psychogenen Erkrankungen können wir uns resü¬ 
mierend sehr kurz fassen; sie kamen bei der ersten Sitzung zur Radikal-Heilung 


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Prinzipien und Erfolge der aktiven Therapie bei Neurosen 


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und blieben bis zum Abschluß der Beobachtung (ca. 3 Monate) rezidivfrei. 
Diese Fälle rekrutierten sich aus folgenden Gruppen: Lähmung an einer Ex-, 
tremität, generalisierter oder lokalisierter Tremor, Gesichts und Schulter-Tic, Geh¬ 
störung, Pseudo-Ischias (bei der auch die Schmerzen beseitigt wurden), Aphonie, 
Astasie und Abasie; Taubheit, Mutismus, Schiefhaltung der Wirbelsäule und des 
Beins, Stottern, Pseudo-Demenz,' nervöses Erbrechen, Kontrakturen. 

Wir haben uns bei Einleitung der Therapie niemals durch die wirkliche oder 
angebliche Riesendauer der Erkrankung schrecken lassen. Ein Hand-Tremor, der 
nachweislich 40 Jahre bestand, wurde in 5 Minuten restlos beseitigt. Ebenso 
störte uns im allgemeinen nicht das Vorliegen einer organischen Erkrankung; gerade 
bei den Rückenmarkstörungen wird ein stärkerer psychogener Einschlag leicht 
übersehen. Bei einer spastischen Parese der Beine wurde die nach dem Gesamt- 
Aspekt als hysterisch gedeutete Gehstörung rasch beseitigt, bei einem Tabiker der 
Hände-Tremor. 

Zum definitiven Abschluß sind unsere Beobachtungen und Erfahrungen natürlich 
noch nicht, gekommen; dafür fehlt die monatelange Kontrolle der Entlassenen. 
Eine gewisse Kontrolle suchen wir dadurch auszuüben, daß wir in den Entlassungs¬ 
befunden der Geheilten vermerken, die Truppe, Sammelstelle, das Lazarett usw. 
solle beim leisesten Rückfall den Kranken zur nochmaligen Behandlung zurücksenden. 
In den wenigen (5) Fällen, in denen dies geschah, war die hysterische Erscheinung 
bei der Einlieferung wieder verschwunden. Doch ist von bindenden Schlüssen 
(besonders bez. der Krämpfe und der Enuresis) solange nicht die Rede, als bis diese 
von uns gestellte Forderung auch regelmäßig erfüllt wird und evtl, auch eine 
Kontrolle der gänzlich aus dem Militärdienst Entlassenen möglich ist. Nach den 
in Hornberg gemachten Erfahrungen zu urteilen, ist das Resultat auch dann ein 
hervorragendes. 

Durch die „aktive Therapie“ ist jedenfalls dem Überwuchern der Neurotiker- 
Stämme für die Kriegszeit und — hoffentlich — auch für die Zukunft der Boden 
abgegraben. Und damit scheint mir ein vaterländischer und staatsökonomischer 
Dienst von ^unsagbarer Wirkungskraft geleistet, besonders nach den kümmerlichen 
Aussichten der alten und jetzt doch auch schon veralteten Lehre von den „trau¬ 
matischen Neurosen“. 


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Ernst Tobias 


X. 

Ober Brachialgien und ihre Behandlung nebst 
Betrachtungen zur ,»Neuralgies-Diagnose. 

Von • 

Dr. Ernst Tobias 

in Berlin. 

Unter den schwierigen und unklaren Problemen, welche die medizinische 
Wissenschaft beschäftigen, nehmen Rheumatismus und Neuralgie eine be¬ 
sondere Stellung ein. Nachdem Jahrzehnte hindurch Wissenschaft und Klinik 
über den Begriff „Rheumatismus“ oft gedankenlos hinweggegangen sind, hat in 
den letzten Jahren die Kritik vor allem in der Frage des „Muskelrheumatismus“' 
eingesetzt; wenn dabei allerdings die eingehenden und gedankenreichen Dis¬ 
kussionen, an denen vornehmlich Adolph Schmidt und Goldscheider beteiligt 
waren, zu endgültiger Stellungnahme noch nicht führen konnten, so bleibt das Ver¬ 
dienst, den Stein ins Rollen gebracht zu haben, schon darum anerkennungswert, 
weil es nicht wünschenswert erscheint, daß unsere exakte Wissenschaft so oft 
mit einem Faktor arbeitet, der in der Mehrzahl der Fälle oder häufig nichts anderes 
bedeutet wie eine Umgehung des Eingeständnisses: ignoramus. 

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Neuralgie oder mit dem, was wir im 
medizinischen Sprachgebrauch Neuralgie zu nennen pflegen. Die Diagnose 
„Neuralgie“ wird überaus häufig gestellt; oft wird Neuralgie angenommen, wenn 
über den Charakter von Schmerzen keine Klarheit gewonnen werden kann. In 
vielen Fällen bedeutet die Diagnose nur, daß die Diagnose unklar ist. 

Unter Neuralgie, unter einem neuralgischen Schmerz verstehen wir einen 
Schmerz von ganz bestimmter Eigenart. Charakteristisch ist vor allem, daß der 
Schmerz nicht immer vorhanden ist, daß er anfallsweise und in Exazerbationen 
auftritt, daß Schmerzanfälle und schmerzfreie Zeiten in unregelmäßigen Inter¬ 
vallen abwechseln. Der neuralgische Schmerz verläuft für gewöhnlich in be¬ 
stimmten Nervenbahnen, pflegt aber, entsprechend den weitverzweigten Endbahnen 
und Anastomosen, sich meist auf größere und umfangreichere Bezirke auszudehnen. 

Die Frage, die man sich angesichts dieser Defination des neuralgischen 
Schmerzes zu stellen hat, ist die, ob die Feststellung eitler Neuralgie eine 
Diagnose bedeutet. Gibt es eine selbständige, idiopathische Neuralgie 
als Krankheit für sich oder ist die Neuralgie oft oder immer nur ein 
Symptom irgendeines Krankheitszustandes? 

Die Bedeutung dieser Frage leuchtet ein. Von ihrer Beantwortung hängt 
ab, ob wir berechtigt sind, so häufig wie üblich die Diagnose „Neuralgie“ zu 


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Über Brachialgien u. ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur „Neuralgie a -Diagnose. 287 


stellen, Ischias-, Trigeminus-, Interkostal-, Brachialneuralgie usw. zu dia¬ 
gnostizieren. 

Die Frage hat, wenn auch nicht oft allgemein, so doch für bestimmte Einzel¬ 
gebiete wiederholt Neurologen beschäftigt. Oppenheim berührt sie an einzelnen 
Stellen seines Lehrbuchs; W. Alexander geht auf sie näher ein in seinen 
Arbeiten über die Trigeminusneuralgie x ), die Ischias-Fehldiagnosen l 2 ) usw., ich selbst 
habe mich mit ihr bei Besprechung der „Interkostalneuralgien“ 3 ) befaßt. . . Eine 
Änderung ist nicht eingetreten; nach wie vor steht die Häufigkeit der „Neuralgie“- 
Diagnose im Widerspruch zu den Befunden der Wirklichkeit. 

Den typischen Verlauf einer Neuralgie, wie wir ihn eingangs skizziert haben, 
sieht man, worauf besonders W. Alexander hinweist, beim lanzinierenden 
Schmerz der Tabiker und bei der Trigeminusneuralgie. 

Bei der Tabes dorsalis handelt es sich um „neuralgiforme“ Schmerzen, welche 
die neurologische Spezialwissenschaft streng von der Neuralgie trennt. Wie bei 
der Neuritis haben wir bei den tabischen lanzinierenden Schmerzen objektive 
Veränderungen, die sich bei der Tabes im Zentralnervensystem, in den Hinter¬ 
strängen des Eückenmarkes, abspielen. Eine besondere, allerdings mehr als strittige 
Theorie denkt an die Möglichkeit eines peripherischen Ursprungs der Tabes; danach 
können Erkrankungen der peripheren Nerven eine Affektion der Spinalganglien 
und selbst der hinteren Wurzeln und Hinterstränge zur Folge haben 4 ). Dem Ge¬ 
danken, daß der Schmerz bei Neuralgien von peripheren Bedingungen abhängig 
ist, hat in konsequentester Weise bekanntlich Cornelius Ausdruck gegeben; er 
ist auf energischen Widerstand gestoßen. Gibt man auch zu, daß mit der von 
ihm empfohlenen Druckpunktmassage zeitweilig Erfolge zu erzielen sind, so wird 
seine theoretische Begründung als im schärfsten Widersprach zu allen anerkannten 
Anschauungen stehend wohl fast ausnahmslos abgelehnt. 

Schwieriger ist die Beurteilung der Trigeminusneuralgien. Um es vor¬ 
auszuschicken: die Trigeminusneuralgien sind — vielleicht neben den Okzi¬ 
pitalneuralgien — die einzigen Neuralgien, welche in Auftreten und Verlauf fast 
immer genau dem in der Definition charakterisierten Bilde, entsprechen. In 
meinem eigenen Material handelte es sich einige Male — einmal bei einer Frau — 
um Tabes; die Differentialdiagnose dürfte kaum Schwierigkeiten bereiten. In 
wenigen anderen Fällen bestanden hysteroneurasthenische — meist doppelseitige! — 
neuralgiforme Beschwerden. Bis auf diese nicht sehr zahlreichen Ausnahmen 
konnte an der Diagnose Neuralgie kein Zweifel bestehen. Was Schwierigkeiten 
bereitet, das ist die Deutung und die Beantwortung der Frage, ob es sich wirk¬ 
lich um eine idiopathische Neuralgie handelt. Eine klare und einwandfreie Ant¬ 
wort auf diese Frage zu geben, dürfte kaum möglich sein. Haben wir es mit 
einem Diabetiker oder z. B. mit einem Malariakranken zu tun, so kann die Frage 
.einfach liegen; für die vielen Fälle, in denen jede Ätiologie fehlt, bereitet die 
Auslegung größere Schwierigkeiten und muß letzten Endes überhaupt in Zweifel 

l ) W. Alexander, Was muß der Zahnarzt von der Trigeminusneuralgie wissen? Korre- 
spondenzbl. für Zahnärzte. 1914. Januar. 

*) W. Alexander, Fehldiagnosen bei Ischias. B. kl. W. 1912. Nr. 18. 

3 ) E. Tobias, Zur Frage der idiopathischen Intercostalneuralgie. B. kl. W. 1914. Nr. 18. 

4 ) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten, VI. Auflage. Bd. 1. S. 202. 


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Ernst Tobias 


bleiben. Bei ihnen ist der Theorie freiester Spielraum gelassen, indem ohne 
weiteres zugegeben werden muß, daß latente Stoffe im Organismus schlummern 
können, die zur Zeit keine anderen Störungen machen, indem andererseits aber 
auch die Anschauung Berechtigung hat, daß ein allgemein negativer Befund uns 
nicht auf das spekulative Gebiet von latenten Krankheiten führen soll, von 
denen — außer der Neuralgie — jedes erkennbare Zeichen zur Zeit und vielleicht 
für immer fehlt. 

In vielen Fällen von sogenannten Neuralgien sieht man dann oft auch den 
typischen Verlauf, wo klinisch die Diagnose hinfällig ist und wo es sich mit 
Sicherheit um eine Neuritis handelt. Die Momente, welche eine Neuritis und 
eine Neuralgie voneinander unterscheiden, sind bekannt (für Neuritis sprechen 
mehr kontinuierliche Schmerzen, Druckempfindlichkeit der Nerven, Lähmungs¬ 
erscheinungen, Atrophie, Fehlen bzw. Abschwächung von Reflexen, Anästhesien, 
Parästhesien, trophische Störungen — für Neuralgie das Fehlen dieser Störungen 
sowie die skizzierte Art des Schmerzes); aber die scharfe Unterscheidung in dem 
Charakter der Schmerzempfindung trügt oft. Wiederholt sieht man den charakte¬ 
ristischen neuralgischen Schmerz in Fällen, welche durch Sensibilitätsstörungen, 
Atrophie, Reflexanomalien u. dgl. als Neuritis angesprochen werden müssen. 

Die erste Forderung für die Diagnose Neuralgie ist die sichere 
Ausschließung jedes materiellen Leidens. 

Sehen wir von der Trigeminus- und von der Okzipitalneuralgie ab, so sollte 
jede Erkrankung, welche mit typischen neuralgischen Anfällen verläuft, zunächst 
den Verdacht einer Tabes dorsalis erwecken und daraufhin untersucht werden. 
Wie ein immer wieder gehegter Verdacht schließlich auf die rechte Spur leiten 
kann, lehrt ein Beispiel eigener Beobachtung: 

P. G., 35 Jahre alt, leidet an typischen neuralgischen Schmerzen von außerordent¬ 
licher Intensität im rechten Bein; nach Abklingen treten die gleichen Schmerzen auch im 
linken Bein auf. Im Verlauf der Beobachtung besteht die „Ischias“ bald rechts, bald 
links, nie zu gleicher Zeit in beiden Beinen. Objektiver Befund negativ — Reflexe, 
Pupillenreaktion normal, keinerlei Ischiassymptome. Die Anamnese ergibt syphilitische 
Infektion. Mehrfache Blutuntersuchungen auf Wassermannsche Reaktion hatten trotz 
vieler spezifischer Behandlungen immer ein stark positives Ergebnis. Im Verlauf der 
Beobachtung stellten sich mit der Zeit eine Reihe „kleinerer Nebensymptome“ wie Abadie, 
Biernacki u. dgl. ein, die so unzweideutig waren, das an der Diagnose „Tabes incipiens“ 
kein Zweifel mehr sein konnte. Den Verdacht, daß hinter der „Ischias“ sich ein organisches 
Leiden verberge, mußte von vornherein neben der eigenartigen Neuralgie auch die Doppel- 
seitigkeit der Beschwerden erwecken. 

Wie oft pflegt man sich in derartigen Fällen mit Diagnosen wie „Neuralgia 
ischiadica luetica“ abzufinden! Wie oft kombiniert man Diagnosen und nimmt 
Ursache und Wirkung als gegeben, ohne weitere Beweise zu haben als einen 
doppelten Befund! Die Annahme einer syphilitischen—gichtischen—tuberkulösen usw. 
Neuralgie steht, worauf besonders auch W. Alexander wiederholt hingewiesen 
hat, auf so unsicheren Füßen, daß man einen Zusammenhang nur auf Grund 
zwingender Beweise annehmen sollte, was allerdings oft nur nach der Behandlung 
möglich scheint. 

Es besteht kein Zweifel, daß „die Krankheit Neuralgie“ viel 
seltener ist als sie diagnostiziert wird, und daß in der Mehrzahl der 


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Gougle 


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Über Brachialgien u. ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur ff Neuralgie“-Diagnose. 289 


Fälle die Neuralgie nur ein Symptom eines bestehenden lokalen oder 
allgemeinen Krankheitszustandes darstellt. Wir können Oppenheim nur 
beipflichten, wenn er, allerdings vornehmlich bei einer bestimmten Krankheits¬ 
gruppe, bei den „Brachialneuralgien“, der Krankheitsbezeichnung entgegentritt und 
— in diesem Falle die Brachial neuralgien— durch Brachialgien ersetzt wissen will. 

Über „Brachialgien“ liegen nur wenige ausführlichere Mitteilungen vor. 
Am eingehendsten hat sich Oppenheim mit ihnen befaßt. In seinen Ausführungen 
stellt er das Vorkommen von Brachialneuralgien nicht in Abrede, aber die echte, 
reine Brachialneuralgie sei selten. Derselben Ansicht sind v. Strümpell und 
Bing; besonders letzterer mahnt bei der Diagnose „Brachialneuralgie“ zur Vorsicht. 

Brachialgien finden wir zunächst bei zentralen und peripheren Er¬ 
krankungen des Nervensystems. Was die zentralen Erkrankungen anbetrifft, 
so sei bezüglich der Hirnaffektionen an apoplektische Insulte und an Ponserkran¬ 
kungen erinnert, in deren Verlauf sich zeitweilig intensivere Armschmerzen ein¬ 
stellen. Häufiger kommen Affektionen des Rückenmarks in Frage, zu deren 
wichtigsten Symptomen sie gehören. Die lanzinierenden Schmerzen' sind bei der 
Tabes dorsalis allerdings wesentlich seltener in den Armen lokalisiert als in den 
Beinen. Die Differentialdiagnose dürfte'kaum Schwierigkeiten bereiten, viel weniger 
als bei anderen Rückenmarksaffektionen, von denen besonders die Pachy- 
meningitis cervicalis hypertrophica, die Meningitis chronica syphi¬ 
litica, die Meningitis serosa circumcripta, der Tumor medullae spinalis 
und die Spondylitis tuberculosa (bzw. die Wirbelkaries) in Frage kommen. 
Zu den ersten Symptomen der Pachymeningitis cervicalis hypertrophica 
gehören neuralgiforme Schmerzen, nicht nur zwischen den Schultern, sondern be¬ 
sonders im Arm, vorwiegend im Gebiete der nn. ulnaris und medianus. Diese 
Schmerzen können Monate hindurch andauern, bis sich Lähmungen einstellen. Da 
meist Lues ätiologisch in Frage kommt, dürfte die Blutuntersuchung auf Wasser- 
mannsche Reaktion eine wichtige diagnostische und therapeutische Rolle spielen. 
Ähnliche Gesichtspunkte gelten für die Meningitis chronica syphilitica. Auch 
bei ihr hat das Ergebnis der Blutuntersuchung bfcw. der Untersuchung der Spinal¬ 
flüssigkeit größte Bedeutung, wenn auch ein negativer Ausfall nicht unbedingt 
gegen die syphilitische Ätiologie zu verwerten ist; neben dem Krankheitsbilde als 
solchem und dem Verlauf ist eventuell das Lumpalpunktat und seine Zusammen¬ 
setzung zur Klärung der Diagnose heranzuziehen. In einigen wenigen Fallen 
meiner Beobachtung bestand der Verdacht einer Meningitis serosa circum¬ 
scripta, bei welchen Kompressionserscheinungen im Anfang heftige Schmerzen 
auslösen können. Weiterhin sei auf den Tumor medullae spinalis und vor 
allem auf die Wirbelkaries hingewiesen. Am häufigsten wird allerdings die 
Lendenwirbelsäule von der tuberkulösen Erkrankung ergriffen. Differential¬ 
diagnostisch ist von Wichtigkeit, daß besonders das jugendliche Alter, daß vor 
allem Kinder an Wirbelkaries erkranken. Das erste Symptom — das regelmäßiger 
ist als die Druckempfindlichkeit der Wirbel — sind Schmerzen, die der Höhe der 
Erkrankung entsprechen und die auf die Arme übergreifen, wenn die achte Zer¬ 
vikalwurzel und die erste Dorsalwurzel betroffen sind. Zu den Schmerzen gesellen 
sich Gefühlsstörungen, namentlich im Uli\arisgebiet, atrophische Lähmungen der 
kleinen Handmuskeln, eventuell Pupillenveränderungen usw\ Außer der Wirbel- 

Zeiteebr. I. phyeik. u. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8|9. 19 


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Emst Tobias 


karies müssen auch Wirbeltumoren — vor allem das metastatische Wirbel¬ 
karzinom nach primärem Mammatumor —, müssen die chronisch-entzündlichen 
Erkrankungen der kleinen Wirbelgelenke, muß die Bechterewsche 
Krankheit erwähnt werden. Luxationen und Frakturen der Wirbel brauchen 
keine Symptome von seiten des Rückenmarks und seiner Wurzeln zu machen; so 
sehen wir bei den Kriegsverletzungen der Wirbel häufig keine ernstere nervöse 
Störungen bei positivem Röntgenbefund. Andererseits treten dann im Gegensatz 
auch so schwere und bedrohliche Erscheinungen auf, daß Brachialgien nur eine 
ganz untergeordnete Rolle spielen. 

Im .Vordergründe der peripheren Nervenerkrankungen steht die periphere 
Neuritis. Wir sehen eine Neuritis im Arm oder in beiden Armen als Mono¬ 
neuritis oder als Teilerscheinung einer Polyneuritis ursächlich hervorgerufen durch 
Überanstrengung, Erkältung, durch toxische und infektiöse Prozesse, durch Stoff¬ 
wechsel- und Ernährungsanomalien, allgemeine Infektionskrankheiten, Kachexie 
und Autointoxikationen. Erwähnt sei auch die symmetrische Armplexus¬ 
neuritis. Die Diagnose „Neuritis“ bereitet häufig Schwierigkeiten. Nicht immer 
handelt es sich um typische Fälle mit Atrophien, Sensibilitätsstörungen, Reflex¬ 
anomalien u. dgl. Oft sieht man die charakteristischen neuralgiformen Schmerzen¬ 
fälle, bevor irgendein objektives Zeichen die Diagnose „Neuritis“ erkennen läßt. 
Ein besonders schwankendes Symptom ist der Druckschmerz der erkrankten 
Nerven. Aus meinem eigenen Material möchte ich darauf hinweisen, daß 
Überanstrengung, die in ihrer ätiologischen Bedeutung oft angezweifelt, aber 
als Gelegenheitsursache zugegeben wird, in einer meiner Beobachtungen bei einem 
Berufspianisten eine wesentliche, wenn nicht die wichtigste Rolle spielte. Daß 
es sich um eine Neuritis im rechten Arm handelte, konnte unzweifelhaft fest¬ 
gestellt werden; die Diagnose war nicht allein durch starke lokale Druckschmerzen, 
sondern durch erhebliche Sensibilitäts- und Lagegefühlsstörungen gesichert; auch 
fehlten die Reflexe auf der erkrankten Seite, während sie am gesunden Arm deut¬ 
lich auslösbar waren. Die diabetische Neuritis sah ich meist in Fällen mit 
nur geringem Zuckergehalt des Urins. Wir sehen dann ferner Armschmerzen noch 
bei der allgemeinen Hystero-Neurasthenie und den sogenannten Beschäfti¬ 
gungsneurosen. Die hystero-neurasthenischen Armschmerzen, die man am häufig¬ 
sten bei blutarmen jungen Mädchen beobachten kann, nehmen in der Regel nicht 
Dimensionen an, die zu differentialdiagnostischen Schwierigkeiten Veranlassung 
geben könnten; auch die Schmerzen bei den Beschäftigungsneurosen unterscheiden 
sich durch ihr charakteristisches Gepräge, indem es sich mehr um schmerzhafte 
Muskelkrämpfe als um wirkliche neuralgiforme Schmerzen handelt. Der Beruf 
bzw. die Berufstätigkeit der Erkrankten leitet zudem meist schnell auf die richtige 
Fährte, wenn auch der vordem erwähnte Fall von Neuritis bei einem Berufs¬ 
pianisten zur Vorsicht mahnt. In seltenen unklaren Fällen, auf die ich die Auf¬ 
merksamkeit lenken möchte, sah ich Schmerzen auf der weniger in Anspruch ge¬ 
nommenen Seite anstatt auf der Seite, auf der sie in der Regel und erklärlicherweise 
zu erwarten gewesen wären. Endlich sei noch envähnt, daß Nervengeschwülste 
— Neurome — nicht zu vergessen die Recklinghausensche Krankheit — und 
Nervenverletzungen Armschmerzen verursachen, deren Natur wohl fast immer 
klar zutage liegt. 


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Ober Brachialgien n. ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur „Neuralgie a -Diagnose. 29 1 


In zweiter Linie finden wir dann Brachialgien bei zentralen und peri¬ 
pheren Erkrankungen des Kreislaufsystems. Bekannt sind die ausstrahlen¬ 
den Armschmerzen — besonders im linken Arm — bei der Angina pectoris, k 
beim Aneurysma der Aorta sowie bei Koronarerkrankungen. Nach Löwenfeld 
kann sich Angina pectoris mit Neuralgia ulnaris verbinden oder mit ihr alternieren. 
In einer eigenen Beobachtung 1 ) sah ich heftigste Armschmerzen in einem Falle 
von Aneurysma der rechten Arteria subclavia. Die Diagnose konnte durch 
das palpable Aneurysma leicht gestellt werden, es fehlte außerdem der Radialpuls 
auf der Seite der Erkrankung. Der Fall hat hervorragendes praktisches Interesse. 
Während es sich in einem Falle von Oppenheim 2 ) um einen leichteren Grad der 
Erkrankung gehandelt haben muß, bei dem unter Anwendung von Jodkalium, 
Elektrizität und lokaler Applikation der Eisblase Heilung eintrat, bestanden in 
meinem Falle allerschwerste Veränderungen. Sowohl Goldscheider wie A. Bier 
empfahlen die Radikaloperation; Bier exzidierte dann auch das sehr große Aneu¬ 
rysma, das nach hinten bis an die Wirbelsäule heranreichte, die schon Zeichen 
deutlicher Usurierung darbot. Die Gefahr des Platzens des Aneurysmasackes in 
den Wirbelkanal stand anscheinend unmittelbar bevor. Recht erhebliche Schmerzen 
sieht man auch bei peripherer Arteriosklerose. Über arteriosklerotische 
Schmerzen verdanken wir Goldscheider®) eine sehr eingehende Arbeit. 
Schmerzen können zunächst durch den Druck eines erweiterten und hartrandigen 
Gefäßes auf die vorüberziehenden Nerven entstehen; aber wahrscheinlicher ist, 
daß die in der Adventitia gelegenen sympathischen Nervengeflechte ihren Er¬ 
regungszustand auf die entsprechenden Headschen Zonen, d. h. auf die mit dem 
betreffenden Sympathikusgebiet in gleicher Höhe liegenden spinalen Segmente 
übertragen können. Die bei Arteriosklerose auftretenden Huskelschmerzen — 
ich sah sie besonders intensiv im Daumen — führt Goldscheider auf Ischämie 
zurück, die ähnlich wirkt wie Ermüdung und Überarbeitung. Ischämie ist auch 
die Ursache der Schmerzen bei der Koronarsklerose, bei der es sich danach im 
wesentlichen um einen Muskelschmerz handelt. Die Ischämie wirkt aber auch er¬ 
regend auf die Ganglien und die zentripetalen Fasern des Herzens; dadurch, daß 
die Erregung dann auf spinale schmerzleitende Nervenbahnen übertragen wird, 
geht der Schmerz auf Schulter und Arm über. Eine besondere Form der peri¬ 
pheren Arteriosklerose sehen wir bei der Dyskinesia intermittens, die am 
Arm u. a. von Nothnagel, Erb, Embden beschrieben wurde. Die wesentlichsten 
Beschwerden dieser Kranken — ich konnte selbst zwei typische Fälle beobachten 
— bestehen allerdings mehr in einem periodischen Müdigkeits- und Schwäche¬ 
gefühl im Arm oder in den Armen, und erst bei fortschreitendem Leiden bzw. 
verstärkten Anstrengungen treten Schmerzen auf, die etwa den Schmerzen ent¬ 
sprechen, wie wir sie bei Wadenkrämpfen beobachten. Zur Sicherstellung der 
Diagnose kann das Röntgenverfahren wertvolle Dienste leisten. 

Wir sehen dann ferner Brachialgien als Muskelschmerzen und bei 
Gelenkaffektionen. Auf die Unklarheit der Diagnose „Muskelrheumatismus“ 
wurde bereits eingangs hingewiesen, wie auch bereits erwähnt wurde, daß man 

') Veröffentlichungen der Hufelandschen Gesellschaft in Berlin 1911, S. 12. 

*) Lehrbnch der Nervenkrankheiten. 6. Aufl., Bd. I, S. 750. 

3 ) Zeitschrift fttr physikalische nnd diätetische Therapie, April 1909. 

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Ernst Tobias 


bei Erkrankungen kleiner Gelenke an der Halswirbelsäule Ärmsckmerzen beob¬ 
achten kann, wenn sich auch die Schmerzen häufiger auf die Wirbelsäule be¬ 
schränken. Vielfach wird dann auch, vor allem von Goldscheider 1 ), auf den 
Zusammenhang von Omarthritis und Brachialgien hingewiesen. Während Senator 
und Niemeyer die Ansicht vertraten, daß Gelenkrheumatismus die in der Nähe 
des Gelenks gelegenen Nerven rheumatisch affizieren kann, Immermann und 
Edlefsen, daß die Schädlichkeiten des akuten Gelenkrheumatismus auch Neuralgien 
erzeugen, Steiner und E. Remak, daß bei akutem Gelenkrheumatismus die 
Nervenstämme der Perineuritis (Steiner) bzw. Neuritis (Remak) druck¬ 
empfindlich sind, ist Goldscheider zu der Überzeugung gelangt, daß in selteneren 
Fällen Neuritis, Myositis und Neuralgien beim Gelenkrheumatismus Vorkommen, 
daß es sich hingegen häufiger um einfache irradiierte Hyperalgesien handelt, ähn¬ 
lich den nasalen Reflexneurosen, ähnlich den Headschen referred pains bei Vis¬ 
ceralerkrankungen. Unbedingt bestätigen möchte ich die Annahme besonders 
älterer Autoren, daß hinter „Brachialneuralgien“ oft eine beginnende Arthritis 
deformans des Schultergelenks sich verbirgt. In einzelnen, wenn auch bedauer¬ 
licherweise nicht sehr zahlreichen Fällen schafft die Röntgendurchleuchtung Klar¬ 
heit. Von den gichtischen Gelenkveränderungen wird im Rahmen der Stoff¬ 
wechselerkrankungen die Rede sein. 

Eine weitere Gruppe von Armschmerzen hat vornehmlich chirurgisches 
Interesse. Bei allen unklaren Fällen muß an Halsrippen 2 ) gedacht werden; 
die Röntgendurchleuchtung ist hier allein imstande, die Diagnose zu sichern. Nicht 
sehr häufig und auch nicht sehr intensiv sind die Armschmerzen beim Caput 
obstipum, sehr heftig und andauernd die Schmerzen bei komprimierenden Tumoren, 
Fremdkörpern, Knochensplittern, Callusbildungen u. dgl. 

Brachialgien, die am ehesten den Eindruck reiner Neuralgien erwecken, sind 
die Armschmerzen, die wir bei Stoffwechselerkrankungen sowie bei toxischen 
und infektiösen Krankheiten beobachten. So sehen wir beim Diabetes mellitus 
Neuralgien, die wie die erwähnten Neuritiden mit Vorliebe bei geringer Zucker¬ 
ausscheidung auftreten. Bei der Gicht zeigen sich einerseits gichtische Schulter¬ 
gelenkentzündungen, andererseits Harnsäureablagerungen am Bicepsansatz. Oppen¬ 
heim sah ferner Brachialneuralgien durch Gicht hervorgerufen; beim Ablauf eines 
gleichzeitigen typischen Gichtanfalles verschwand auch die Neuralgie. Bing 
fahndet auf Gicht besonders bei der Ulnarisneuralgie. Bei Fettsucht bestehen 
Schmerzen im allgemeinen nur bei der Adipositas dolorosa, der Dercumschen 
Krankheit. Bekannt sind dann die N.euralgien im Anschluß an Influenza, Ab¬ 
dominaltyphus, Malaria, beim Alkoholismus, bei Blei- und Kohlenoxyd¬ 
vergiftungen usw. Kurz erwähnt seien endlich die Reflexneuralgien; sie 
gehören aber für den Arm oder die Arme zu den größten -Seltenheiten, während 
z. B. Trigeminusneuralgien bei Zahnkaries, Nebenhöhlenkatarrhen u. dgl. wieder¬ 
holt beobachtet werden. 

Wollten wir nun eine detaillierte Beschreibung der Behandlung der Brachi¬ 
algien geben, so müßte die Therapie aller jener Erkrankungen zur Erörterung 
gelangen, in deren Verlauf oder durch welche Brachialgien entstehen. Da dies 

*) Therapeutische Monatshefte 1909, Nr. 12. 

s ) Röntgenbild und Literatur s. b, Kurt Mendel, Neurol. Centr. 1913, Nr. 9. 


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Über Bracbialgien u. ihre Behandlung nebst Betrachtungen zur „Neuralgie“-Diagnose. 293 


viel zu weit führen würde, so müssen wir uns mit einem Überblick über die 
hauptsächlichsten Richtlinien begnügen: 

Im Vordergründe der Behandlung steht immer das Grundleiden; 
erst in zweiter Linie folgt die Berücksichtigung der örtlichen Schmerzen. 
Zuweilen schwinden die Schmerzen ohne lokale Behandlung, so z. B. bei den 
liystero-neurasthenischen Brachialgien; in der Regel wird sich aber eine Kombi¬ 
nation von allgemeiner und örtlicher Behandlung als notwendig erweisen. Viel¬ 
fach bestimmt die Grundkrankheit den Charakter der Behandlung (Lues spinalis, 
Tabes dorsalis, diabetische und gichtische Neuritiden und Neuralgien usw.); Tu¬ 
moren verlangen die Spezialbehandlung des Chirurgen. 

Im allgemeinen ist medikamentöse Therapie nicht zu entbehren. Besonders 
beim Beginn einer akuten Neuritis kommt man ohne Narcotica selten aus, zumal 
wenn die Schmerzen intensiven neüralgiformen Charakter haben. Es erübrigt sich 
besonders hervorzuheben, daß bei chronischen Krankheitszuständen, wie z. B. den 
lanzinierenden Schmerzen der Tabiker, Vorsicht geboten ist. Im übrigen wird 
man bei rheumatischer Ätiologie Salizylpräparate, bei Lues Jod und Quecksilber 
bzw. Salvarsan, bei anämischen und neurasthenischen Individuen Eisen-, Arsen-, 
Baldrian-, Brompräparate u. dgl. verordnen. Mancher Eingriff bleibt dem Chirurgen 
Vorbehalten. Kurz erwähnt, wenn auch am Arm nur der Vollständigkeit halber, sei 
die Nervendehnung in hartnäckigen Fällen von Neuralgie. 

Eine große Rolle in der Therapie der Brachialgien spielen die einzelnen 
Faktoren der physikalischen Heilmethoden. Znnächst eine wichtige Frage: 
Soll man einen an Armschmerzen bzw. Neuralgien leidenden Arm ruhig stellen? 
Soll man ihn eventuell in eine Mitella legen? Diese wichtige Frage ist nicht 
prinzipiell für alle Fälle mit ja oder nein zu beantworten. In der Regel pflegen 
die Kranken den Arm sehr gern zeitweilig in einer Binde zu tragen, aber sie 
müssen die Möglichkeit haben^ oft die Lage zu Wechseln bzw. ihn jeden Augen¬ 
blick, wenn es ihnen angenehm scheint, herauszunehmen und für kürzere oder 
längere Zeit hängen zu lassen. 

Diät spielt nur selten eine Rolle; es ist bekannt, daß diabetische Neuralgien 
sich meist nur durch Diätregulierung bessern. 

Wie verhält es sich nun mit der mechanischen, der thermischen und 
der elektrischen Behandlung der Brachialgien? 

Massage ist bei intensiveren Armschmerzen kontraindiziert. Die einzige 
Massageform, welche, abgesehen von leichten, nicht von professionellen Masseuren 
und Masseurinnen vorzunehmenden Streichungen, oft recht wirksam sein kann, ist 
leichte Duschemassage unter Dampf, bei welcher aber die noch zu be¬ 
sprechenden thermotherapeutischen Regeln befolgt sein wollen. Diese Dampf¬ 
duschemassage ist besonders zu empfehlen bei Beschäftigungsneurosen, wo sie im 
Verein mit dosierter Widerstandsgymnastik oft Vortreffliches leistet. Dieselbe 
Behandlung bringt auch Erfolge bei abgeklungenen Armschmerzen, die ein stärkeres 
örtliches Ermüdungsgefühl zurückgelassen haben. Uber die (Jorneliussche 
Nervenpunktmassage, die bekanntlich gerade bei peripheren neuralgischen Schmerz¬ 
zuständen am meisten empfohlen wird, läßt sich so viel sagen, daß man sie ohne 
Zweifel vielfach mit Erfolg anwenden kann. Sehen wir von allen theoretischen 
Erörterungen ab, von deren Ablehnung durch die wissenschaftliche Medizin be- 


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E. Tobias, Über Brachialgien und ihre Behandlung usw. 


reits die Rede war, so ist gegen einen Versuch nichts einzuwenden, wenn es sich 
nicht um pseudoneuralgische hystero-neurasthenische Schmerzen handelt, bei denen 
die Methode nach meinen Erfahrungen unter Umständen geradezu eine Gefahr 
bedeutet. Bei akut entzündlichen Erscheinungen, sowie vor allem hei trauma¬ 
tischer Neurose, ist die Corneliussche Nervenmassage absolut kontraindiziert. 

Wenden wir uns nunmehr zur Thermotherapie, so läßt sich ganz all¬ 
gemein die Regel aufstellen, daß sich extreme Temperaturen, mag es sich 
um Kälte oder um Wärme handeln, nicht für neuralgiforme Schmerzen 
eignen. Der intermittierende, exazerbierende Schmerz verträgt, wenn 
überhaupt, Hitze und Kälte nur ausnahmsweise und zwar nur in kurzer 
energischer Applikation. Ganz anders der neuritische kontinuierliche Schmerz; 
er wird durch Hitze meist sehr gut beeinflußt. Der neuritische Schmerz wird 
durch Diaphorese gelindert. Als geeignete Prozedur kommt bald trockene, 
bald feuchte Wärme in Frage; je nachdem wird man Elektrothermkompressen, 
Teillicht- und Heißluftbäder oder Schlamm-, Moor-, Fangopackungen, Dampf¬ 
kompressen u. dgl. zur Anwendung bringen. Im allgemeinen konnte ich mich 
auch beim neuritischen Schmerz davon überzeugen, daß die allerextremsten Tem¬ 
peraturen durchaus nicht immer auch die wirksamsten sind. Bei ganz akuten 
Fällen empfiehlt sich im allerersten Beginn Ableitung (fliegende Vesikantien, 
points de feu, Biersche Saugglocke usw.). Schwierig ist die thermotherapeutische 
Beeinflussung neuralgiformer Schmerzen. Was heute wirkt, versagt morgen! 
Meist wird man auf hydriatische Prozeduren — zeitweilig wirken vorübergehend 
Umschläge mit indifferenten Temperaturen — ganz verzichten. Dafür sind milde 
therapeutische Eingriffe, wie Blaulichtbestrahlung, wie die vorsichtig angewandte 
Heißluftdusche (Föhn) oder wie die milde Dampfdusche (ohne Massage!) zu 
empfehlen. 

Zum Schlüsse bleibt endlich nur noch ein therapeutischer Faktor zu be¬ 
sprechen, der von jeher in der Schmerzbehandlung eine besondere Rolle gespielt 
hat, die Elektotherapie. Sie gelangt in verschiedener Form zur Anwendung. 
Ein erprobtes Verfahren ist die lokale Anwendung der galvanischen Anode 
— bei stabiler Applikation besonders mit längerer Ausdehnung der einzelnen 
Sitzung. Sehr wirksam ist oft die faradische Bürste — sowohl zur Bekämpfung 
der Hypästhesie nach abgelaufenen Neuritiden wie auch bei starken Schmerzen 
zwecks Ableitung. Auch das elektrische Zweizellenbad leistet bei Anwen¬ 
dung eines der Art des Falles angepaßten Stromes gute Dienste. Allen diesen 
bewährten und darum nur kurz erwähnten älteren Verfahren gegenüber muß 
schließlich noch einer neueren Therapie gedacht werden, welche gerade bei 
Schmerzen so Vortreffliches leistet, das man fortan wohl kaum auf sie wird ver¬ 
zichten wollen, der Diathermie. Die Anwendung der Diathermie bedeutet 
zweifelsohne einen außerordentlichen therapeutischen Fortschritt. Zu warnen ist 
vor schematischem Vorgehen. Auch die Diathermie will der Individualität ange¬ 
paßt werden, und da es sich bei ihr nicht eigentlich um ein elektrisches, sondern 
um ein Wärmeverfahren dem Effekt nach handelt, so gelten auch für sie die 
Regeln, die vordem für die Thermotherapie aufgestellt wurden. Auch bei der 
Diathermie sollen bei Neuralgien nur geringe, bei • Neuritiden hingegen hohe oder 
besser höhere Temperaturen auf den erkrankten Arm einwirken. 


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E. Wolff, Beitrag* za den Verletzungen des Konus medullaris u. d. Kauda eqnina. 295 

Die Injektionstherapie, spielt bei den Brachialgien nicht entfernt die 
Bolle, die ihr bei der Ischias und besonders bei der Trigeminusneuralgie seit 
Jahren zufällt. , 

Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die Bekämpfung der Brachialgien eine 
oft nicht leichte, jedoch eine meist dankbare therapeutische Aufgabe ist, die in 
der Eegel zum Ziele führt, wenn nicht ein unheilbares organisches Grundleiden 
der völligen Beseitigung hindernd im Wege steht. 


XL 

Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris 
und der Kauda equina. 

Von 

Erich Wolff, 

stellvertr. Assistenten an der Med. Univers.- Poliklinik in Berlin. 

I. 

Die Erkrankungen des unteren Rückenmarkendes verdienen deswegen ein 
besonderes Interesse, weil sie mit wichtigen Problemen verknüpft sind, die eine 
endgültige Lösung noch nicht gefunden haben. Ich erinnere nur an die Differential¬ 
diagnose zwischen Konus- und Kaudaerkrankungen und an die Frage nach der 
automatischen Blasen- und Mastdarmtätigkeit. Deswegen möge es erlaubt sein, 
an der Hand zweier Fälle einige der Probleme zu erörtern und die noch vor¬ 
handenen Schwierigkeiten erneut zu beleuchten. 

Am 24. März 1917 fiel der Arbeiter 0. von einem Baum, den er anscheinend in 
einem Zustand plötzlicher Verwirrtheit bestiegen hatte, auf den Rücken herunter und 
zeigte noch längere Zeit im Krankenhaus ein unnormales psychisches Verhalten. Er 
hatte von Anfang an über sehr heftige Schmerzen zu klagen und schrie bei der geringsten 
Berührung der Lendenwirbelsäule laut auf. Erst nach Wochen verloren sich die Schmerzen. 
Es trat sofort Urin- und Stuhlverhaltung auf, die Katheter und Einlauf nötig machten. 
Nach Verlauf von 3 Wochen fand sich zum erstenmal spontane Entleerung wieder ein. 
Bei der Suche nach Gefühlsstörungen wurde die untere Hälfte des Körpers von einer 
Linie 6 cm unterhalb des Nabels an unempfindlich für Berührung und Druck gefunden. 
Im Rücken schloß diese Linie mit dem ersten Lendenwirbel ab. Patient klagte über 
Kribbeln und Kältegefühl in den Beinen, deren Bewegung aktiv und passiv ohne Schmerzen 
möglich war. Die Achillessehnenreflexe und die Patellarreflexe waren beiderseits gesteigert. 
Kein Babinski. Als der Patient nach D /2 Monaten aufstand, vermochte er sich nur im 
Laufstuhl vorwärts zu bewegen, doch lernte er mit der Zeit an zwei Stöcken, wenn auch 
unsicher und schlotternd zu gehen. Die Gefühlsstörung besserte sich sehr; bei seiner 
Entlassung schien sie den Ärzten gänzlich geschwunden. 

Zurzeit, etwa 7 Monate nach dem Unfall, ist eine normale Kot- und Urinentleerung 
noch nicht wieder eingetreten. Der Patient empfindet zwar 6- bis 7 mal täglich deut¬ 
lichen Harndrang, vermag aber den Urin nicht willkürlich zurückzuhalten und trägt des- 


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E. Wolff 


halb außer dem Hanse ein Urinoir. Die drohende Harnentleerung kündigt sich dnrch ein 
brennendes Gefühl in der Spitze der Harnröhre an nnd Patient hat dann noch etwa zwei 
Minuten^Zeit, den Abort oder das Nachtgeschirr aufzusuchen, bis die ersten Tropfen kommen. 
Gelingt ihm das einmal nicht mehr rechtzeitig, so muß er entweder mit der Hand die 
Harnröhre zukneifen oder die Kleider benetzen. Bei der Entleerung selbst laufen, wie das 
mehrfach beobachtet werden konnte, zunächst einige Kubikzentimeter tropfenweise ab, 
dann tritt eine kurze Pause ein und darauf schießt die Hauptmenge des Harnes in einem 
recht kräftigen Strahl heraus. Die Entleerung ist eine vollständige, denn der eingeführte 
Katheter fördert danach keinen Bestharn zutage. Bis vor wenig Wochen genügte der 
Harndrang nicht, den Patienten nachts aus dem Schlaf zu wecken und die Entleerung 
erfolgte ins Bett. Seitdem ist eine Besserung eingetreten, aber jede Nacht wird die Ruhe 
durch die Häufigkeit des Geschäftes etwa 8- bis 10 mal gestört. Und hin und wieder 
passiert es doch noch, daß nach tiefem Schlaf die Wäsche sich eingenäßt findet. Bei 
kaltem Wetter soll die Urinentleerung viel häufiger vor sich gehen, als oben angegeben 
ist. Subjektiv empfindet der Patient beim Urinieren jedesmal ein Kribbeln in den Beinen. 

Mit seiner Kotentleerung ist der Patient besser zufrieden. Alle zwei Tage wird 
ein durchweg harter Stuhl abgesetzt, der sich rechtzeitig genug durch ein Druckgefühl am 
After selbst bemerkbar macht. Doch kann die Entleerung nicht willkürlich hervorgerufen 
oder aufgeschoben werden und es besteht Inkontinenz für flüssige Stühle oder Klistiere. 

Wollustgefühl und Libido Bind — soweit man ans dem Patienten klug werden kann, 
seit dem Unfall nicht wieder aufgetreten. Vordem hat er eine ausreichende sexuelle 
Tätigkeit ansgeübt und mehrere Kinder erzeugt. Jetzt kommt es bei Beizung durch aktive 
und passive körperliche Berührungen ein- bis zweimal in der Woche zu kurz dauernden 
kraftlosen Erektionen, an deren Ende Samen langsam abfließt. Ein Koitusversuch miß - 
lang. Auch eine spontane, mehrere Minuten dauernde Erektion wurde beobachtet, die 
ruckweise eintrat, „als ob das Glied aufgepumpt würde“. Sie schloß sich an eine Harn¬ 
entleerung an und war nicht von Samenerguß, sondern von einer geringfügigen Miktion 
gefolgt. Bei gefüllter Blase oder gefülltem Mastdarm wurde Steifung nicht beobachtet. 

An der Rückseite des Patienten zeigt die Untersuchung eine Sensibilitätsstörung 
die vor allem das Gesäß betrifft und Perinäum, Skrotum und Penis bis auf einen kleinen 
Bezirk rechts und links der Peniswurzel einbezieht. An der Hinterseite der Schenkel 
zieht sich die Störung in einem schmalen Streifen bis zur Ferse herunter, von der Mitte 
der Tibia ab die Außenseite und etwas von der Vorderseite der Unterschenkel und 
weiterhin den ganzen Fuß bis auf einen schmalen Streifen am inneren Fußrand mit er¬ 
greifend. In diesem ganzen Gebiet wird Schmerz, Temperatur und Berührung nicht ge¬ 
fühlt, mit Ausnahme der rechten Wade, wo nur eine Unterempfindlichkeit für diese Quali¬ 
täten besteht und des Skrotums, das zwar temperaturunempfindlich, aber nicht anästhetisch 
ist. Auf den Nates finden sich flächenförmige Hautnarben, wohl von Dekubitalgeschwüren 
herrührend und zwei frische Ulcera, die durch unbemerkte Verbrennung mit einem Wärme¬ 
kissen entstanden sein sollen. 

Beim Hin- und Herziehen des eingeführten Katheters hat Patient das Gefühl, als 
müsse er Urin lassen. Einen Einlauf will er als angenehm warm empfunden haben. 
Jedenfalls kann er aber bei rektaler Untersuchung nicht angeben, ob der Finger sich im 
Mastdarm oder wieder draußen befindet. Der eingehende Finger hat im After den Wieder¬ 
stand eines gut kontrahierten Schließmuskels zu überwinden. Der Analreflex ist vorhanden 
und deutlich. 

Die Achillessehnen und Plantarreflexe sind vollkommen erloschen. Der Patellarreflex 
ist rechts sehr lebhaft, links vergleichsweise träge. Kremaster und Bauchdeckenreflexe 
sind prompt und beiderseits gleich. Die Bewegung der Füße und Zehen ist ganz auf¬ 
gehoben bis auf die Hebung des inneren Fußrandes, die rechts kraftloser ausfällt als 
links. Nach einer Hebung fällt der Fuß durch eigene Schwere wieder zurück, dadurch 
auf den ersten Blick Plantarreflexion vortäuschend. Entsprechend diesem Funktionsaus¬ 
fall zeigt sich die ganze Fußmuskulatur und ebenso die des Unterschenkels deutlich atrophisch. 
Die Klein- und Großzehenseiten sind eben und eingesunken und der Fuß zeigt Plattfuß- 
bildung, die allerdings schon vorher bestanden haben soll. Die Bewegung im Kniegelenk 

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Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris und der Kauda equina. 


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erfolgt nach vorne gut, nach hinten mit deutlich herabgesetzter Kraft. Im Hüftgelenk 
wird gut gebeugt, an- und abduziert und auswärts gerollt. Beim seitlichen Heben des 
Beines fühlt man ganz deutlich den Wulst des. Glutäus medius. Das forcierte Strecken 
dagegen ist schwach und offenbar nur von Flexoren und Aduktoren besorgt, denn vom 
Glutäus maximus ist dabei nichts zu bemerken. Entsprechend ist von den sichtbaren 
Veränderungen am auffallendsten eine weitgehende Atrophie der Gesäßmuskulatnr. Die 
Haut der ehemaligen Nates ist schlaff und runzlich, zwischen Kreuzbeinende und Anus 
findet sich eine tiefe Einsenkung und die Sitzbeinhöcker springen mit fast nackter Deut¬ 
lichkeit hervor. 

Galvanisch ist in der gelähmten Fuß- und Unterschenkelmuskulatur träge Zuckung 
zu erzielen, nur die Glutäi sind weder galvanisch noch faradisch zu einer Reaktion zu 
bringen. Einmal wurde im Gebiet des linken Glutäus fibrilläres Muskelzucken beobachtet. 

Ruhiges Freistehen ist dem Patienten unmöglich. Er stemmt sich mit den Knien 
gegen eine Stuhlkante oder sucht sich mit den Händen festzuhalten. Der Gang er¬ 
scheint langsam und etwas wackelnd und trotzdem die Knie ausgiebig gehoben werden, 
schleifen die äußeren Fußränder am Erdboden. 

Die Betrachtung des Rückens läßt eine Deformität der Lendenwirbelsäule erkennen 
derart, daß die Wirbelsäule eine Kyphose von etwa 4 Wirbeln Ausdehnung zu bilden 
scheint, mit dem Scheitelepunkt im zweiten Lendenwirbel. Diese Lendenkyphose bleibt 
auch bei stärkster allgemeinerLordosehaltung bestehen. Neben dem ersten Lendenwirbel 
findet sich 1 1 / 2 cm nach links von der Mittellinie eine pfenniggroße knöcherne Resistenz, 
anscheinend der abgewichene Dornfortsatz des ersten Lendenwirbels. Über der ent¬ 
sprechenden Stelle rechts läßt energisches Betasten ein Knastern oder Krepitieren in 
der Tiefe erkennen. Eine Druckempfindlichkeit der Wirbelsäule besteht, nicht. 

Im Röntgenbild zeigt sich der Körper des ersten Lendenwirbels zusammengedrückt 
und keine Spur von seinem Dornfortsatz. 

Epikrise: Ein 39jähriger Arbeiter fällt vom Baum auf den Rücken imd zeigt 
nach vorübergehender Mitbeteiligung lumbaler Sensibilitätsbezirke folgende blei¬ 
benden Störungen: 1. Palpatorisch und röntgenologisch nachweisbare Zertrümmerung 
des ersten Lendenwirbels. 2. Atrophische Lähmung der langen und kurzen Fu߬ 
muskeln mit Ausnahme des Tibialis antikus, der jedoch rechts schwächer ist als 
links; Lähmung der Glutäi und Parese der Unterschenkelbeuger. 3. Hypästhesie 
jn einem Teil von S 1 und S 2 links; dissoziierte Unterempfindlichkeit in einem Teil 
von S3; im Bereich der übrigen Sakralsegmente totale Anästhesie. 4. Nach an¬ 
fänglicher totaler Retention Automatismus der Blase mit Verlust der willkürlichen 
Beeinflußbarkeit ihrer Entleerung. Hypästhesie der Blasenschleimhaut. 5. Auto¬ 
matische Entleerung des Mastdarms in zweitägigem Abstand mit Inkontinenz für 
dünne Stühle. Anästhesie der Mastdarmschleimhaut. 6. Erloschensein von Libido 
Orgasmus und Ejakulation bei erhaltener Erektionsfähigkeit. 

Auf unsere erste Frage nach dem Sitz der Rückenmarksverletzung scheint 
uns die zirkumskripte Läsion des ersten Lendenwirbels eine rasche Antwort geben 
zu können, hinter Welchem der Konus und die epikonialen Segmente gelegen sind. 
Indessen darf nicht vergessen werden, daß in manchen früheren Fällen die Rücken¬ 
marksverletzung nicht genau am Ort der Wirbelbeschädigung gefunden worden 
ist, und Fischler hat z. B. für Konusläsionen wahrscheinlich gemacht, daß durch 
die gewaltsame Streckung des Rückenmarks beim Hinfallen der durch die Wurzeln 
fixierte Konus gezerrt oder sogar abgerissen werden könne ohne Zusammenhang 
mit gleichzeitiger Wirbelverletzung von vielleicht ganz anderem Sitz. Im vor¬ 
liegenden Fall besteht aber kein Grund, so mißtrauisch zu sein. In Höhe des 
deutlich geschädigten Wirbels liegt das Sakralmark umgeben von den Lumbal- 


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298 


E. Wolff 


wurzeln und es läßt sich zwanglos annehmen, daß unmittelbar nach dem Wirbel¬ 
trauma, als die Gefühlsstörung noch auf den Leib heraufreichte, die hinteren 
Wurzeln mit beteiligt waren, ihrer derberen Natur wegen, sich aber schnell er¬ 
holen konnten, so daß nur die Schädigung des verletzlicheren Markes bestehen 
blieb. Es wäre lediglich noch festzustellen, ob die Ausfallserscheinungen alle mit 
diesem wahrscheinlichen Sitz der Läsion in Einklang stehen oder sich Unstimmig¬ 
keiten ergeben. Das soll weiter unten im Zusammenhang mit dem zweiten Fall 
geschehen. 


n. 

Der 29 jährige Unteroffizier B. erhielt am 15. April 1917 zwei parallele Maschinen- 
gewehrschttsse in die rechte Lendenmnsknlatnr etwas oberhalb des Dannbeinkammes bzw. 
handbreit darunter. Er verspürte sogleich Schwäche and Gefühllosigkeit in beiden 
Beinen, so daß er Bich nur kriechend am Boden fortziehen konnte. Nach einigen Tagen 
vollständiger Harnverhaltung, die den Gebrauch des Katheters notwendig machte, trat 
dauerndes unwillkürliches Harnträufeln ein, welches ebenso wie die einsetzende Stuhlver¬ 
stopfung bis heute geblieben ist. Nach etwa 14 Tagen war das rechte Bein wieder 
normal, während Schwäche und Gefühllosigkeit links unverändert blieb. Patient ver¬ 
mochte einige Wochen darauf aufzustehen und herumzuhumpeln, nur das Sitzen war auf¬ 
fälligerweise noch im Juni des Jahres ganz unmöglich. Am 2. August 1917 wurden die 
Steckgeschosse operativ entfernt. Das untere saß am linken Band des Sakralkanals 
zwischen den Wurzeln in Höhe des zweiten Sakralknochens, das obere unterhalb des 
vierten Lendenwirbels unter der Dura. Der fünfte Lendenwirbelbogen erwies sich als 
frakturiert. Die Gefühlsstörungen wurden durch die Operation nicht beeinflußt; dagegen 
besserte sich die Beweglichkeit der großen Zehe und die Fähigkeit, sitzen zu können, 
nahm beträchtlich zu. 

Zurzeit läuft der Urin in kleinen Portionen unwillkürlich und unbemerkt ab. Zu¬ 
gleich hält die Blase dauernd 5 bis 600 ccm zystitischen Bestharn. Urindrang wird nie 
gespürt. Auch die Füllung des Bektums vermag der Patient nur mit dem Finger fest¬ 
zustellen. Er nimmt von Zeit zu Zeit ein Abführmittel und wartet über dem Stech¬ 
becken den Durchtritt der Fäzes ab, den er nicht empfindet, sondern durch Autopsie 
feststellen muß. Die Geschlechtsfunktionen sind bis auf seltene Erektionen erloschen. 

Die Sensibilitätsstörungen umgreifen das linke Gesäß und ziehen sich in bekannter 
Weise streifenförmig an der Hinterseite des Beines nach unten und schraubenförmig nach 
vorn, den Fuß bis auf ein schmales Gebiet am Innenrande mitergreifend. Perinäum, 
Skrotum und obere Penishälfte sind auf der linken Seite gleichfalls ohne Gefühl. Der 
Gefühlsausfall ist für alle Qualitäten absolut. Davon zeugen auch in Heilung begriffene 
Geschwüre am Hacken und Fuß, die niemals Schmerzen gemacht haben sollen. Die 
Achillessehnenreflexe sind beiderseits nicht zu erzielen, der Analreflex fehlt, der Patellar- 
reflex ist links lebhafter als rechts. Die Muskulatur des linken Fußes und Unter¬ 
schenkels ist sehr deutlich astrophisch, desgleichen die der lateralen Flexoren am Ober¬ 
schenkel und ganz besonders die der Glutäi. Elektrisch ist die betroffene Muskulatur 
bis auf den Tibialis anticus und extensor hallucis longus unerregbar. Entsprechend ist 
die Beugung detf Unterschenkels paretisch, die Bewegung der Zehen und des Fußes bis 
auf die Funktionen der genannten Muskeln gelähmt. 

Epikrise: Ein 29jähriger Soldat also erhält zwei Haschinengewehrschüsse 
in den Kücken, die bei der Operation unter der Dura des 5. Lendenwirbels bzw. 
zwischen den linken Wurzeln in Höhe des 2. Sakralknochens gefunden werden. 
Nach anfänglicher Mitbeteiligung des rechten Beines trägt er als dauernde Schä¬ 
digung davon: 1. Atrophische Lähmung der langen und kurzen Fußmuskeln links 
mit Ausnahme des Tibialis anticus und Extensor hallucis longus; Lähmung des 


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Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris und der Kauda equina. 299 


Glutäus und Biceps femoris links. 2. Anästhesie aller sakralen Bezirke links. 
3. Erloschensein beider Achillessehnenreflexe und Ungleichheit der Patellarreflexe, 
links größer als rechts. 4. Paralytisches Harnträufeln. 5. Fehlen des Analreflexes. 
Anästhesie des Mastdarms und Inkontinenz für dünne Stühle. 6. Fehlen von 
Libido, Orgasmus und Ejakulation bei seltenen Erektionen. 

Der Fall charakterisiert sich durch die operative Autopsie einwandfrei als 
Kaudaverletzung; höchstens könnte man im Zweifel sein, welche von beiden Kugeln 
die Ausfallserscheinunger bewirkt hat. Die Antwort wird sich bei der Betrachtung 
der einzelnen Ausfallserscheinungen nach ihrer Segmentzugehörigkeit von selbst 
ergeben. * 

Wir wenden uns zunächst den Reflexen zu, Achillessehnen- und Fußsohlen¬ 
reflex sind in beiden Fällen vollständig erloschen. Ihr. Rückenmarkszentrum wird 
von den meisten Autoren in den ersten Sakralsegmenten gesucht, während Oppen¬ 
heim und Flatau auch das unterste Lumbalsegment mit heranziehen. Diese 
letztere Annahme würde uns hier nur dann erlaubt scheinen, wenn sonst noch 
Symptome für eine Ausdehnung der Affektion auf die Lumbalsegmente sprechen 
würden, was indessen kaum der Fall ist. Denn es braucht keine etwa einseitige 
Alteration des mitten im Lumbalmark gelegenen Zentrums für die Patellarreflexe 
zu bedeuten, wenn sie in beiden Fällen deutlich ungleich gefunden wurden. Diese 
Erscheinung beruht viel mehr auf der gesteigerten Erregbarkeit eines Reflex¬ 
zentrums, wie es häufig dann eintritt, wenn der nächst tiefere Reflex erloschen 
ist. Der Zustand ist als „Dissoziation des Reflexes“ beschrieben worden und 
findet sich in unseren beiden Fällen oberhalb der’stärker geschädigten Seite des 
Sakralmarkes.. Er soll eigentlich besonders charakteristisch für Läsionen des 
Markes sein; aber in unserem zweiten Fall findet er sich ganz ausgesprochen bei 
einer einwandfreien Kaudaverletzung, bei der überdies eine andere Entstehungs¬ 
weise ausgeschlossen ist, da die obere Kugelverletzung in Höhe des 5. Lumbal¬ 
wirbels die Patellarreflexfasern nicht mehr betreffen konnte. 

Der Analreflex ist bei der Kaudaverletzung erloschen, bei der Markläsion 
dagegen erhalten und beweist die Unversehrtheit des letzten Sakralsegmentes. 

Was die Mobilitätsstörungen angeht, so ist die Lähmung des Glutäus bei 
teilweisem oder gänzlichem Freisein der Unterschenkelbeuger und unversehrtem 
Tibialis anticus häufig beobachtet und mit der die Höhenanordnung der Muskeln 
am Bein umkehrenden Kernordnung im Rückenmark erklärt worden. In unserem 
ersten Fall ist die geringe Kraft des rechten Tibialis anticus bemerkenswert, die. 
vielleicht doch dafür spricht, daß auf dieser Seite die Schädigung etwas ins 
Lendenmark hineinreicht, in dessen 4. oder 5. Segment der betreffende Kern all¬ 
gemein angenommen wird. Lichtheim hat das häufige Freisein der Semi¬ 
muskeln bei befallenem Biceps femoris betont und daraus ist auf einen um ein 
Segment höheren Ursprungs der Semimuskeln geschlossen worden, womit sie in 
das 5. Lumbalsegment zu liegen kämen. In unserem Kaudafall ist dieses Ver- 
Jialten von Bizeps und Semimuskeln ganz ausgesprochen vorhanden und durch die 
Lähmung des Bizeps wird zugleich festgelegt, daß die untere Kugelverletzung 
in Höhe des 2. Sakralknochens nicht allein die Zerstörungen angerichtet haben kann. 

Die Sensibilitätsstörungen betreffen nach dem Goldscheid ersehen Schema 
in beiden Fällen die sämtlichen Sakralsegmente, so daß sie den Verlauf der 


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E. Wolfif 


Axiallinien an den unteren Extremitäten veranschaulichen. In dem 2., dem Kauda- 
fall, folgt die Axiallinie der Sehne des Extensor hallucis longus und halbiert den 
großen Zeh, genau wie es von Goldscheider 1 ) vermittels der Irradiationsmethode 
angegeben worden ist. Ein Übergfeifen in Lumbalgebiete erfolgt nirgends. Im 
ersten Fall ist die Störung in Teilen von S 2 nicht vollständig, in Teilen von S 3 
dissoziert, woraus sich im Zusammenhang mit dem Erhaltensein des Analreflexes 
ergibt, daß der Konus jedenfalls nicht im ganzen Umfang zerstört sein kann. Im 
zweiten Fall ist ein S5 entsprechendes Gebiet auch auf der sonst unversehrten 
rechten Seite anästhesisch, so daß vielleicht außer dem Fehlen des Achillessehnen¬ 
reflexes hier noch ein Zeugnis für die ursprünglich doppelseitige Natur der Läsionen 
geblieben wäre. 

Bei den Blasenstörungen ist in dem Fall von Konusverletzung die automatische, 
dem Willen entzogene Tätigkeit von Blase und Mastdarm bemerkenswert.. Man 
könnte denken, daß außer den bereits erwähnten noch andere und zwar gerade 
die den beiden Organen vorstehenden Teile von der Markzerstörung verschont 
geblieben und nur durch die Leitungsunterbrechung in den höheren Sakralsegmenten 
von allen willkürlichen Impulsen aus dem Großhirn abgeschnitten worden wären. 
Damit würde man die von Müller zuerst 1899 aufgestellte Theorie, daß die auto¬ 
matische Blasentätigkeit ihre Ganglien im Sympathikus besitze und unabhängig 
vom Rückenmark sei, zunächst nicht nötig haben und sich auf den Standpunkt 
von Lewandowski und Braun stellen, die in ihrem Handbuch für jede auch 
rein reflektorische Tätigkeit in diesen Fällen das Spiel erhalten gebliebener spinaler 
Zentren fordern. Dagegen ist zu sagen, daß es doch sehr merkwürdig wäre, wenn 
bei übrigens so starken Markläsionen, wie sie in unserem Fall und bei sehr 
vielen Fällen der Literatur vorliegen, ausgerechnet immer das anale und das 
vesikale Zentrum verschont blieben; zumal die beiden nicht miteinander verbunden 
sind, sondern wie aus Fällen mit gestörter Blasen- und erhaltener Mastdarm¬ 
funktion hervorgeht, an verschiedenen Stellen im Rückenmark lokalisiert sind. 
Ferner sind die Sektionen von Kranken nicht zu übersehen, die im Leben Auto¬ 
matismus der Blase und des Mastdarms aufwiesen und bei denen dann die Gegend 
der supponierten Zentren im Konus total zerstört gefunden wurde. Schließlich 
hat der Krieg noch ein sehr schlagendes Experiment für die Unabhängigkeit der 
Blasentätigkeit vom Rückenmark in dem von Oppenheim 1915 mitgeteilten Fall 
geliefert. Ein Geschoß hatte die Cauda equina in Höhe des 4. Lumbalwirbels so 
vollständig durchschlagen, daß bei der Operation an dieser Stelle ein gänzlich leerer 
Wirbelkanal gefunden wurde, der offenbar durch Retraktion der durchschnittenen 
Wurzelenden entstanden war. Selbstverständlich war der Mann gelähmt, aber 
trotz der ebenso selbstverständlichen Ausschaltung aller medullären Bezüge für die 
Blase hatte er eine fast normale Urinentleerung, bloß daß er etwas mehr drücken 
mußte als vor der Verwundung. Angesichts dieser Tatsache darf man sich nicht 
gegen die mit der Mehrzahl der Autoren auch von Oppenheim geteilte Annahme 
sträuben, daß im Zerstörungsfalle die spinale Funktion der Blasen- und Mastdarm- 
zentren bis zu einem gewissen Grade von untergeordneten sympathischen Zentren 
übernommen werden kann. Ob es dann weiter möglich ist, mit Müller die 


') Goldscheider, Tafeln der spinalen Sensibilitätsbezirke der Haut, Berlin 1918. 


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Beitrag zu den Verletzungen des Konus medullaris und der Kauda equina. 301 


Existenz der gefragten spinalen Zentren überhaupt zu leugnen, muß dahingestellt 
bleiben. 

Unsere beiden Fälle sind in der Verteilung der Lähmungen und den sonstigen 
Ausfallerscheinungen so ähnlich, daß es auf den ersten Blick gewiß schwierig 
fallen würde, in ihnen zwei Erkrankungen von ganz verschiedenem Sitz zu erkennen, 
wenn wir auf den Anhalt verzichten müßten, den uns die deutlichen extra-medullären 
Veränderungen zum Glück gewähren. Man hat im Laufe der Zeit eine Anzahl 
von Zeichen herausgefunden, die die Differenzialdiagnose zwischen Konus und 
Kaudaerkrankung auch der Beurteilung ermöglichen sollen, die sich rein auf die 
Betrachtung der Ausfallserscheinungen angewiesen sieht. Diese differenzial- 
diagnostischen Symptome werden von unserer Konus- und unserer Kaudaverletzung 
nicht alle und nicht in eindeutiger Weise gebracht. Hier hat besonders Einseitig¬ 
keit oder Doppelseitigkeit der Ausfallserscheinungen Wichtigkeit. Zerstörungen 
in dem so leicht verletzlichen Konus werden sich kaum je auf eine Hälfte be¬ 
schränken können, während die derben Wurzeln nur bei allerdirektester Einwirkung 
verletzt werden. Dies trifft in unseren Fällen zu. Im zweiten saß die Kugel am 
linken Rand des Sakralkanales und entsprechend ist das rechte Bein fast verschont 
geblieben, während'im ersten Fall eine genaue symmetrische Verteilung der Er- 
scheinungen zu finden war. Dann soll die Markverletzung fibrilläres Muskelzucken 
machen — unser erster Fall zeigte im Glutäus solches Zucken, in welchem man 
einen Ausdruck für die Erregung der degenerierenden Vorderhornganglienzellen 
hat sehen wollen. Auch Dissoziation der Empfindungsstörung soll nur bei Mark¬ 
verletzungen Vorkommen, da sie auf die Tatsache zurückgeführt wird, daß Schmerz 
und Temperaturleitung gleich nach dem Eintritt ins Rückenmark in die leicht ver¬ 
letzlichen Hinterhörner sich begeben, während die Berührungsempfindung erst noch 
in der derberen weißen Substanz emporsteigt. Im ersten Fall war zweifellos 
Dissoziation im Gebiet des 3. Sakralsegments vorhanden, während im zweiten Fall 
jede Dissoziation fehlte. Dagegen war bei dem zweiten ein Kaudasymptom an¬ 
gedeutet, auf das Schlesinger zuerst aufmerksam gemacht hat, das nämlich die 
kaudalädierten Patienten das Sitzen bei weitem am schlechtesten von allen Körper¬ 
lagen vertragen sollen. Schlesinger deutet das als Zerrungsschmerz der Wurzeln 
analog dem Kernigschen Phänomen. Unser 2. Patient vermochte vor der Operation, 
schon als er viele Stunden täglich aufstand, das Sitzen nur 2—3 Minuten hinter¬ 
einander auszuhalten und noch heute erträgt er es höchstens für eine Stunde, dann 
zwingen ihn Schmerzen im Kreuz und ein fürchterliches Ermüdungsgefühl, seine 
Lage zu wechseln. 

Das wichtigste imd anscheinend konstanteste Symptom, daß zur Differenzial- 
dignose der Kaudalläsionen angegeben worden ist — die ausstralilenden Schmerzen 
— fehlt bei ihm wiederum ganz, ein Beispiel für die Unzuverlässigkeit der be¬ 
schriebenen Merkmale, wenn man nicht schließlich das Schlesingersche Zeichen 
im gewissen Sinn auch hier anführen will. In letzter Zeit hat Boenheim auf 
eine Erscheinung erneut aufmerksam gemacht, die fast nur bei Konuserkrankung 
Vorkommen soll und eine Dissozierung der Potenzstörung darstellt in dem Sinn, 
daß Ejakulation und Orgasmus unmöglich sind, die Erektionfähigkeit dagegen 
erhalten bleibt. Dieser Zustand setze die Intaktheit des spinalen Zentrums der 
Erektion in S 2 voraus bei Zerstörung des nächst tieferen Segmentes, in dem 


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302 E. Wolff, Beitrag zu den Verletzungen des KonnB mednllaris u. d. Rauda equina. 


die Ejakulationsmuskeln ihren Sitz hätten. Boenheim verkennt nicht die Schwierig¬ 
keit, daß ein Zustandekommen der Erektion auf sympathischem Wege, das er im 
Müllerschen Sinn , für möglich hält, die Lebendigkeit des in Wirklichkeit längst 
zerstörten 2. Sakralsegmentes vortäuschen kann. Nur glaubt er, daß eine solche 
Ersetzung einer superponierten spinalen Funktion durch einen sympathischen Reflex 
in der ersten Zeit nach der Markbeschädigung noch nicht zu finden sein werde. 
Unser erster Fall würde diesen letzteren Annahmen so ungefähr entsprechen, wenn 
auch die Angabe, daß die jetzt häufigen Erektionen in den ersten Wochen der 
Krankenhausbehandlung gänzlich gefehlt hätten, wegen des psychisch gestörten 
Zustandes des Patienten nicht ganz zuverlässig sind. Das beiseite gelassen, würde 
hier also von einer echten, für Markläsion sprechenden dissozierten Potenzstörung 
nicht die Rede sein. Darüber hinaus finden wir aber auch Erektionen im zweiten, 
dem Kaudafall, in dem sie nach der Theorie fehlen sollten und müssen nun ent¬ 
weder auch hier Sympathikustätigkeit oder das isolierte Erhaltensein gerade der 
Erektionsfasern annehmen. Es ergibt sich somit, daß in unseren Fällen das Boen- 
heimsche Symptom nicht erkennbar ist und seiner Anwendung in praxi jedenfalls 
mancherlei Schwierigkeiten im Wege stehen. 


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C. Innere Krankheiten 


XII. 

Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen 
Lungentuberkulose im Invalidenrentenverfahren. 

Von 

San.-Rat Dr. v. Golz, 

Ärztl. Beirat der Landesveroicheningsanstalt Berlin, 
z. Zt Chefarzt des Vereins-Laz. Beelitz. 

Die Zunahme der Invalidenrentenanträge wegen Lungentuberkulose bei den 
Landesversicherungsanstalten, eine naturgemäße Folge der durch Kriegsdienste 
vermehrten Erkrankungen an Tuberkulose unter der versicherungspflichtigen Be¬ 
völkerung, lenkt die Aufmerksamkeit auch der nicht im militärischen Dienste 
tätigen Gutachter aufs neue auf die Richtlinien, nach denen die Beurteilung der 
Erwerbsfähigkeit Lungenkranker geschehen soll. Ein Blick in die allein während 
der Kriegsjahre entstandene Literatur zeigt, daß die Beurteilung der Frage und 
des Grades der Erwerbsfähigkeit keine leichte ist. Das Maß, mit welchem ge¬ 
messen werden soll, die gesetzliche Fassung des Begriffes Erwerbsunfähigkeit, 
findet sich in § 1255 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung: „Als Invalide gilt, 
wer nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die seinen Kräften und Fähig¬ 
keiten entspricht und ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und 
seines bisherigen Berufes zugemutet werden kann, ein Drittel dessen zu erwerben, 
was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Aus¬ 
bildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.“ 

An dem Ausbau dieser Begriffsbestimmung ist seit dem Bestehen der Arbeiter¬ 
versicherungsgesetzgebung unablässig gearbeitet worden und wird noch weiter ge¬ 
arbeitet. Vor allem ist der höchste Gerichtshof, das Reichsversicherungsamt, hierzu 
berufen gewesen. Überblickt man die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts in 
den nunmehr vollendeten ersten 30 Jahren seines Bestehens, so erkennt man, daß sie 
in ihrer Art von jeder früheren Jurisdiktion abweichen mußte; Rechtsbegriffe und 
juristische Denkweise sind mit wirtschaftlichen Anschauungen vereinigt und den 
Verhältnissen des gewerblichen Lebens angepaßt. Sie ist erfüllt von jenem Geiste 
des Wohlwollens gegen die Fürsorgebedürftigen und Fürsorgeberechtigten, den 
man als sozialpolitisches Empfinden zu bezeichnen pflegt. Durch die Spruchtätig¬ 
keit des Reichsversicherungsamts, bei welcher stets das Bestreben darauf gerichtet 


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y. Golz 


ist, die sich darbietenden Verhältnisse des praktischen Lebens in ihrer Wesens¬ 
art zu erfassen, ist der Begriff „Erwerbsunfähigkeit“ von dem Begriffe „Arbeits¬ 
unfähigkeit“ und „Arbeitslosigkeit“ abgegrenzt worden.. Man hat dazu Stellung 
genommen, das nach der gesetzlichen Begriffsbestimmung maßgebende Verdienst¬ 
drittel, die Verdienstgrenze, festzustellen; hat erläutert, was man unter Personen 
derselben Art riiit ähnlicher Ausbildung zu verstehen habe; es sind die Merkmale 
„Fähigkeit“ und „Arbeit“ dahin geklärt worden, daß Arbeit zum Erwerbe ver¬ 
wertbar sein müsse, daß die Fähigkeit zur Arbeit sich zwar aus der Tatsache, 
daß die Arbeit verrichtet wird, ergeben könne, daß die Arbeit aber als gewinn¬ 
bringende Beschäftigung nicht berücksichtigt werden könne, wenn sie nur mit Ge¬ 
fährdung der Gesundheit ausgeführt werden könne. 

Die viel umstrittene Frage, inwieweit die ärztlichen Gutachten für die 
Feststellung des Maßes der Erwerbsunfähigkeit maßgebend sind, hat das Reichs¬ 
versicherungsamt namentlich in einem Rundschreiben vom 31. Dezember 1901 
klargestellt. Danach findet die Aufgabe der ärztlichen Begutachtung im allge¬ 
meinen ihre Begrenzung in der Feststellung der physiologischen Folgen der eine 
Invalidität begründenden Gebrechen. Dagegen bieten die sonstigen ärztlichen 
Äußerungen, insbesondere darüber, welchen Einfluß der Befund auf die Erw r erbs- 
fähigkeit des Rentenbew'erbers ausübt, den in ihrer Entscheidung selbständigen 
Feststellungsinstanzen zwar wertvolle und bei inneren Krankheiten oft sogar un¬ 
entbehrliche, aber keineswegs bindende Unterlagen für die Urteilsfindung. Dem¬ 
gemäß würde es unzulässig sein, wenn die Feststellungsinstanzen einfach den von 
einem Arzte angegebenen Prozentsatz der Erwerbsunfähigkeit ihrer Entscheidung 
zugrunde legten, ohne die Frage nach dem Grade der Erwerbsunfähigkeit selbst 
geprüft zu haben. Ein derartiges Verfahren, durch das eine der wichtigsten 
Aufgaben der Feststellungsorgane zu einer mechanischen Wiederholung des Er¬ 
gebnisses der ärztlichen Gutachten herabgedrückt würde, entspricht, wie das 
Reichsversicherungsamt ausdrücklich hervorhebt, nicht der Absicht des Gesetzes. 
Für die Invalidenversicherung insbesondere ist unter Bezugnahme auf jenes Rund¬ 
schreiben hinzugefügt, wenn die ärztlichen Sachverständigen, wie es vielfach 
Brauch sei, über die Fähigkeit des Rentenbew r erbers, den Mindestlohn zu ver¬ 
dienen, gehört würden, so seien die rechtsprechenden Stellen an derartige 
Schätzungen keinesfalls gebunden. Der Brauch sei aber andererseits auch nicht 
zu mißbilligen, denn solche Äußerungen könnten für die Urteilsfindung w r ertvplle 
Grundlagen abgeben, wenn sie von Ärzten au^gingen, denen Lebenserfahrung 
und sozialpolitische Schulung eigen sei. Deshalb werde es sogar erwünscht sein, 
daß sich die ärztlichen Sachverständigen auch nach dieser Richtung hin aus¬ 
sprächen. 

Aus dieser und allen übrigen Entscheidungen des höchsten Gerichtshofes 
geht hervor, daß der Begriff der Erwerbsfähigkeit kein medizinischer, sondern 
ein wirtschaftlicher ist, und daß der Arzt als Gutachter keine andere Stellung 
einnimmt, als sie der gerichtliche Sachverständige vor den ordentlichen Gerichten 
bekleidet. Wenn wir uns nach diesen Vorschriften, die teils vom Gesetzgeber 
direkt gegeben sind, teils sich aus der auslegenden und erklärenden Judikatur 
der richterlichen Instanzen ergeben und die uns als Führer dienen müssen, die 
Frage vorlegen: Wie soll bei der Beurteilung der chronischen Lungentuberkulose 


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Zur Begutachtung der Erwerbsfäbigkeit bei der chronischen Lungentuberkulose usw. 305 


das die Erwerbsunfähigkeit behandelnde ärztliche Gutachten aussehen? — so 
muß die Lösung dieser Frage darin gipfeln, objektiv den körperlichen Zustand 
des Lungenkranken zu schildern und denselben zu der Betätigung im Erwerbs¬ 
leben in Beziehungen zu bringen. Die Aufgabe des begutachtenden Arztes be¬ 
steht also darin, den Gesundheitszustand des Rentenbewerbers so zu analysieren, 
daß der Versicherungsrichter Klarheit darüber gewinnen kann, inwieweit der 
Kranke noch imstande ist, Arbeit zu verrichten, ob diese Arbeit zum Erwerbe 
zu verwerten sei, darauf zu achten, ob er Arbeit auch nicht etwa auf Kosten 
seiner Gesundheit auszuüben gezwungen werde und vre weit ihm unter Verzicht 
auf seine bisherige Berufstätigkeit Arbeit in anderen Berufszweigen zugemutet 
werden könne. Es ist also unter Berücksichtigung der beruflichen und allgemeinen 
Erwerbsunfähigkeit des Tuberkulösen ein. Gesamturteil darüber abzugeben, um 
wieviel seine Erwerbsfähigkeit Einbuße erlitten hat auf dem gesamten wirtschaft¬ 
lichen Arbeitsmarkt, der ihm nach Maßgabe seiner Geistes- und Körperkräfte 
offen steht, ob die Erwerbsunfähigkeit mehr oder weniger als G6 4 / Ä Proz. beträgt, 
ob also Invalidität eingetreten ist oder nicht. 

Die chronische Lungentuberkulose entwickelt sich aus geringen Anfängen, 
nimmt allmählich an Ausdehnung der örtlichen Erkrankung zu und führt erst in 
verhältnismäßig später Zeit zu dauernder Bettlägerigkeit des Kranken. Mit der 
besonderen Art aller, tuberkulösen Veränderungen hängt es zusammen, daß sie 
der Anlaß für mannigfache sekundäre Vorgänge, für Giftwirkungen und Misch¬ 
infektionen werden, wodurch häufig auch in frühen Stadien recht bemerkenswerte 
Einflüsse auf die Leistungsfähigkeit des Erkrankten ausgeübt werden. 

Die Ansicht G’urschmanns, daß ein Lungenkranker von Anfang an und so¬ 
lange er an Lungentuberkulose leidet, gegenüber einer körperlich und geistig ge¬ 
sunden Person derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in seiner Arbeitsfähigkeit 
und damit auch in seiner Erwerbsfähigkeit mehr oder weniger geschädigt ist, 
muß man unbedingt zustimmen. Andererseits gibt es Lungenkranke, die während 
des ganzen Verlaufes ihres Leidens, solange sie nicht bettlägerig sind, eigentlich 
nie absolut arbeitsunfähig sind, sondern auch in vorgerückten Stadien, in denen 
sie vom rein ärztlichen Standpunkte ohne jede Bedenken als invalide bezeichnet 
werden müßten, bei einer günstigen Konjunktur auf dem Arbeitsmarkt nicht nur 
leichte Handreichungen, sondern auch schwere Arbeiten verrichten, und es ist 
eine allgemein bekannte Tatsache, daß einzelne Tuberkulöse, denen auch der Laie 
ihre Krankheit ansieht, jahre- und jahrzehntelang arbeiten, während andere, sich 
einer kräftigen Konstitution Erfreuende in kurzer Frist dahinsiechen — daß es 
arbeitsfähige und nicht arbeitsfähige Lungenkranke gibt. 

Worin bestehen nun bei der chronischen Lungentuberkulose die objektiven 
Faktoren, deren Nachweis zur Trennung dieser beiden Kategorien für die Ab¬ 
schätzung durch den Gutachter erforderlich ist? — Lassen sich hierfür allgemein 
gültige Regeln aufstellen, die auch den Nichtmediziner, das heißt den Versicherungs¬ 
richter, in den Stand setzen, ein Urteil abzugeben? 

Die früher sehr spärliche Literatur über die Erwerbsfähigkeit Lungenkranker 
hat in den Kriegsjahren erheblich an Umfang zugenommen, teils in Original¬ 
arbeiten, häufiger in Vorträgen auf kriegsärztlichen Abenden an verschiedensten 
Stellen. Neben diesen stehen die gebräuchlichen Lehrbücher, sowie die Dienst- 

Zeitichr. f. phy.ik. u. diät. Therapie Bd. XXII. lieft 8 ». 20 


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anweisung zur Beurteilung der Militärdienstfähigkeit (D. A. Mdf.) und die vom 
Kriegsministerium, Sanitätsdepartement, durch Erlaß vom 2. August 1917 bekannt- 
gegebenen „Richtlinien für die militärärztliche Beurteilung der Lungentuberkulose" 
zur Verfügung. Beziehen sich die in diesen Arbeiten niedergelegten Urteile in 
der Hauptsache auch nur auf die Beurteilung der im Kriegsdienst stehenden oder 
aus demselben zu entlassenden Personen, deren Erwerbsbeschränkung prozentual 
abgeschätzt werden muß, so treffen doch die, durch Untersuchung und Beobachtung 
unserer Kriegsbeschädigten gewonnenen Resultate auch für die Beurteilung von 
Invalidenrentenbewerbern zu. 

Die berühmte Naegelische Sektionsstatistik, in welcher nachgewiesen wurde, 
daß 90 Proz. der Bevölkerung tuberkulös infiziert gewesen sind, hat in neuester 
Zeit eine sehr bemerkenswerte Ergänzung durch eine Statistik von Reinhard 
erfahren, die uns die ungeheure Durchseuchung der Menschen mit Tuberkulose 
neuerdings deutlich vor Augen führt, andererseits aber die alte Erfahrung be¬ 
stätigt, daß sich der menschliche Organismus in der großen. Mehrzahl der Fälle 
gegen den eingedrungenen Tuberkelbazillus erfolgreich zu wehren vermag. Diese 
Statistik ist nach dem Lebensalter geordnet, und ihre wichtigsten Ergebnisse 
sind folgende: Bei Neugeborenen fand sich nie Tuberkulose, bei Kindern bis zum 
13. Lebensjahre, und zwar an Häufigkeit mit dem Alter zunehmend, 29,16 Proz., 
wobei sich feststellen ließ, daß die Tuberkulose mehr Neigung zu tödlichem Ver¬ 
laufe hat, je früher sie auftritt. Zur Zeit der Pubertät erfolgt dann ein ganz ge¬ 
waltiger Anstieg der Tuberkulosehäufigkeit, denn in der Altersklasse von 14 bis 
17 Jahren fanden sich auf 100 Fälle 40 Proz., von 18 bis 20 schon 84,6 und von 
20 bis 22 nicht weniger als 94,7 Proz. Während man auf Grund der Pirquetschen 
Tnberkulinreaktion anzunehmen geneigt ist, daß schon bis zum Beginn der 
Pubertät die tuberkulöse Durchseuchung der Jugend vollendet wird, geht doch 
aus diesem Sektionsmaterial zweifellos hervor, daß tuberkulöse Erstinfektionen 
auch noch im militärdie'nstpflichtigen Alter erfolgen. Unter den Erwachsenen er¬ 
wiesen sich 96,38 Proz. als tuberkulös infiziert, aber nur 22,2 Proz. waren dieser 
Infektion erlegen, während bei den übrigen die Tuberkulose entweder als aller¬ 
dings noch aktive Nebenkrankheit oder (und zwar zunehmend mit dem Alter) als 
abgeheilt zu betrachten war. Letztere Fälle machen nicht weniger als 66,2 Proz. 
aller Tuberkulösen aus. Für den Gutachter ergibt sich aus diesen Zahlen die 
Tatsache, daß unter 100 zu Untersuchenden über 90 schon eine tuberkulöse In¬ 
fektion gehabt haben, und es ist ihm die Aufgabe gestellt, festzustellen, ob die 
Tuberkulose der Lungen noch im Fortschreiten begriffen ist; oder ob sie zum 
Stillstand gekommen ist, oder ob sie im klinischen Sinne als geheilt angesehen 
Averden kann. 

Roepke vertritt die Ansicht, daß bei Lungentuberkulose, solange sie Krank¬ 
heitserscheinungen wie Fieber, Abmagerung, Nachtschweiße, Husten und bazillen¬ 
haltigen Auswurf oder gar Blutungen, unterhält, völlige Erwerbsunfähigkeit an- 
ziuiehmen und solche mit 100 Proz. zu entschädigen sei. Hierbei kommt es nicht 
so auf die räumliche Ausdehnung des tuberkulösen Lungenprozesses an, als viel¬ 
mehr auf seinen aktiven fortschreitenden Charakter, der durch die gesamten Er¬ 
scheinungen hinreichend erkennbar ist. Nun sind jedem Arzt Fälle bekannt, die 
jahrelang an offener Tuberkulose leiden, ohne daß ihre Arbeitsfähigkeit nenneus- 


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Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen Lungentuberkulose usw. 307 


wert beeinträchtigt ist; jedem Arzt sind Fälle bekannt, die wochern und monate¬ 
lang Bazillen auswerfen, dann abazillär sich verhalten. Nun kann es keinem 
Zweifel unterliegen, daß die Expektoration von Bazillen immer den Beweis liefert, 
daß der tuberkulöse Prozeß in der Lunge in Bewegung begriffen und noch nicht 
zum Abschluß gekommen ist, und daß die Gefahr einer Verschlimmerung durch die 
Arbeit, welche den Wert der Arbeit im gesetzgeberischen Sinne zweifelhaft er¬ 
scheinen läßt, nicht auszuschließen ist. Grau gibt an, daß Leute mit dauerndem 
Bazillenauswurf im Mittel als 50 Proz., solche, bei denen der Auswurf in kurzer 
Zeit wieder bazillenfrei geworden, im Mittel als 33 l / ;t Proz. erwerbsbeschräukt zu 
erachten seien, ein Beweis dafür, daß auch offene Tuberkulose immerhin noch 
beträchtliche Arbeitsfähigkeit zulassen kann. In Übereinstimmung mit dieser Er¬ 
kenntnis steht das Bestreben, die Leute nach der Behandlung in den Heilstätten 
ihrem alten Berufe wieder zuzuführen, die Einrichtung von Genesungsheimen mit 
landwirtschaftlicher und gärtnerischer Beschäftigung, sowie mit Heil- und Ge- 
wühnungswerkstätten, Womöglich auch mit Gelegenheit zu etwa nötiger Berufs¬ 
umbildung und Erlernung des neuen Berufes. Grenereil können wir also die 
Differenzierung von offener und geschlossener Tuberkulose zur Beurteilung der 
Erwerbsfähigkeit nicht verwenden. 

Versuchen wir nun, unser Gutachten auf die Veränderungen in den Lungen 
selbst zu stützen. Kann man die Turban-Gerhardtsche Einteilung hach Stadien 
hierfür verwenden, daß man z. B. sagen könnte, alle Leute im II. oder HI. Stadium 
seien erwerbsunfähig? Auch diese Frage muß mit nein beantwortet werden, 
denn die Klassifizierung nach Stadien gibt uns zwar ein Urteil über die räumliche 
Ausdehnung des Krankheitsprozesses, ob es sich aber hierbei um einen in der 
Vorwärtsbewegung oder im Stillstehen begriffenen Zustand handelt, ob Bazillen¬ 
auswurf besteht oder nicht, das können wir generell nicht sagen. Es gibt eine 
große Zahl von Tuberkulösen, die, nach der Ausdehnung des Prozesses zu ur¬ 
teilen, mit Stadium III bezeichnet werden müssen, welche jahrelang arbeiten. 
Die Beurteilung lediglich nach der räumlichen Ausdehnung der Erkrankung kann 
auf der einen Seite zur Überwertung ausgedehnter Befunde abgelaufener Er¬ 
krankungen führen, auf der anderen Seite dazu, daß Fälle mit wenig ausgedehntem 
anatomischen Befunde auch als in jedem Falle wenig erwerbsbeschränkt be¬ 
trachtet werden. Wir sehen also hieraus, daß wir auch mit der Stadieneinteilung 
generell nicht in die- Lage versetzt werden, danach die Erwerbsfähigkeit zu 
beurteilen. 

Grau hat den Satz ausgesprochen, daß die Begutachtung eines Tuberkulösen 
ohne Röntgenuntersuchung unvollständig ist. Dem stimmen alle in neuerer Zeit 
erschienenen Arbeiten zu, denn kein anderes Verfahren zeigt uns so genau die 
Ausdehnung der tuberkulösen Erkrankung. In vielen Fällen ist sie größer als 
wir nach dem Befunde der klinischen Untersuchung angenommen hatten. Häufig 
liefert sie Bilder ausgedehnter, allerdings dann meist vorwiegend fibröser Ver¬ 
änderungen, sie zeigt vor allem in vorzüglicher Weise die Eigenart des anatomischen 
Prozesses im einzelnen Falle. Büttner-Wobst faßt diese Erkenntnis in die 
Worte zusammen: die Röntgenplatte übertrifft alle anderen klinischen Unter¬ 
suchungsmethoden bei der Beurteilung der Topographie einer tuberkulösen Lunge 
an Objektivität und Schärfe. 

20 * 


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308 


v. Golz 


Nun sind in letzter Zeit viel neue Einteilungsvorschläge entstanden, die sich 
bemühen, klinische, röntgenologische und pathologisch-anatomische Erscheinungen 
zur Grundlage zu machen. Es hat sich aus diesen Vorschlägen das Fränkel- 
Albrechtsche Schema zur Einteilung der chronischen Lungentuberkulose heraus¬ 
kristallisiert, das nach Fränkels Vorschlag diese nicht nach der räumlichen 
Ausbreitung, sondern nach der Art des anatomischen Vorganges einteilt. Frankel 
unterscheidet die zirrhotische, die knotige und die pneumonische Form, die sich 
nach wesentlich anamnestischen und klinischen Erscheinungen unterscheiden sollen. 
Albrecht unterscheidet neben der miliaren die konglomerierenden, nodösen und 
die konfluierenden Formen und trennt die letztere wieder in die zirrhotische und 
die pneumonische. Für die physikalischen Kriterien der Hauptformen ergibt sich 
folgende von Büttner-Wobst zusammengestellte Tabelle: 


Erkrankungsform 

Anamnese 

Aspekt 

Perkussion 

Auskultation 

Stimm- 

fremitus 

1. Zirrhotische Form . . . 

Altes 

Leiden 

Einziehung 
und Nach¬ 
schleppung 

Schall- 

verkQrzung 

Verschärftes 

Vcsikulär- 

Atmen 

abge¬ 

schwächt 




• 

Broncho- 


2. Knotige Form .... 

Subakuter 

Beginn 

Nach¬ 

schleppen 

Dämpfung 

vesikulär bei 
Bronchial¬ 

verstärkt 





atmen 


3. Pneumonische Form . . 

Akuter 

Beginn 

Nach- 

sehleppen 

Komplette 

Dämpfung 

großer 

Bronchial¬ 

atmen 

verstärkt 




* Bezirke 




Zwischen 1 und 2 stehen die knotig-zirrhotischen Formen, zwischen 2 und 3 die knotig¬ 
fortschreitenden und knotig-pneumonischen. 

Bei allen drei Formen kommen Kavernen vor. 


Zu dieser Einteilung äußert sich D. Gerhardt folgendermaßen: „So zweck¬ 
mäßig diese neuen Unterscheidungsweisen für die Beurteilung der einzelnen Krank¬ 
heitsherde sind, so haben sie doch den Nachteil, daß sie recht häufig Misch- und 
Übergangsformen zulassen müssen. Wir finden eben bei fast allen chronischen 
Fällen die vielfache Kombination von frischen und alten, von fortschreitenden und 
vernarbenden Prozessen und finden diese beiden Hauptformen oft in verschiedenen 
Stellen der Lunge auch verschieden überwiegend. So ist es ja gar nichts seltenes', 
daß im Oberlappen vorwiegend Schrumpfung und Zirrhose, im Unterlappen vor¬ 
wiegend frische pneumonische und peribronchitische Herde bestehen, und für 
den Kliniker kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Wir können es weder 
der Dämpfung noch dem scharfen vesikulären oder Bronchialatmen, noch den 
Köntgenschatten anmerken, ob die Luftarmut des Lungenteiles mehr durch 
frische Infiltrationen oder durch Bindegewebsvermehrung und Narbenbildung 
bedingt ist.“ 

Zweifellos sind derartige Einteilungen geeignet, in die sonst kaum entwirr¬ 
baren Verhältnisse einige Klarheit zu bringen, wenngleich leider die Tatsache 




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Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen Lungentuberkulose usw. 309 


zutrifft, daß die theoretisch gut trennbaren Formen in Wirklichkeit stark inein¬ 
ander übergehen. Wir können auch unter Zugrundelegung dieses Schemas eine 
generelle Definition über den Begriff der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen 
Lungentuberkulose nicht geben. Dasselbe muß man von der de la Camp’schen Ein¬ 
teilung, welche I. indurierende Prozesse mit oder ohne Einschmelzung (entsprechend 
den zirrhotischen), II. disseminierende Prozesse, III. diffuse konfluierende Prozesse 
annimmt und zugleich als Reaktionszustände 1. progrediente, 2. stationäre, 3. obso¬ 
lete Vorgänge annimmt, sagen. 

Schon aus der Zusammenstellung dieser Klassifizierungsversuche, welche dem 
inkonstanten und wechselnden Bild der Lungentuberkulose entsprechen, läßt sich 
erkennen, daß eine generelle Definition über den Begriff der Erwerbsunfähigkeit 
bei der chronischen Lungentuberkulose zu geben ganz unmöglich ist. 

Im allgemeinen ist, klinisch betrachtet, die Prognose der Lungentuberkulose 
um so günstiger, je langsamer die Krankheit verläuft, und man kann auch sagen, 
daß die Dauer der Erwerbsfähigkeit uni so günstiger sich gestaltet, je chronischer 
der Krankheitsverlauf ist. Bei dem vielseitigen Symptomenkomplex werden wir 
auch im Einzelfall mit einem Wechsel der Verhältnisse rechnen müssen, und 
häufiger eine vorübergehende Erwerbsunfähigkeit annehmen müssen, für welche 
die sog. Krankenrente gewährt wird, bevor wir uns zu dem Urteil „Invalidität“ 
entschließen. 

Was die Beurteilung des Einzelfalles anlangt, so ist hier die Hauptsache 
die Voraussage darüber, ob wir es mit einem kranken Menschen, dem erwerbs¬ 
bringende Beschäftigung schaden kann, zu tun haben oder nicht. In all den 
Fällen, in welchen hierüber Zweifel bestehen, ist nicht nur die Berücksichtigung 
des Befundes, wie er sich durch eine unter Anwendung aller modernen 
Hilfsmittel durchgeführte Untersuchung ergibt, ausreichend, sondern es wird 
auch im Invalidenrentenverfahren unter Umständen eine Beobachtung nötig 
sein, um die Hauptfrage entscheiden zu können, ob die Krankheit im Fortschreiten 
oder im Stillstand begriffen ist. 

Hierfür sind neben den lokalen Symptomen der Rasselgeräusche, der Menge 
des Sputums, der Neigung zu Blutungen, der Reichlichkeit der Bazillen, in erster 
Linie die Einwirkung .der Tuberkulose auf den Gesamtorganismus zu berücksich¬ 
tigen, Fieber, Ernährungszustand. Kräfteschwund, Schweiße, Pulszahl, Beteiligung 
der anderen Organe, vor allem des Kehlkopfes und des Darmes, worauf Gerhardt 
in der bereits zitierten Arbeit hinweist. A. Fränkel nennt sie die Aktivierungs¬ 
symptome und rechnet hierzu Fieber, Bluthusten, starken lokalen Katarrh, Abmage¬ 
rung. Unerläßlich sind hierbei die Beobachtungen über Körperwärme, Puls und 
Atmung. Urteile hierüber können nur abgegeben werden, wenn in jeder dieser 
Richtungen funktionelle Prüfungen vorgenommen werden, und es w r ird die Zeit nicht 
fern sein, wo man auch bei der Lungentuberkulose zur Beurteilung der Erwerbs¬ 
fähigkeit Belastungsproben anstellen wird, wie man solche jetzt bei den Herz- und 
Nierenkranken bereits in ausgiebiger Weise vornimmt. Für den Gutachter kommt es 
ja nicht nur auf die Fixierung des klinischen Krankheitbildes an, wie es der Arzt 
am Krankenbett feststellt, sondern wir sollen bei unserer Begutachtung die Tat¬ 
sache würdigen, daß der Untersuchte mit seinen Veränderungen imstande sein 
muß, im Erwerbsleben arbeitend tätig zn sein. Wenn ich versuche, dies ins 



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310 v. Golz, Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei der chron. Lungentuberkulose usw. 

T 1 ' ’ ' ~- ~ ' " • - 

Praktische zu übertragen, den gesetzgeberischen Ideen möglichst nahe zu kommen, 
so handelt es sich um die Prüfung der Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen 
Einflüsse, welche die Betätigung im Erwerbsleben ausübt. Nach den Unter¬ 
suchungen von Tachau ist die Höhe der auftretenden Temperaturreaktion nicht 
von wesentlicher Bedeutung, sondern die Schnelligkeit ihres Abfalls. Pathologische 
Reaktion, verzögerter Abfall sollen öfter auch bei Fällen Vorkommen, die eine 
normale Ruhetemperatur zeigen. Diese Tachau sehen Beobachtungen sind von 
Grau bestätigt, und er ist der Ansicht, daß die Feststellung dieser Bewegungs¬ 
temperatur einen klareren Einblick in die Verhältnisse der Körperwärme gibt, und 
eine latente Labilität aufdeckt. In den in der Lungenheilstätte zu Beelitz ge¬ 
machten Beobachtungen hat es sich speziell durch die Untersuchungen von 
F. Salomon, die demnächst publiziert werden, bestätigt, daß der Temperatur¬ 
abfall bei den Lungenkranken sich nach Bewegungen oft erheblich verlangsamt. 
Eicht unberücksichtigt und ebenfalls durch eine Beobachtung zu kontrollieren 
sind die subjektiven Angaben der Kranken über persönliche Beschwerden, denn 
die Akten der Versicherungsanstalten enthalten ein reichliches Material dafür, 
daß man der Überschätzung der subjektiven Beschwerden eines Lungenkranken 
seitens des Arztes nicht selten begegnet, In vielen Fällen ist das Gutachten auf 
die Aussagen von Zeugen, z. B. des bisherigen Arbeitgebers oder Mitarbeiters 
basiert, der über das Verhalten des Untersuchten während der vorausgegangenen 
Arbeitsperioden vernommen worden ist, kurz auf Momente angewiesen, die sich 
jeder ärztlichen objektiven Feststellung vollständig entziehen. Es ist also not¬ 
wendig, die subjektiven Beschwerden gegenüber dem objektiven Befunde vorsichtig 
abzuwägen. Es ist manchmal erstaunlich, mit welcher Redegewandtheit und Sach¬ 
kenntnis Leute, vor allem frühere Heilstättenpfleglinge, noch vor der Untersuchung 
alle die Symptome anführen, welche als Störungen des Allgemeinbefindens bei der 
Tuberkulose bekannt sind. Je mehr die Symptome der Lungentuberkulose unter 
den Versicherten bekannt werden, desto schwieriger wird die Kontrolle. Die Er¬ 
fahrungen, welche wir in der Versicherungspraxis gemacht haben, lehren uns, daß 
hinsichtlich der Erwerbsfälligkeit bei der Lungentuberkulose nach beiden Richtungen 
hin, nach dem zu viel und dem zu wenig, oft genug gefehlt wird. So falsch es 
ist und so wenig es unseren Bekämpfungsbestrebungen entspricht, Lungenkranke 
in bezug auf ihre Erwerbsfähigkeit zu überschätzen und ihnen die staatliche Für¬ 
sorge zu versagen, so verkehrt ist es, in nicht einwandfreien Fällen nur in dem 
Bestreben, niemandem sein Recht auf Rente zu schmälern, ausnahmslos das Vor¬ 
liegen von Erwerbsunfähigkeit anzuerkennen. Durch solch übermäßig entwickeltes 
Mitleid wird dem Versicherten häufig der nicht mehr ausrottbare Gedanke einge- 
pflanzt, das er schwerkrank sei und der letzte Rest von Energie, den ihm viel¬ 
leicht schlechte Fortkominensverhältnisse noch gelassen haben, vollständig zerstört. 
Zur Fernhaltung dieser subjektiven Beeinflussung des Gutachters wird ein Auf¬ 
enthalt zweifelhafter Fälle in Beobachtungsstationen nur förderlich sein und dem 
Arzt und dem Versicherungsrichter, in deren Hände die Begutachtung der Erwerbs¬ 
fähigkeit eines chronisch Lungenkranken in Rentenverfahren der Versicherungs¬ 
anstalten gelegt wird, eine große verantwortliche Aufgabe erleichtert, dem Ver¬ 
sicherten alsdann mit der denkbar größten Gewissenhaftigkeit zu seinem Recht 
verholfen werden. 


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E. Herzfeld, Über Puls- und Blutdruckunterauchungen bei Kriegsteilnehmern. 311 


Literatur. 

Büttner-Wobst, Die Fraenkel-AlBrechtscbe Einteilung der chronischen Lungentuberkulose 
im Röntgenbild. Fortschr: a. d. Gebiete d. Röntgenstrahlen 1916. Heft 4. — Über das Fraenkel- 
Albrechtsche Schema zur Einteilung der chron. Lungentuberkulose. M. m. W. 1916. Nr. 32. 

Curschmann, Zur Beurteilung der Erwerbsfähigkeit bei der chronischen Lungentuber¬ 
kulose. Ztschr. z. KI. d. Tub. Bd. 18. S. 319. 

Bockhorn, Die Arbeitsfähigkeit Lungenkranker und ihre Beurteilung. Ärztliche 
Sachv.-Ztg. 1912. Nr. 8. 

Fraenkel, Über Lungentuberkulose vom militärärztlichen Standpunkte aus. M. m. W. 
1916. Nr. 31. 

D. Gerhardt, Über Tuberkulose. M. m. W. 1918. Nr. 21. 

H. Grau, Erfahrungen über die Begutachtung der Erwerbsfähigkeit bei Lungentuber¬ 
kulose. Ztschr. f. Tub. 1917. Bd. 27. S. 434. 

Roepke, Tuberkulose und Krieg. Tuberkulose und Kriegsteilnehmer. Ztschr. f. Med.- 
Beamte. Jahrg. 1915. 

Horn, Zur Invalidenbegutachtung. Ärztl. Sachverst.-Ztg. 1917. Nr. 3. 

Tachau, Temperaturmessung und Lungentuberkulose. M. m. W. 1916. Nr. 32. 


XIII. 

Ober Puls- und Blutdruckuntersuchungen bei Kriegsteilnehmern. 

Von 

Dr. Ernst llerzfeld (Berlin), 

z. Zt. im Felde. 

Die veränderten Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Kriegszeit sind natur¬ 
gemäß auch auf das Gefäßsystem nicht ohne Einwirkung geblieben. So hat 
bereits in den ersten Kriegsmonaten das sogenannte Kriegsherz in der Literatur 
einen weiten Raum eingenommen. Es handelt sich hier vornehmlich um die 
leichten Herzverbreiterungen und Pulsbeschleunigungen, die häufig in kurzer Zeit, 
durch Anpassung des Herzens an die veränderten Verhältnisse, zurückgehen. 

Gerade im Verlaufe des letzten Jahres konnte man bei sonst normalem Ge¬ 
fäßsystem einige Beobachtungen, machen, die sicherlich wohl auch anderen auf- 
gefallen, meines Wissens aber in der Literatur kaum oder so wenig erwähnt sind, 
daß es im allgemeinen Literesse notwendig erscheint, hierauf hinzuweisen. 

Bei den zahlreichen Blutdruckuntersuchungen mit dem Riva Rocci konnte 
man immer wieder finden, daß das palpatorische Maximum auch bei Herzgesunden, 
soweit sie im wehrpflichtigen Alter standen, gegenüber den Friedensbefunden 
äußerst gering ist. Während der normale Blutdruck zwischen 110 und 125 bis 
130 in der Regel schwankte und wir im Durchschnitt Werte zwischen 115 und 
125 im Frieden fanden, sind jetzt Blutdruckwerte von 120 nur noch in seltenen 
Fällen festzustellen. Als Durchschnitt aus sehr vielen Untersuchungen fand ich 
Werte zwischen 98 und 112. 

Ara häufigsten bewegten sich die Resultate um 105 herum. Die Durchschnitts¬ 
werte bei den oben bezeichneten erwachsenen Personen liegen etwa 15 mm Hg 


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312 


£. Herzfeld 


tiefer, als wir es aus früherer Zeit gewohnt sind. Es sei noch darauf hingewiesen, 
daß die Untersuchungen sehr häufig wiederholt wurden und von Zufälligkeits¬ 
befunden nicht die Rede sein kann. 

Auch für die Pathologie erscheinen diese Befunde nicht ganz unwesentlich. 
Während man im allgemeinen — selbstverständlich nervöse Einflüsse ausgeschaltet 
— einen Druck über 130 als pathologisch ansah, muß man jetzt eine Spannung, 
die 120 überschreitet, sicherlich aber von 125 an, als erhöht betrachten. So fand 
ich nicht selten bei alten Landsturmleuten, bei denen das klinische Bild eine 
beginnende Arteriosklerose zeigte, Werte von 125, bei denen in früherer Zeit der 
Druck mindestens 10 mm höher gewesen wäre. 

In noch nicht veröffentlichten, in Gemeinschaft mit Dr. Mosler bereits vor dem 
Kriege angestellten Untersuchungen, die an Kindern von 4 bis 14 Jahren gemacht 
wurden, fanden wir bei den 11- bis 12jährigen Werte, die sich im wesentlichen 
mit denjenigen decken, die wir heute bei Erwachsenen finden. Bei älteren Kindern 
gingen die Werte vollkommen mit denen der Erwachsenen parallel 

Von den Neurasthenikern abgesehen, fiel es mir schon im letzten Jahre im 
Feldlazarett, w r o ich in ruhiger Zeit bei jedem Mann täglich den Puls in die 
Fieberkurve eintragen ließ, auf, daß besonders oft bei jüngeren Leuten die Puls¬ 
frequenz wesentlich niedriger war, als wir es von Friedenszeiten her gew'ohnt sind. 
Während wir bei Gesunden früher in der Regel eine Pulsfrequenz zwischen 65 
und 78 fanden, waren hier Pulsschläge zwischen 50 und 65 sehr häufig. Diese 
Leute hatten sowohl objektiv als auch subjektiv von seiten des Herzens keinerlei 
Erscheinungen. Nach körperlichen Anstrengungen (Funktionsprüfung) fanden 
keinerlei wesentliche Pulserhöhungen statt und waren dieselben fast stets schon 
am Ende der ersten Minute zur Norm zurückgekehrt. 

Noch deutlicher trat mir diese häufige Pulsverlangsamung bei der Unter¬ 
suchung junger Rekruten (19- bis 20jähriger) vor Augen. Ich habe daher eine 
große Anzahl derselben systematisch untersucht. Da ich das ganze Material 
hier nicht aufführen kann, so sei, da das Resultat sich stets wiederholt, in 
nachfolgenden 4 Tabellen nur ein’kleiner Auszug gegeben. 


Tabellen. 


I. 

♦ 

ii. 

in. 

IV. 

Lfd. 

Nr. 

Pulszahl 

Lfd. 

Nr. 

Pulszahl 

Ldf. 
r Nr. 

Pulszahl 

Lfd. 

Nr. 

Pulszahl 

1 

58 

1 

73 

1 

68 

1 

68 

2 

66 

2 

56 

2 

59 

2 

60 

3 

65 

3 

80 

3 

60 | 

3 

74 

4 

79 

4 

70 

4 

60 

4 

63 

5 

65 

5 

72 

5 

60 

5 

72 

6 

65 

6 

63 

6 

62 

6 

60 

7 

61 

7 

76 

7 

68 

7 

62 

8 

77 

8 

: 78 

8 

64 

8 

56 

9 

82 

9 

1 73 

9 

72 

9 

66 

10 

62 

10 

, 60 

10 

71 

10 

58 

11 

53 

11 

57 

11 

85 

11 

70 

12 

65 

12 

! 60 

12 

77 

12 

62 


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Über Puls- und Blutdruckuntersuchungen bei Kriegsteilnehmern. 


313 


Es handelt sich um Leute von Durchschnittsgröße, deren Gewicht im allge¬ 
meinen nicht allzuviel geringer war als wir es im Frieden bei dieser Altersklasse 
gewohnt sind. Keineswegs verlief verhältnismäßig niedriges Körpergewicht 
parallel mit niedriger Pulszahl. Ein Unterschied zwischen Stadt- und Land¬ 
bevölkerung war nicht festzustellen. 

In folgender Tabelle sei als Beispiel eine prozentuale Berechnung der bei 
einer Kompagnie angestellten Untersuchung gegeben, die sich mit den Befunden 
bei den anderen Kompagnien deckt: 

Prozentuale Berechnung der bei einer Kompagnie (194 Mann) untersuchten Leute. 

Alter 19/20 Jahre. 

Puls 50-60 61-65 66 -70 71-75 76 -80 80 u. mehr 

Sa. 49 29 58 15 22 21 

% 25 15 30 8 11 11 

• 

Die letzthin aufgeführte Tabelle zeigt, daß sich die Häufigkeit der Puls¬ 
zahlen zwischen 50 und 60 mit den in den ersten Tabellen aufgeführten Werten 
im wesentlichen deckt. (25 °/ 0 gegenüber 27 %)> während bei der Kompagnie 
im Gegensatz zu den ersten Tabellen die Pulszahlen zwischen 61 und 65 weniger 
häufig Vorkommen, dafür aber häufige Pulsbefunde zwischen 66 und 70. 

Diese Unstimmigkeit gleicht sich wieder aus, wenn man aus beiden Tabellen 
die Pulszahlen zwischen 60 und 70 zusammenzieht. 

Untersuchungen aus dem Felde haben gezeigt, daß bei jüngeren Leuten, die 
herzgesund und körperlich leistungsfähig sind, auffallend häufig Pulsverlang¬ 
samungen gefunden werden, die nicht selten zwischen 50 und 60 Pulsschlägen in 
der Minute schwanken. 

Auch bei Blutdruckuntersuchungen sind die Durchschnittswerte — meine 
Untersuchungen während des Krieges sind ausschließlich im Felde bei Leuten im 
wehrpflichtigen Alter angestellt — tiefer als früher. 

Blutdruckwerte von 125 an, vorausgesetzt, daß nervöse Einflüsse ausge¬ 
schaltet sind, müssen zurzeit schon als leicht erhöht gelten. 


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314 


Hans Schirokauer 


XIV. 

Die klinische Bewertung der Plethysmographie 
bei Herzkrankheiten. 

Von 

Dr. Hans Schirokauer, z. Z. ldstpfl. Arzt, 

I. Assistent der Kgl. Universitäts-Poliklinik für innere Medizin. 

Ich bin mir bewußt, daß ich mit dem obengenannten Thema ein klinisches 
Neuland betrete. Wenn ich trotzdem im Rahmen dieser Festschrift über Erfah¬ 
rungen mit der Plethysmographie bei Herzkrankheiten berichten will, so geschieht 
es, weil ich glaube, daß diese Untersuchungsmethode mehr als alle bisher an¬ 
gewandten Funktionsprüfungen des Herzens geeignet ist, unsere Erkenntnis auf 
dem Gebiet klinischer Forschung zu fördern, auf dem gerade Goldscheider durch 
die Ausarbeitung seiner Methode der Schwellenwertsperkussion für die Untersuchung 
des Herzens eine exakte Grundlage für die Klinik geschaffen hat. 

Auf den von der Redaktion unter dem Zwange der Kriegsverhältnisse ge¬ 
äußerten Wunsch Irin wird sowohl in den Ausführungen als auch in der Wiedergabe 
von Kurven eine gewisse Kürze notwendig werden; ich behalte mir vor, später 
über meine mit der Plethysmographie bei Herzkrankheiten gesammelten und noch 
zu sammelnden Erfahrungen ausführlicher zu berichten. 

Die physiologischen Grundlagen der Untersuchung mittelst der plethysmo¬ 
graphischen Arbeitskurve scheinen mir durch die jalirelangen Arbeiten Ernst 
Webers („Der Einfluß psychischer Vorgänge auf 'den Körper, insbesondere auf 
die Blutverteilung“. Berlin 1910} sichergestellt. Es handelt sich bei dieser Methode 
um die Aufzeichnung des Armvolumens während der Ausführung einer kräftigen, 
aber auf ein möglichst weit vom Arm entferntes Muskelgebiet beschränkten-Arbeit, 
die in schnell aufeinander folgenden,' 10 bis 15 Sekunden dauernden Fußbewegungen 
im Sinne der Plantar- und Dorsalflexion besteht. Dabei findet bei gesunden Men¬ 
schen während der Dauer der Fußarbeit eine Zunahme der arteriellen Blutfülle 
aller äußeren muskulären Teile des Körpers mit Ausnahme derer des Kopfes statt. 
’ Gleichzeitig nimmt die Blutfülle der Bauchgefäße durch Verengerung derselben ab, 
die Blutzufuhr zum Gehirn nimmt zu. Nach Weber kommt dieser Vorgang durch 
zwei Faktoren zustande, erstens infolge der aktiven Erweiterung sämtlicher äußeren 
Blutgefäße bei gleichzeitiger Verengerung der Bauchgefäße unter dem Einfl uß von 
Erregungen der Gefäßzentren im Gehirn von der motorischen Rindenzone aus, zum 
zweiten durch die bei der Arbeit verstärkte Tätigkeit des Herzens, dessen Schlag¬ 
volumen vergrößert und der Peripherie zugeführt wird. Nach Beendigung der 
Arbeit fließt die so vermehrte Blutmenge aus den äußeren Teilen schnell wieder ab. 


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mm 


l>j*5 klinische lieivertting <H't Plethysmographie bei Herzkrankheiten 


ln » v iio-v Kufvo ausged nickt stellt sieh der erwähnte Vergnüg.r'o 1 f?fut/ri*jtt 3 1W‘I» 
sdgr (k A.bb> 1). Das Zrifebe.h < -*-) zeigt den Anfang. das /eiche» 1 - ) «bis jedes- 
malige Kinie der Ftiimrhvi! an, Die um« ,-ru Kumt i.si immer di«- Atnmkurve. in 
dieser Xonualkitrve, Ist die Arbeit ywceimal wiederholt., wie ja uberhanjH jvi.lv. Kurve 
meim-ru Male weschriftheft werden muH. Man sieht dabei. düü die Kurve bej Beginn 
-i. e Arbeit viiii d-r ih>riz«<ttn»k-n ziemlich seltnen an.steigt urtd.wtcb Kud« derselbe» 
seluml.1 j'm-Ausgawg'Shoi'iünntiüeö xurttek keimt. Die «weite Kurve ist et «vis niedriger 
intidge. einer in diesem KaUe z«ii'ätlig ••-- mit verminderter Kraft uusjreführten 
Fmiarbeit, Bt*hle ‘ rstsp&ft niit Aiti> und Abstieg etwa ei» gleidisdifenk- 

Ibhes Dreieck dar, 


Abb. 1. Nonnalarbeitakurve (mit Afemknrve) 


Wdfd'>.utd die. Kurve der Abbildung: ? in frischem ./»Stande der gesmulen 
Vt»michsiK*iyt»ü sofort nneJt dem A üfsjte.heu aiifgenuininen wurde stellt' die folgende 
Kurve ( 2 ) das Pletht äuiogramm Jers*'lbe» Versuchsperson. am gleichest Tag«« »;h )i 
geWubnheiD'gf’nUUbU' tüisrvenge.uder l'ngearbeit dar., Auch diese Kurve ts«t.<üiiv 
tiorrnale ansletgtgide. Ar'Ueit-.kurve. Die übliche. gmCidinte Tätigkeit ruft wuuir- 
keim- VevandenuiL* der Arbeitskuvre hervor. liu allgemein eü Dt ex jedoch, 
besonders in «weiMhftften 'Fallen, rat:-am die 1 morsneimng iii irischem'Zustande 
der \ • rsueiisjiH sarj vorziinobme«. 

Attf die Mctlualik dar tdrUbyshmgrajiiiiidieB Arbfeitskurve hei iferzkrankeu kan« 
ich ans dem «bwi erwähnte« freunde in dieser VerntfenllichittiK nicht gemuier dugehe«. 
Ich ve.r»'C}se ««f die grundlegende Arbeit K, Webers .(BolvarsitiU .HoHi») tZtsehr. *. 
exper. Patlr. a. Ther. Bd. 18. Heft 2. 1910» ond. auf dir bestädgewjtjrD'iu'efsovhnngs- 
ergebrifese L»Un(rers (Ztschr. f. Kdu. Mediziq. Kd sf->. U*:Tr Km* einige allgemeine 
OesichtspitnhtB «lnö ich erwähnen, jeh kämt-, j^üf/äh*'.^oi^f^gea'.'deT. genannte« 
Aatoreu vall «Sd gatiz Hftschlfeßeii, daß die SchwieiifriNtfrtf Aef M«vhod^-öi‘t uflter&ekiitat 
wejräqrt. Sicht %ivra in. dem Sinne, daß dietMi darob sorgsam« 




316 


Hans Schirokauer 


haltenen Kurven unterstützt worden. Erst nach vier- bis fünfmonatlicher intensiver 
Beschäftigung mit der Methode glaube ich jetzt von einem Beherrschen derselben 
sprechen zu dürfen. 

Was die Stellung, in der der Patient untersucht wird, betrifft, so ist von Weber 
die sitzende und liegende in gleichem Maße angewandt worden. Dünner scheint die 
Untersuchung vorwiegend im Liegen mit einem besonders konstruierten Betttisch für den 
Plethysmographen vorzunehmen. Auch ich habe beide Lagen angewandt; im ganzen 
untersuche ich die Patienten zuerst immer im Sitzen — von an sich bettlägerigen ab¬ 
gesehen — und wiederhole nur bei körperlicher Unruhe die Untersuchung im Liegen. 
Nach eigener Erfahrung bevorzuge ich dabei wie Weber die Lagerung des Apparates 
mit geeigneter Polsterung auf dem Körper des Patienten selbst, wobei etwaige Er¬ 
schütterungen des letzteren vom Apparat gleichsinnig mitgemacht werden, und wähle 
ein Lager, das auf der Seite des untersuchten Armes längs einer Zimmerwand steht, 
um durch letztere einen gewissen Halt für den Plethysmographen im Verein mit der 
Polsterung zu gewinnen. — Irgendeine Belästigung, selbst dyspnoischer, liegender 
Patienten durch den Aufbau des Apparates wurde immer in Abrede gestellt. Im Gegensatz 
zu Dünner und zu persönlichen Mitteilungen Webers, nach deren Ansicht die Unter¬ 
suchung bei Männern im allgemeinen leichter und schneller als bei Frauen sein soll, muß 
ich sagen, daß ich irgendwelche Unterschiede bei beiden Geschlechtern in bezug auf die 
Untersuchungsschwierigkeiten nicht gefunden habe. Auch habe ich es bevorzugt, um 
jede störende Ablenkung des Untersuchten zu vermeiden, den Patienten meist ohne 
beobachtende dritte Person zu untersuchen. Im allgemeinen läßt sich trotz der not- - 
wendigen scharfen Beobachtung des Apparates der Patient auf die Befolgung der für 
die Untersuchung erforderlichen Vorschriften hin hinlänglich kontrollieren, zumal der er¬ 
fahrene Untersucher sofort etwaige Fehler, die meist in kleinen Bewegungen, falschem 
Atmen, steifem Sitzen, fehlerhafter Fußarbeit usw. bestehen, an der Kurve erkennt. 

Statt der Fußarbeit mit Dorsal- und Plantarflexion lasse ich häufig, wie Weber 
schon angegeben hat, nur dauernde Dorsalflexion ausführen. Bei vielen Patienten ist 
der Arbeitseffekt ein größerer, und die Möglichkeit unerwünschter Mitbewegung anderer 
Körperteile wird dabei oft herabgesetzt. 

Auf die selbstverständliche Notwendigkeit der gleichzeitigen Registrierung der 
Atmung ist von Weber gebührend hingewiesen worden. Infolge plötzlich vertiefter 
Atemzüge kann ein Sinken der Kurve herbeigeführt werden durch Ansaugen des Blutes 
von der Peripherie und damit auch des untersuchten Armes nach dem Brustraum hin. 
Andererseits wird aber durch einen ganz tiefen Atemzug die Kurve zuweilen ruckartig 
in die Höhe getrieben, indem der Schultergürtel verschoben und dadurch der Arm in den 
Plethysmographen weiter hineingetrieben wird. Auch alle diese Fehler erkennt der 
Geübte schon an der Art der Kurvenänderung. Endlich sei noch erwähnt, daß ein 
ganz besonders wichtiges Kriterium für die Richtigkeit der Kurvenaufnahme ist, daß die 
Kurve nach Beendigung der Probefußarbeit wieder zur Ausgangshorizontalen zurückkehrt. 
Die meisten meiner Fälle wurden an verschiedenen Tagen untersucht, und immer wurde 
der gleiche Kurventyp bzw. je nach Veränderung des subjektiven und objektiven Herz¬ 
zustandes eine entsprechende Kurvenform gefunden. Jede Untersuchung dauert etwa 
eine Stunde. 

Die oben dargestellte normale plethysmographische Arbeitskurve, bei deren 
Zustandekommen, wie erwähnt, nach Webers Feststellungen zwei miteinander 
wirkende Komponenten tätig sind, nämlich die von der motorischen Rindenzone 
zu den Gefäßzentren weitergegebenen Erregungsimpulse und die gleichzeitige 
Verstärkung der Herztätigkeit, muß eine Veränderung erleiden, je nachdem einer 
der Kräftefaktoren in seiner Wirksamkeit gestört ist. So fand Weber bei allen 
Menschen durch eine den ganzen Körper erschöpfende Muskelarbeit (große Märsche, 
Schwimmen, Turnen) bei der plethysmographischen Arbeitskurve eine umgekehrte 
Gefäßreaktion, die in Verengerung der sonst erweiterten Blutgefäße besteht. In 


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Original fro-rn 

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Die klinische Üewer0>ftg der MstJjysmögrapftie bei Hrtakfflskheitfeh. 


Kurvenform bedeutet da? eine Senkung der Kurve unter die Horizontale während 
der Probearbeit und nUinählielwn Anstieg Ins zur Ausgangslinie nuch Atifliömt der-, 
seiimig wir erhalten die sogenannte negative Kurve. Diese umgekehrte rteiäi'*- 
r.akttuii macht bei GeHutiden aber schon mich zweistündiger Ruhe der nernrale« 
Reaktion wieder JE%rbt Weber erklärt den Aui^raug durch das Auftreten yon 
EruiiidungsstoiTen int Blut infolge. von Muskelarbeit,' die ■.■■eine schädigende Wirkung 
auf die Gefäflzenire» beryomifHu, Auch bei manchen Krankheiten oder Vergiftungen 
('/.. B, schwerer f'hlorose. Diabetes 'mellitus. nach Infektionskrunklieiteu, Gehirn' 
•srse.hütterung und hei Gnsv'ergiftnng; tritt die umgekehrte Getäßreukrion hier 
dauernd ohne erschöpfende Muskelarbeit auf durch Veränderung der Funktions- 
riclitung der Ge.fnßzentrexi im Gehirn, Die ausführliche Darstellung der Web eis 
sehen Anschauung ist tu der wrwiihwv» Arbeit über seine neue Herzuntersuehungs- 
■nietiM'de. Dft-iisohr. t'jiv expejm' PHtSiülogie und Therapie. Btt. Id, lieft.A. Ptirt 
.•hachzuieseu. Es war nun tolgericlmg, wmiu Weber nach seinen Feststellungen 
der Veränderung' der plethysiwograiduscht-n ArheUrkUrve durch Schädigung ' des 
einen sie bedingenden 'Faktors, nämlich der .Hirnrinde und des («*fäikdB.tnuvi>. 
auch dein Einfluß der krankhaften Veränderung der itndevgn' KoMj'roieafe, des. 
Herzens, auf die Arbeitskurve nädtging. Weher fand nun hei der sjstwmuischeü 
Untersuchung von Herzkranken drei verschiedene KurVermtleiv. I, die umgekehrte..' 
i». die träge, K. die iiadurägücii-ansteigende Kurve, 

Ich habe im Laufe der letzten ö los ß Monate die AVe berschen , Unter-. 
sucbüngHi ttachgepriitt und milchte zunaclrtt. an der Hit ml meiner Ergebnisse, die 
von Ayebpr angegebenen Kurvenfonnen erörtern. 

Ich behandle zunächst die negative (umgekehrte) Kurve. 

In Fällen von .schwerer Insüftiziemt des Herzmuskels fand ich in mehreren 
Füllen- die genannte und schon oben erwähnte Kurvenform. Bet Beginn der 
ProlHdußarbeit fiel die Kurve unter dte 
Horizontale, um nach Aid hörnt der Arbeii- 
mehr oder wenigef Anhntdl xrtr Ausgangs- 
Kuie zmrwck/ukehrrn. Als Beispiel dieser 
Kurt t idonn diene die Abbildung Ö, die 
von einem PAfifenfeit buPFdttherZgewoihfen 
wurde. Weber .sieh« in dieser Kurven- ; 
form das Zeichen dafür, daß das Herz 
nicht mehr zur genUgendei) 'i5tnit?rst.ofl- 
versorgung*; des Blutet? hinmhltt Durck 
die mangelhafte Arterialisierung und den 
dadurch bedingten m,-lVrt.chuß «iMt -'M'k Nc^iiv, Kurve, 

durdi andere schädliche BeittilsdiUHgen (r>fo'Ani»i.iipki.n« wurde an dee Klammer 
des Blutes werde]» auch hier wie -durch ..arni tcchni3chc.n. driindoti defcrgesleltt.ii 
die obong. tuHititeu BimmäTidcHingeü die 

4 »cfabzentroh so geschädigt, daß .sie mit inngrkeUrier Reaktion antworte».; 

Auf die l;Htrt-schcidungsmögfiehkeiteu dieser durch die mangelhaft.*--Funktion 
des Herzmuskels vcmrsacliteu »CgaU.vtm. .Kurve von den durch die oben erwähnten 
Ursachen bervorgevutetu-H gteicbaiiieeU Kurven hat \V-ebet‘- •'!. El und au.-ti 
iMinner (j. g.) iUrsfüluiioh hingewiesnh, Kohtrierigkeiteii. könnten mir entMehcn. 








«1 






wenn einer <)f r nbeHggn.'UmtP« kriijiklmUen Xitstiuide e.ii.üiwl 
i-iiifi t?>:?-z*«<• isk*■ li• f!f»>U1my 

Während ilirn die negative Kurv«-, t’ii-* de« schb-ehfe;.?en vbifsand des 0§m& 
Kl «■!'-!.ihi - ivr^jclmi't. oih- !(«■' «idirgkte F*•!<.*«* der uiigeiiiigeudrii iP rxPUigk'u 
iiifVdg» der HiangrlluUl.en Aitenuh-irnojg des Blutes fcf, «••--••!! die jetzt ><« ’Jtj^ 
'l>r«u-iif]i<l«*u Kurve« die WivksyiViki'iVd»"K Hi-rzfakiM-s unWiifielbei neben decAfi.mi- 
kimijemrute *-;rk tili um }. Diese K um-« hnt. Weher 1. r||o tragt 1 warf ä. die 

imm n<‘iul•• geiiami?.. Trutz des mb M die-m- Vorhesjinjeltmtg nb»Mi- 
gfi'i4i««Mi Theinas eviggcsii‘«'kl.e« ItsjliiiMMi« tultjl if-t» lif'i diesen Knrvvömie« etwas 
hinget- vsrvi^vji^n,' w*>i( grradhAdb jofr tMtitMt &‘t.ß>t.Ab 

IlmknifT ixiii' die in jedem AHgerddick Vv.ritniii’i'fif' s {njftgsfäbigReit des Herz- 

itiu-'n--!' n «geholt /il küllin-ll >••■>■ iMilHl. 

1 r|i komme 7.uV'7>i 7.11t :i*r**i« Kim'.i;*- WnhmHl. wie- bhpii 

•lurge-tnllt wurde. iwi der mirntübbt Kurv» 4 s*»fmt nach Duhmcn 'Irr Arbeit Mi.* 
Kum 1 . svitiier abfülit und der älbalkmde beheiikel etvbidie jii^u jJ«*h äiUSdeigrikhui 
hat, kann bei (irr jetzt. hrliiUnli-ltiii KiinderAbiwUsehenkel dir -J- bis 
'•fadik Länge »ins ai?t>fniirninit‘ii yrhidieu, .Das.Absteigen der Kurve wml mm 
* vwiesenvriMubeu dm-tdi ddA- Zurik-kstronien des Blutes xtuij Merzen ausgebrückr. 
das während der Arbeit dmbh die Zentralbedingt« •i^tefiiimvuiterun^ o'iid die vftr- 
iiHhrte lierzurb«-« zur- Jvripherie in veriudn-rr Mengm gotm-ben worden xw. 
Wider hui gezeigt, daB dieses Zvirid-kstrnnsen ohne akmV Tätigkeit rW'Dwfsükv 
sondern lediglich durch die Herztätigkeit (inid den föztndersMmn itrin k im Brüst¬ 
en uni) stattfiudet., 

Ist die Autiiabuieläiiiirkdt des Herzens für diesen BliUiibeiswhuli henthgesmzt. 
so tmiLi eine langsam aMallende Knrve zustande kflnimpn, it-li UiVbe. iittd did t#äg;e 
Kurve bei vrtwhi'^lenfeu krankhaften Herzzu^tnuden gefuwdmi. Am nuJwdie?tm<sfen 
wäre ja dieser Befund bei Veränderungen der rechten Herzhöhle. #mn Beispiel 

kennte ich bei l,ungenemplty:-ein. vv<< 


-I • •- 


nii 






Al)b. 4v ittägi?- Knr?e. 


Hueli. mit 

einei geringe liildtäitndt des recht».’« Veu- 
tnkpls: gef und eii witrd^ die gen.umte 
Ktifvrmirt feststelleir Aber auch bpi 
«llgeiiieider Hvh Wfieiinug dee ifezeJis. 
Wi den nnrer tltni kriegs-»-ipti«ssep hiiu- 
tigeti sfigetiHiinteti icniiudiuigsiiefzen, 
die anbei- einer ei tiebiieluMi Steigerung- 
der Herztätigkeit häutig keinen mit 
andeveii Metlmden i IVrknsM*»», Rentgeumiursu- bmig; miet.'.veisbaren kraukliuttvii 
Befund i vvebi i:, fand ii'l. die träe, Kurve. ^ die iu der Abbildung -t »H; Ibfr- 
steltting gebrächf i>f ; 

Hndii'-U timtet man diese KurmdVirm des .prtejvu b<-j Adipösen, bei den-n 
duveii kein andere- kliin-ehes Hüfsmiriel eine [BrziunktiunsstPrafigsdvyriesen 
v. i i den keim, ideale bei Fdf-debtigeu befiridi.m wir ine- >d! in bezug auf die lie- 
iivttdjting der Heizkian in Verleg,.]iie-ir, nm- duicb die plHliVsinugratdiiseiie Kurve 
xVil'ri in Vielen Fä)(eü eiue Slaumig evkamit. *h d;t!> vni in ihr ein ir -.imn is feutes 
knterim)i fiii eine uh 'ii ii e-eniiK'- ilerzniij.sk etveräfideriing-^ zu besitzen scheinen. 





Die klinische Bewertung: der PlethysinogMjjbie bei Hmkrankheiten. 


m>‘ ^iüruiig dev Ibnzfunktbiii, bei dei es zu einer! trägen 
besitzt 'film iiüenbur ein*. j»r«Üe. Hndte. . Wie fhierseits.— wie «■! 
■fee ihm bet gönz lemilTen >taiUlfignw i'iil -vvub,'•«.-» Kreislauf -tiesf k 
Hin. die na eh W'ctiei s Angaben dureh geringe tbeviijieotisehe- J 
fterz-.oder besser üüütluiKissätrv. in eine ifoiiualt- Kurve duveli f 
'■>?-ttiiipür s'Hf'Uv verwandelt werden kann. sb gibt es träge Kurve«. 

ihger l^peiiinentelier. Krmhdune' de}' Versnelisjiersoj! — vu-.n | 
1 l.ij' 1*4 Minuten ili;i!ei Ildes Anitstiilii'ii — in ei«/ 1 negativ»-.. Km 
ffiel; fftidil ein‘ti di>- jsresrlHviirhie J:trrziimkti*.».n hiebt mehr zur 

■"srttnu'-tutfV'M'Surgtllig des ■ ' -k ' ' ■■■' - ..-k/Je 

JÄ1W tmd bestiuders' tiefe 
vierälizi-ntiduis uns. ; 

Bvi glehdizeitigeritv- 
I »ertruglifo des I ihken Ile#,-. 
veitlHkels tiVwl ieb n'iif W-te 
l»et\ wie auch IMunter be¬ 
st ütigte,, in «1 en a Üenm-is?eh 
Füllen die von Web-ef ,j*ö 
heze-iehflerä ..naddräglieh- 
« ns teilende" K urve i Abb. bi. 

Das ciiarakteristifeciie 
Merkhiäl dieser Kurve ist, 

Mali sie nach dem Aufl,ihren 
der Pridiefuüurbeit riii'jil zur Hurizuntiilen 
weniger langen wtdieren Aa&tfeg" v *fthi daun 
Ausgangslinie/ xurüekxukehren. Weber ehcwiekel 
dieser Kurve eine .sehr, ansprechend»! Theorie. 

l>er hypertrhi>bis»dH} Hake Ventrikeln dessen I 
gleich iKarrektimu einer fnsiifßzienz des Be# 

anatnmisebeii Onmdbige, entwickelt hat, arbeitet 
Kummer nach dein ’ jKhde; der BidbefaiiarbeB ttdbb 
'.eh seht er Weise, aber iuimt>riiiu starker «ls - um Bt 


Abb. 5. KaehtrÄglieb ansteigende Kurve 
.bei Mvottlegcueriitia eordts arteriöskJerotiea). 


320 


Hans Schirokauer 


Wenn es auch nicht gleich ersichtlich ist, wieso bei korrigierter Herzfunktion 
— denn das ist ja der Zweck der Hypertrophie des linken Ventrikels — noch 
weiter Reize • zu umgekehrter Gefäßreaktion entstehen als Zeichen einer gewissen 
mangelhaften O-Versorgung der Zentralorgane, so w'erden andererseits weitere 
Kurven dieser Gruppe zeigen, daß nur durch das Wechselspiel beider Komponenten 
sow r ohl der Hirnrinde mit dem untergeordneten Gefäßzentrum als auch des hier 
hypertrophischen Herzmuskels, die weiter unten zu beschreibenden Kurven zu¬ 
stande kommen können. Gerade hierdurch gewinnen wir einen tieferen Einblick 
in die Feinheiten des Herzmechanismus. Ich kann deshalb auch Dünner nicht 
zustimmen, wenn er für die Deutung der nachträglich-ansteigenden Kurve den 
hypertrophischen linken Ventrikel allein heranzieht. Die bei der Probefußarbeit 
stärker arbeitende Kammer wird mehr Blut,in die Peripherie w r erfen, die Kurve 
wird ansteigen, sogar eventuell steil ansteigen, sie w'ird aber nach Aufhören 
der Fußarbeit nicht weiter nachträglich ansteigen, weil die Ventrikeltätig¬ 
keit sofort schwächer und somit die Kurve langsam zurück zur Horizontalen 
führen wird. 

Es wird sich bei der von Dünner entwickelten Anschauung eher eine träge 
Kurve ergeben. Und in der Tat kommt es, wie Weber auch festgestellt hat, bei 
Besserung der die Hypertrophie verursachenden Insuffizienz des Herzens durch 
den Wegfall des Reizes der Gefäßzentren mit ihrer daraus resultierenden Reaktion 
zur Gefäß Verengerung, in der angeführten Weise zu einer trägen Kurve. Diese 
läßt sich aber wohl von der trägen Kurve bei Stauung unterscheiden. Bei geringer 
Stauung wird diese träge Kurve durch Herzmassage oft in eine normale, bei 
schlechterem Herzen durch eine experimentelle Anstrengung (Armstoßen) in eine 
negative Kurve verwandelt w'erden können, während eine träge Kurve bei links¬ 
seitiger Herzhypertrophie als Zeichen einer verhältnismäßig vollkommenen Herz- 
muskelleistungsfähigkeit durch den Reiz der Herzmassage auf den hypertrophischen 
Herzmuskel in eine .nachträglich-ansteigende übergeführt werden kann. Auch 
sprechen wohl eigene, noch nicht abgeschlossene Untersuchungen bei sog. Sport¬ 
herzen, die nach Dünners Anschauungen eine nachträglich-ansteigende Kurve 
darbieten müßten, gegen dessen Ansicht über die alleinige Wirkung des hyper¬ 
trophischen linken Ventrikels. Im übrigen erkennt Dünner bei den Abarten 
(s. u.) dieser Kurvenform durchaus das Wechselspiel der beiden genannten Kräfte¬ 
faktoren an. 

Der in Kurve 6 dargestellte Fall bezieht sich auf einen mir zur Begut¬ 
achtung überwiesenen Patienten, der eine alte Herzerkrankung zeigte. Klinisch 
stellte sich das Krankheitsbild dar als eine arteriosklerotische Herzmuskelerkran¬ 
kung mit Dilatation nach rechts und links bei gleichzeitig leichter Leberschw'el- 
lung. Gemeinhin wäre auf Grund unserer üblichen klinischen Untersuchungs¬ 
methoden der Herzmuskel in seiner Funktion als ganz schlecht zu beurteilen 
gewesen. Ich erwartete bei der pletlysmographischen Untersuchung eine negative 
Kurve. Es fand sich aber 'die obige nachträglich-ansteigende Kurve in mehr¬ 
fachen Sitzungen. Bei der letzten Untersuchung, der Kurve G entstammt, waren 
15 Minuten vorher sogar 30 Kniebeugen gemacht werden, die ich ohne Kenntnis 
der Herzmuskelkraft aus den früheren Kurven nach dem sonstigen klinischen 
Befund dem Patienten nicht zuzumuten gewagt hätte. 


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i>ie Ufinis^hö B^ertuofj der PJeth}’«mi»^phve bei HeiikraaklifiifB 


Die AbbUjungfm ü: 
tahigkelt ?lfe 


Ötsrztnttskeis bei einem Falle einerlange tob mir beobachtet.»:-!] 
jfölteRmsitftizieiiK (Frb Meta P.) wieder. --. Ine Kune K-:«*igt die rimdttrö glich- 
ansteigende Kurve mit subjeküy stark eoipfuiidvnem Herzklopfen. und H/Tzättndie. 
Kurve T stellt di« un- ._ _ __ _____________ 

H ergUtt fgkejr: bei sub¬ 
jektive« starke» dyx- 
piniisehen Beschwer- 
dun null objek¬ 
tiv iestgfstell- flj 
tetr: J&weite- ■ 
rttiig; auch der gls 
rechten Her?- |H 
kammer in Öe- B 
stalt einer ne- 
g-Htiven Kurve plj 
als Zeichen *]i 
eduer starken Hj 
Iiisnötzien? des 
Herzmuskels. Abt 
Auch in 
einemFabvetS 
Mitralstenose mit klinisch gu- 
i er Kbütpeiisatioft bei Hypdr- 
trojdiie und DUatation des 
linken Fent rikels erhielt ich 
eine immer wiederkehrende 
tragF Knrye. während ein 
anderes : Mal bei experimen¬ 
teller. Ermüdung der Pa¬ 
tientin eine tnichfräglirli- 
ansteigende Kurve unftrat. 
weil dann die bis dahin 
latente Henervekraft des bypettropUiiadieii ..Muskete herangezogen werden. - nt Hilf tu 
Interessant war bei dieser Patientin die Tatsache, dati bei 'WiedeHmlang der 
.piethysmcgrapliiM hevi Aufnahme üi tiefer Hypnos»-, t»ci der nur lebhaft» jfewegiihgs- 
vtirsteilüngeu «trweekl mtrden bei absoluter lluheiage und Er^Klafluug des in- 
Zfii*.a.r. f. ■». ,iat. TW»!» 1 * n,i. x.\H. !«•-.»> « -t 


Abb. f». Kaohträgbch »ittateigoade Kurv»; tni AortCDinsuffizienz. 
' (Meta 1’) 


Träge Kurve in oinem besseren Stadium derselben Aortcjiinsuftizien?.. 

’. (Meta I\} ’ :s.'T v '.; V 


Abb. 8. Negative Kurve in einem schlechteren Stadium 
- deisellien Aorteninsufluicnz. »Meta. F.) 











•322 H. Schirokauer, Die klinische Bewertung der Plethysmographie bei Herzkrankheiten. 


sprünglich die Probearbeit leistenden Fußes, genau eine gleiche träge Kurve 
erhalten wurde. Darnach scheint eine gewisse Selbständigkeit der Wirkung auch des 
kranken Herzmuskels erwiesen. Weber (1. c. pag. 327) hat schon gezeigt, daß in der 
Hypnose bei Gesunden durch Erweckung von Bewegungsvorstellungen die normale 
Kurve zustande kommt und dadurch den Beweis ftir die zentral bedingte Blut¬ 
verschiebung erbracht. 

Dünner (1. c.) hat nun außer den erwähnten Kurventypen noch eine sog. 
nachträglich-abfallende Kurve als besonderen Typ aufgeführt. Ich möchte aber 
in Übereinstimmung mit Weber diese Kurvenform zu der Gruppe von Kurven 
rechnen, die als Abarten der nachträglich-ansteigenden aufzufassen sind durch die 
jeweils wechselnden Stärke Verhältnisse der beiden letztere Kurvenform bedingen¬ 
den Komponenten. 

Ist die Insuffizienz des Herzmuskels etwas größer (als bei der regulären 
nachträglich-ansteigenden Kurve), so tritt bei Arbeitsbeginn gleich eine kleine 
negative Senkung auf, dann gewinnt der hypertrophische Ventrikel das Über¬ 
gewicht, die Kurve steigt an. Nach Ende der Fußarbeit tritt jetzt durch Über¬ 
wiegen der Gefäßverengung über den nun schwächer arbeitenden linken Ventrikel 
eine mehr oder weniger schnelle Senkung zur Horizontalen und unter dieselbe als 
negative Phase und abermalige Erhebunng zur Ausgangslinie zurück. — Ist endlich 
die Insuffizienz noch stärker — schließlich wird auch hier natürlich eine rein negative 
Kurve auftreten —, so sieht man zuerst bei Arbeitsbeginn eine starke Senkung und 
nur allmählich kommt es durch den hypertrophischen Ventrikel zum Anstieg über 
die Horizontale; nach Aufhören der Arbeit fällt die Kurve dann zur Ausgangs¬ 
linie ab. 

Ich glaube mit meinen Ausführungen ein Bild von der klinischen Brauch¬ 
barkeit der plethysmographischen Unfersuchungsmethode bei Herzkrankheiten ge¬ 
geben zu haben. Da mit dieser Methode lediglich die Herzkraft gegenüber zu 
leistender Arbeit bestimmt wird, so stellt sie eine alle bisherigen Methoden über¬ 
ragende Herzfunktionsprüfungsmethode dar. Man ist daher nach Weber, Dünner, 
F. Meyer (Arch. f. Anat. und Physiolog. 1915) in der Lage, organische Herz¬ 
veränderungen von Herzneurosen sicher zu trennen, insofern als bei ersteren eine 
der angeführten pathologischen Kurven auftreten wird, während nach den ge¬ 
nannten Autoren bei Herzneurosen — auch nach einer leichten experimentellen 
Ermüdung — stets eine normale Kurve vorhanden sein soll. Bei dieser allgemeinen 
Fassung des Begriffes „Herzneurose“ kann ich mich jedoch dieser Ansicht nicht 
anschließen. Ich glaube, daß lediglich Fälle von sog. Herzneurasthenie, d. h. Herz¬ 
beschwerden (Herzklopfen, Angstgefühle, Druck in der Herzgegend usw.) bei all¬ 
gemeiner Neurasthenie unter obigem Begriff der funktioneilen Störungen des 
Herzens verstanden werden können, die eine normale Kurve geben. Schon die 
oft rein funktionelle Extrasystolie kann, wie ich gefunden habe, eine pathologische 
Kurvenform — hier eine träge — geben, *als Zeichen einer Stauung durch Vor¬ 
hofspfropfung bei Kammerextrasystolie. Zweifellos geben eben alle funktionellen 
Herzstörungen nur solange eine normale Kurve als nicht die geringste Kreislauf¬ 
störung (Stauung) oder Herzmuskelveränderung vorhanden ist, welch letztere sich 
auch aus einer zunächst nur funktionellen (nervösen) Störung herleiten kann. Das 
ist ja gerade das Entscheidende: die pathologische Kurve zeigt uns eine Funk- 


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P. Schrumpf, Die Syphilis des Herzens und der Gefäße usw. 


323 


tionsstörung des Herzmuskels, gleichgültig, oh ihr anatomische oder nervöse Ur¬ 
sachen zugrunde liegen; finden wir eine normale Kurve, so schließen wir nach 
den gemachten Erfahrungen mit der Plethysmographie, daß der Herzmuskel intakt 
ist, und daß die betreffenden vorhergenannten Beschwerden auf „nervöser“ Basis 
entstanden sind, ohne die Leistungsfähigkeit des Herzmuskels zu beeinträchtigen. — 
Es darf nicht imerwähnt bleiben, daß die sog. Herzneurastheniker gerade beson¬ 
dere Schwierigkeiten für die Untersuchung darbieten wegen der allgemeinen Un¬ 
ruhe und des häufig • beobachteten Tremors — von Basedow-Herzen gilt oft das¬ 
selbe — des im Apparat befindlichen Armes und der Hand. Bei der zweiten oder 
dritten Untersuchung gelingt es fast stets ein sicheres Bild von der Kurve zu 
erhalten. Nur ein Bruchteil der Fälle scheidet für diese Methode ganz aus. 

Wer somit mit der Kritik des geübten Untersuchers, der die notwendige 
Mülie und die erforderliche Zeit der plethysmographischen Methode gewidmet hat, 
an diese herangeht, der wird mit ihr, die zweifelsohne in mancher Hinsicht noch 
weiter ausgebaut werden kann, — ich denke dabei an die Untersuchungen bei 
Diabetes mellitus, Nephritis, Thyreotoxikosen, mit denen ich beschäftigt bin — 
seine klinische Erkenntnis auf dem Gebiet der Herzkrankheiten mehr als mit jeder 
anderen bisher geübten Untersuchungsmethode fördern können. - 


XV. 

Die Syphilis des Herzens und der Gefäfie. 
(Häufigkeit, Diagnose und Behandlung.) 

Aus dem medizinisch-poliklinischen Institute der Universität Berlin. 
(Direktor: Geh. Med.-Hat Prof. Dr. Goldscheider.) 

Von 

Dr. P. Schrumpf. 


Wir haben im Verlauf des vergangenen Jahres auf der Männerabteilung unserer 
Poliklinik mit größtmöglichlicher Sorgfalt auf mit Lues direkt oder indirekt in 
Verbindung stehende Krankheitsformen gefahndet, und hierbei zunächst danach 
getrachtet, die Diagnose auf sichere oder vermutliche luetische Erkrankung nur 
nach dem objektiven klinischen Befund und einer systematisch durchgeführten Er¬ 
forschung der Anamnese zu stellen. Als komplementäre Untersuchung haben wir 
in allen irgendwie zweifelhaften Fällen, d. h. in etwa der Hälfte der 4280 Fälle, 
über die unsere Statistik sich erstreckt, die Wa. R. ausgeführt. Letztere in jedem 
Fall durchzuführen, war bei dem jetzigen Mangel an Meerschweinchen nicht 
möglich. 

21 * 


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324 

Die Resultate dieser Statistik, die wir an anderer Stelle eingehender be¬ 
sprechen, sind in folgender Tabelle kurz zusammengefaßt: 

Tabelle 1. 

Behandelte L. i. d. Anamn.317 = 7,46 % 

„ „ „ „ „ mit klinisch luetischen inneren Krankheiten 239 5,58 % 

r r> n n n Ohne „ n » i> *8 == 1,82 ®/q 

Keine „ „ „ * mit „ „ B 175 = 4,08 % 

Gesamtzahl der klinisch luetischen inn. Krankheiten 414 = 9,07 % 

Von 239 klin. luet. inn, Krankheiten mit L. i. d. Anamn. hatten pos. Wa. R. 113 = 47,28 °/ 0 

n 175 ti d n , ohne „ , „ „ „ „ . 135 = 64,58 "/„ 

Ton 414 klinisch luetischen inn. Krankheiten hatten eine posit. Wa. R. 248 = 59,90 % 

Wir fanden also ini ganzen unter 4280 Patienten bei rund 10 % derselben 
luetische Erkrankungen innerer Organe. Diese Zahl ist etwas höher, als die, an 
dem Material der Ro mb er gschen Klinik in München von Hubert 1915 gefundene, 
welche 8,8 °/ 0 betrug. 

Recht häufig kamen Kombinationen von luetischen Erkrankungen verschiedener 
Organe bei demselben Patienten vor; in diesen Fällen wurde der im Vordergrund 
stehende Symptomkomplex als Hauptdiagnose rubriziert. 

Die Zusammensetzung unseres luetischen Materials ergibt sich, kurz zusammen¬ 
gefaßt, aus folgender Tabelle: 


Tabelle 2. 




% von 414 

% von 4280 

Herz und Gefäße. 

235 

56,76 

5,49 

Nervensystem. 

97 

23,43 

2,27 

Leber . 

35 

8,45 

0,82 

Lunge . 

13 

3,14 

0,30 

Nicht lokalisierbar (L. latens) . . . 

12 

2,90 

0,28 

Blut. 

6 

1,45 

0,14 

Gummata der Knochen und Muskeln 

5 

1,21 

0,12 

Chron. Arthritiden. 

3 

0,72 

0,07 

L. hered. tarda. 

3 

0,72 

0,07 

Nieren (Nephrose). 

2 

0,48 

0,05 

Diversa. 

3 

0,72 

0,07 


Aus derselben ersieht man, daß die Mehrzahl der Fälle von Syphilis der 
inneren Organe den Zirkulationsapparat betrifft. Es erscheint uns daher angebracht, 
an der Hand unserer Statistik hier die Lues der Zirkulationsorgane näher zu 
besprechen. 

Aus Tabelle 2 geht hervor, daß 5(5, TG % unserer 414 Fälle von interner Lues 
Herz und Gefäße betrafen; in unserer nun folgenden Besprechung müssen wir 
außer diesen noch diejenigen Fälle in unsere Statistik hineinbeziehen, die neben 
einer, das Krankheitsbild beherrschenden luetischen Erkrankung anderer Organe, 
(z. B. Tabes, Lebercirrhose) noch außerdem deutliche luetische Veränderungen des 
Zirkulationsapparates aufwiesen. 

Die Zusammensetzung unseres luetischen Herz- und Gefäßmaterials ergibt sich 
aus Tabelle 3. 


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Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 325 


Tabelle 3. 


' 


L. i. d. 
Anamn. 

W. B. 
pos. 

W.R. 

neg. 

Keine 
L. i.d.A. 

IW. R. 
pos. 

W. R. 
neg. 

Aortitis luetica. 

89 

59 

31 

28 

30 

28 

2 

Aneurysma aorta.. . 

97 

41 • j 

23 

18 

56 

39 

17 

Periphere Sklerose .......... 

19 

9 

2 

7 

10 

5 

5 

(mit geringer Beteiligung des Herzens 




*» 


i 


und der großen Gefäße) 








Chron. Myokarditis. 

25 

21 


21 

4 

4 


(mit vorwiegend zentraler Arterioskl.) 








Chron. Myokarditis.. . 

14 

9 

2 

7 

5 

5 


(ohne Gefäßerkrankung) 








Endokard. Klappenfehler u. Aortitis luetica 

8 

€ 

5 

1 

2 

2 



252 

145 

63 

82 

107 

83 

24 




83 

2t 







146 

106 





Da die Gesamtzahl der Erkrankungen der Zirkulationsorgane 992 = 32,17 °/ 0 
von 4280 untersuchten Patienten ausmachte, so stellen die luetischen Erkrankungen 
des Herzens und der Gefäße 25,3 °/ 0 von diesen 992 dar. Also war l / 4 unseres 
gesamten Herz- und Gefäßmaterials luetischer Natur. 

Bei 145 = 57,5 °/ 0 dieser Fälle war Lues in der Anamnese vorhanden, bei 
03 dieser 145 Fälle = 43,4 % war die Wa. R. positiv. 

Bei 107 = 42,5 °/ 0 unserer Fälle fehlte Lues in der Anamnese, bei 83 = 78 °/ 0 
dieser 107 Fälle war die Wa. R. positiv, also etwa doppelt so häutig als in den 
Fällen, wo eine behandelte Lues in der Vorgeschichte vorlag. 

Insgesamt war die Wa. R. in 14G von 252 = in 58 % der Fälle von Lues 
der Zirkulationsorgane positiv. 

Sehr häufig war die Verbindung von luetischen Veränderungen des Herzens 
und der Gefäße mit luetischen und paraluetischen Läsionen anderer Organe, so mit 
Tabes, mit Leberlues usw., wodurch die Diagnose gesichert werden konnte. Ferner 
ist immer zu achten auf ein ev. Leukoderm, auf Drüsen, auf Zungendrüsenatrophie, 
auf leichte tabische Frühsymptome usw. Oft wird eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose 
auf Lues eines inneren Organes erst durch den Erfolg der spezifischen Therapie 
zur Sicherheitsdiagnose. 

Von großem Wert ist nun ohne’Zweifel für die Diagnose der Lues der 
Zirkulationsorgane die Wa. R. Ihr stark positiver Ausfall kann wohl mit Sicherheit 
als für Lues beweisend angesehen werden, während ihr negativer Ausfall nicht gegen 
Lues spricht und den Kliniker nicht irreführen darf. Anscheinend spricht die 
Positivität der Wa. R. für einen floriden, im Fortschreiten begriffenen luetischen 
Prozeß, während derselbe Prozeß, wenn auch nicht geheilt, so doch zu einem 
Stillstand gekommen, keine positive Wa. R. mehr hervorzurufen braucht. Einen 
solchen Stillstand ohne tatsächliche Heilung können wir z. B. im Anschluß an 
eine spezifische Kur wahmehmen, nach der die vorher positive Wa. R. negativ 
wird, obwohl wir klinisch zwar von einer Besserung, nicht aber von einer Heilung 
resp. sicheren „Vernarbung“ sprechen können. 


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326 


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Ein ähnlicher Vorgang kann sich zweifelsohne, auch spontan, ohne Behand¬ 
lung im Organismus abspielen; wir haben wiederholt bei tertiären Luetikern, und 
speziell hei Aortenkranken und Tabikern, bei denen eine spezifische Behandlung 
nicht durchgeführt werden konnte, beobachtet, wie eine anfänglich positive Wa. R. 
nach und nach negativ wurde und umgekehrt. Die Lues ist eben wie jede 
Trypanosomiase eine zyklische, schubweise verlaufende Krankheit, mit, besonders 
bei wenig virulenten, abgeschwächten Spirillen, relativer Spontanheilung, oft sehr 
langen Remissionen zwischen akuten Schüben, während denen die Parasiten viel¬ 
leicht im Blute kreisen und die positive Wa. Iji. hervorrufen. Solche akuten Schübe 
dürften bei gewissen Luetikern, auch Vorkommen, ohne daß sich irgendwo im Or¬ 
ganismus lokale anatomische Veränderungen bilden (Lues latens): Eine Aus¬ 
streuung von Spirillen, die durch die Schutzkräfte des Organismus verhindert 
werden, sich irgendwo festzusetzen, Selbstverteidigung des Organismus durch Anti¬ 
körper, bis die Erreger sich wieder in ihre Schlupfwinkel (Samenblase?) zurück¬ 
gezogen haben. Doch sind wir der Ansicht, daß man mit der Diagnose der Lues 
latens sehr vorsichtig sein muß und daß es sich in solchen Fällen, wie wir weiter 
unten zeigen werden, oft um beginnende Aortitis, seltener um beginnende Tabes 
handelt. So fanden wir unter 414 Fällen von Lues innerer Organe bloß 7 Fälle 
von latenter, nicht lokalisierbarer Lues mit einwandfreier stark positver Wa. It., 
während bei seiner Statistik Hubert (Rombergsche Klinik in München) in fast 
der Hälfte seiner Fälle eine solche annahm. 

Aus diesen Frwägungen heraus muß man sich nun klar werden, daß unter 
Umständen bei der Beurteilung eines klinischen Falles ein positiver Ausfall der 
Wa. R. uns stark irreführen kann. Denn ein Luetiker mit stark positiver Wa. R. 
mit versteckter, nicht nachweisbarer oder überhaupt nicht lokalisierter Lues 
kann wie jeder Nichtluetiker jede mögliche Krankheit bekommen, die dann irr¬ 
tümlicherweise auf Gnind der positiven Wa. R. als luetischer Natur aufgefaßt 
werden könnte. Entscheiden tut eben vor allen Dingen der klinische Befund; 
auch 'bleibt nach wie vor der alte Grundsatz bestehen, daß der 
sicherste Bbweis für die luetische Natur einer Krankheit der Erfolg 
der spezifischen Behandlung ist. 

Es ist selbstverständlich, daß falls eine mit größter Sorgfalt ausgeführte 
Wa. R. nicht mit dem klinischen Befund übereinstimmt, dieselbe öfters wiederholt 
werden muß. 

Wir wollen nun der Reihe nach an der Hand unseres Materials, die ver¬ 
schiedenen Formen der luetischen Erkrankungen des Herzens und der Gefäße, 
und besonders ihre Diagnose hier kurz besprechen. 

Wir können die luetischen Erkrankungen der Zirkulationsorgane praktisch 
in zwei Gruppen einteilen; die erste umfaßt diejenigen Veränderungen, deren 
Symptomatologie und physikalischen Merkmale sich mit denjenigen entsprechender 
nicht luetischer Erkrankung der betreffenden Gewebe decken, deren luetische 
Natur infolgedessen nur indirekt und nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit 
angenommen werden kann. Zu dieser ersten Gruppe gehören die luetischen 
Myokardveränderungen sowie die periphere luetische Arteritis und luetische 
Phlebitis. 

Zur zweiten Gruppe gehören die luetische Aortitis und ihre Folgeerscheinungen. 

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Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 327 


deren Symptomatologie in vielen Fällen so charakteristisch ist, daß ihre Diagnose 
mit einer gewissen und oft absoluten Sicherheit gestellt werden kann. 

Die Symptomathologie der zuerst von Yirchow 1859 beschriebenen syphy- 
litischen Myokarditis bietet nichts charakteristisches; sie ist dieselbe wie 
diejenige einer jeden chronischen My<fkarditis; meist handelt es sich um Inseln 
kleiner Gummata mit starker lokalisierter Beteiligung der Gefäße, selten um 
größere solitäre Gummata. In beiden Fällen ist der plötzliche Tod durch Herz¬ 
ruptur möglich. Die Diagnose der luetischen Myokarditis ist wohl kaum je mit 
Sicherheit zu stellen; man muß an sie denken, wenn bei einem Luetiker in relativ 
frühem Lebensalter Erscheinungen von einer Myokarderkrankung sich einstellen. 
Nicht ganz selten ist die Lues des Myokards Schuld an Störung im Rhythmus 
der Schlagfolge des Herzens. Für die Entstehung von Reizleitungsstörungen ist 
dies schon länger bekannt. So ist ein vollständiger Block häufig hervorgerufen 
durch einen gummösen Prozeß in der Gegend des Hisschen Bündels. Aber auch 
hochgradige Extrasystolie, vollkommene Unregelmäßigkeit des Herzens (A. totalis, 
Vorhofflimmern und Flattern) sowie dauernde oder paroxysmale Tachykardien sind 
nach unserer Erfahrung manchmal luetischen Prozessen innerhalb der Herzmuskeln, 
die vorwiegend und eventuell elektiv den intrakardialen Nervenapparat betreffen, 
zuzuschreiben und einer spezifischen Behandlung zugängig. 

Von den 80 chronischen Myokarditiden unseres Materials waren 14 = 16 % als 
Inetisch zn bezeichnen; bei der Hälfte derselben war die Wa. R. positiv; 9 derselben 
= 63% hatten Lues in der Anamnese. 

Die periphere syphilitische Arteritis kommt häufiger vor als man 
glaubt, und zwar in zwei Formen, einer obliterierenden und einer ektasierenden 
Form. Die erstere führt zum Verschluß, die zweite zum Aneurysma der Arterie. 
Betroffen werden können sämtliche peripheren Arterien und Artenden, haupt¬ 
sächlich die des Gehirns und des Rückenmarks, der Bauchorgane und der 
Extremitäten. Sehr selten ist, zum Unterschied von der gewöhnlichen Arteriosklerose, 
die luetische Arteritis diffus, das gesamte periphere Arteriennetz befallend. Sie 
ist vielmehr meistens auf ein relativ kleines Gebiet lokalisiert; die Arterie ist 
nicht in ihrem gesamten Verlauf, sondern meist segmentär befallen; oft ist es 
nur ein kleines Stückchen Arterie, welches erkrankt und entweder obliteriert 
oder ektasiert. Betroffen sind meistens mittlere Arterien seltener Endarteriolen. 
Die obliterierende Form der Arteritis luetica führt zu schweren lokalen Störungen 
der Blutversorgung, so z. B. an den Extremiten zur Gangrän. Die ektasierende 
Form kann relativ symptomlos verlaufen, so lange das sich bildende Aneurysma 
nicht platzt. 

Aus dem Gesagten ergibt sich die Möglichkeit der Diagnose der syphilitischen 
Arteritis. Lokalisierte Arterienveränderungen bei relativ jungen Individuen sind 
immer verdächtig auf Lues. 

Wenn auch die luetische Arteritis im allgemeinen selten vor dem 4. bis 5. Jahre 
nach der Infektion und meist später auftritt, so sind docli Fälle bekannt, wo be¬ 
reits ein Jahr und früher nacli dem Primäraffekt luetische Veränderungen der 
Hirnarterien festgestellt wurden; sie gehören dann der sekundären Periode der 
Syphilis an. 


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328 


Die 106 Fälle von peripherer Sklerose unseres Gesamtmaterials verteilten sich 
folgendermaßen: 

Vorwiegend Extremitäten: 25, davon luetisch 5; vorwiegend Gehirn: 30, davon 
luetisch 19; vorwiegend Baucharterien: 12, davon luetisch 2; mit stärkerer Beteiligung 
der Nierengefäße: 39, davon luetisch 2. — Von unseren 19 luetischen peripheren 
Arteritiden (18 °/ 0 von 106) hatten 7 — 39 °/ 0 eine positive Wa. R., 9 = 45°/ 0 hatten 
Lues in der Anamnese. 

Zu erwähnen w r äre noch die syphilitische Phlebitis, die zuerst 1894 durch 
Mendel beschrieben wurde. Während die syphilitischen Arterienerkrankungen 
eher der tertiären Periode der Syphilis angehören und nur ausnahmsweise 
vor dem 5. Jahre nach erfolgter Infektion sich einstellen, ist die spezifische 
Phlebitis eine bedeutend frühere luetische Manifestation. Sie wird bereits wenige 
Monate nach dem Primäraffekt beobachtet, ja wenige Wochen danach, ja sie kann 
vor der Roseola und den Plaques maqueuses erscheinen. Sie. verläuft meist ohne 
Fieber, betrifft am häufigsten die V. saphena int., seltener die Saphena ext., 
basilica und cephalica. Auch sie ist häufig segmentär. Ausnahmsweise ist sie 
multipel, dann meist symetrisch.* Sie neigt zur Rezidive, heilt relativ rasch unter 
spezifischer Behandlung. Sie unterscheidet sich von den anderen Phlebitiden vor 
allen Dingen dadurch, daß sie nie Anlaß zu Embolien gibt. 


Die Aortitis luetica. 

Unter den luetischen Erkrankungen der Zirkulationsorgane nimmt die Lues 
der Aorta die wichtigste Stellung ein; 72°/ 0 unserer 252 Fälle von Herz- und 
Gefäßsyphilis betrafen die Aorta, und zwar vorzugsweise den Brustteil derselben. 

Pathologisch-anatomisch begründet wurde die syphilitische Aortenerkrankung 
durch-Heiberg, Heller, Döhle; den zunächst die mittleren und äußeren Schichten 
der Aorta betreffenden, und nur sekundär die Intima in Mitleidenschaft ziehenden 
Entzündungsprozeß bezeichnete zweckmäßig Chiari als Mesaortitis productiva, 
seinen Folgezustand nannte Benda „narbige Sklerose der Aorta“. Obern¬ 
dorfer zeigte, daß die syphilitische Aortitis von den Vasa vasorum der Adventitia 
ausgeht, also von außen nach innen, während die Atherosklerose bekanntlich von 
der Intima aus von innen nach außen geht. 

Von deutschen Autoren war Goldscheider einer der ersten, der die kli¬ 
nische Manifestation der luetischen Aortitis beschrieb und auf die große prak¬ 
tische Wichtigkeit der Frühdiagnose dieser so häufigen Erkrankung hinwies. So 
sagte er in seinem 1912 gehaltenen Vortrag „Über die syphilitische Erkrankung 
der Aorta“: Es ist meine Überzeugung, daß die Diagnose dieser Er¬ 
krankung noch viel zu selten gestellt wird und namentlich viel zu 
selten frühzeitig gestellt wird. 

Die syphilitische Aortitis ist ebenso wie die syphilitische Arteritis selten 
diffus, d. h. der luetische Prozeß befällt selten gleichmäßig die gesamte Aorta; 
meistens ist er vielmehr auf gewisse Stellen derselben, wenigstens in seinem An¬ 
fangsstadium, beschränkt und da auch oft, ähnlich wie bei der peripheren Arteritis, 
gewissermaßen segmentär. So ist es möglich, mehrere Formen der syphilitischen 
Aortitis voneinander zu trennen, die, wenn sie auch manche gemeinsame Symptome 
besitzen, dennoch, besonders in ihren Anfangsstadien, sich diagnostisch unter- 


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Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 329 


einander wohl differenzieren lassen. So können wir unterscheiden zwischen folgen-, 
den Formen von luetischer Aortitis, aufgezählt nach der Häufigkeit ihres Vor¬ 
kommens: 

1. Aortitis luetica supra-sigmoidea. 

2. Syphilis des orificium aortae mit Insuffizienz der Aortenklappen. 

3. Diffuse Aortitis der Brustaorta mit Bildung großer Aneurysmen. 

4. Aortitis der Aorta descendens mit Bildung eines Aneurysmas mit Rekurrens¬ 
lähmung. 

ö. Diffuse Aortitis mit Bildung kleiner multipler Aneurysmen. 

<>. Luetische Koronaritis, entweder obliterierend oder mit Bildung miliarer 
Aneurysmen der Koronararterien. 

7. Aortitis der Bauchaorta. 


Schon aus dieser Einteilung ist ersichtlich, daß die Syphilis der Aortenwand 
meistens die Ektasie derselben, die Bildung eines Aneurysmas zur Folge hat, und 
wir können heute als mit großer Wahrscheinlichkeit, wenn nicht mit Sicherheit 
als erwiesen ansehen, daß die überwiegende Mehrzahl der richtigen Aneurysmen, 
d. h. der ausgesprochenen lokalen Ektasien der Aorten- und Arterienwand auf die 
Syphilis derselben zurückzuführen ist. Es gibt ja ohne Zweifel, wenn auch selten, 
nicht syphilitische akute uud chronische Entzündungen der Aorta, im Verlaufe von 
Infektionskrankheiten, besonders von Typhus, Gelenkrheumatismus, Tuberkulose, 
Pocken, Scharlach, Malaria, aber dieselben spielen wohl in der Ätiologie des 
Aneurysmas, ebenso wie die früher oft beschuldigten traumatischen Läsionen der 
Aortenwand, eine ganz untergeordnete Rolle. Denn die akute schwere infektiöse 
Aortitis verläuft fast immer in kurzer Zeit tödlich, die leichteren chronischen 
Formen aber, die zum Unterschied von der luetischen Aortitis die Aortenwand, 
und zwar zunächst ihre Intima, diffus befallen, gehen später in richtige Arterio¬ 
sklerose, in Atheromatose, event. mit diffuser, nicht eigentlich aneurysmatischer 
Dilatation der Aorta über. Dasselbe gilt von der primären, degenerativen Arterio¬ 
sklerose. Besonders empfänglich für infektiöse, nicht luetische aortische Prozesse 
scheint die Aorta zu sein, die bereits atheromatös degeneriert ist. 

Die Ektasie der luetisch erkrankten Aortenwand, kann bereits sehr frühzeitig 
nach Beginn der Erkrankung sich einstellen; sie kann verzögert oder verhindert 
werden durch frühzeitige spontane oder durch spezifische Therapie bedingte narbige 
Sklerosierung der Aortenwand, ferner durch einen, dem luetischen mesaortitischen 
Prozeß sich zugesellenden, von der Intima ausgehenden atheromatösen, arterio¬ 
sklerotischen Prozeß, was besonders bei älteren Individuen der Fall ist. Daher 
sind jüngere Individuen mit luetischer Aortitis der Bildung eines Aneurysma eher 
ausgesetzt nie ältere. 

Der häufigste Angriffspunkt der Syphilis auf die Aorta scheint der untere 
'Peil der Aorta ascendens, oberhalb des Abgangs der Koronararterien, zu sein. 
Diese Aortitis supra-sigmoidea ist meist zirkulär, segmentär. Ihre frühzeitige 
Erkennung ist von sehr großer Wichtigkeit, denn diese Prädilektionsstelle der 
beginnenden luetischen Aortitis, von der aus sie sich nach und nach sowohl nach 
rückwärts, d. h. nach der Aortenklappe und den Koronararterien, sie auch strom¬ 
abwärts, nach dem Arcus aortae zu verbreiten die Neigung hat, ist zugleich auch 


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derjenige Teil der Aorta, der relativ der Ektasierung am meisten Widerstand 
leistet; es bietet daher die Frühbehandlung gerade dieser Form von Aortitis die 
größten Chancen für eine relative praktische Heilung. 

Das Hauptsymptom der Aortitis supra-sigmoidea, welches leider selten erkannt 
und richtig gedeutet wird, ist dasjenige des Retrosternalschmerzes, des Angor 
pectoris. Dieser kann leicht und schwer, vorübergehend oder anhaltend, manch¬ 
mal nur in äußerst quälenden Anfällen auftreten, mit Erstickungsgefühl und Be¬ 
klemmung, mit einem Punctum maximum am oberen Sternum, welches auf Druck 
empfindlich sein kann; Ausstrahlung des Schmerzes nach dem Hals und dem linken 
Arm kann Vorkommen, ist aber nicht die Regel. 

Dieser auf Reizung des Plexus cardiacus zurückzuführende Schmerz tritt zum 
Unterschied von demjenigen der richtigen Angina pectoris nicht etwa vorwiegend 
nach körperlicher Anstrengung auf, sondern auch ganz spontan, auch bei voll¬ 
ständiger körperlicher Ruhe. Differentialdiagnostisch kommen weiter in Betracht 
auf Nikotin, Tabes, Gicht, wohl auch auf Hysterie zurückführende Neuralgien des 
Plexus cardiacus; die jedoch an sich selten Vorkommen und nicht die Intensität 
des aortitischen Schmerzes erreichen. 

Vor diesem Hauptsympton des Angor pectoris treten die physikalischen 
Phänomene der Aortitis supra-sigmoidea stark in den Hintergrund. Die Aus¬ 
kultation über der Aorta und speziell der Aortenklappe ergibt meistens nichts 
Abnormes. Höchstens klingt der erste Aortenton manchmal etwas dumpf und leise; 
der zweite Aortenton ist in reinen Fällen, d. h. solchen, wo die Klappen nicht be¬ 
troffen sind, unverändert. Der Anfangsteil der Aorta ist im Beginn der Er¬ 
krankung auch nicht nachweislich dilatiert. Das einzige, was bei der Durch¬ 
leuchtung auffällt, ist ein verstärktes Pulsieren, ein vermehrtes systolisches 
Auseinandergehen desselben. Dieses drückt sich auch durch eine gewisse Schnellig¬ 
keit des Pulses aus, ein Phänomen, welches wir als pulsatorische Plethora 
bereits an anderer Stelle 1 ) eingehend besprochen haben. Wenn nämlich die 
Aortenwand durch entzündliche Prozesse einen Teil ihrer Elastizität eingebüßt 
hat, so weicht sie leichter dem Innendruck aus, ohne ihm den normalen Wider¬ 
stand zu bieten. Es erhält dadurch der Puls, bei intakten und voll schlußfähigen 
Aortenklappen, ähnliche Qualitäten wie die des Aorteninsuffizienzpulses, er wird 
„celer“ und „altus“. Graphisch läßt sich diese Qualität des Pulses imabhängig 
von jeder Subjektivität mittels des Christenschen Energometers nachweiseu. 
Da wir auf diese komplizierten physikalischen Verhältnisse hier nicht eingehen 
können, so verweisen wir auf unsere früheren diesbezüglichen Mitteilungen. Das 
Phänomen der pulsatorischen Plethora bei intakten Aortenklappen ist nicht spe¬ 
zifisch für die syphilitische Erkrankung der Aortenwand, sondern wir finden es 
ebenfalls bei beginnender Sklerose der Aorta, bevor deren Wand steif geworden 
ist. Es ist jedoch bei luetischer Aortitis besonders ausgesprochen. 

Da nach unserer Erfahrung bei der Aortitis supra-sigmoidea die Wa. R. 
meist stark positiv ist, so glauben wir sagen zu können, daß das Symptom des 
Retrosternalschmerzes, verbunden mit einer pulsatorischen Plethora 
und einer positiven Wa. R. zur Sicherstellung der Diagnose genügen. 


') Ztschr. f. klin. Med. Bd. 85 u. M. m. W. 1918. S. 348. 


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Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 331 


"Wir sind auch der Ansicht, daß sehr viele Fälle von sog. Lues latens mit positiver 
"Wa. R. auf diese Form der Aortenlues, die als solche nicht angenommen wird, 
zurückzuführen ist. 

Es bleibt nun die Syphilis der Aorta selten auf die Regio supra-sigmoidea 
beschränkt, sondern sie hat eine ausgesprochene Neigung, auf das Oriflcium aortae 
und die Aortenklappen überzugehen. So entsteht die luetische Aorteninsuffi¬ 
zienz. Bevor jedoch dieselbe sich eingestellt hat, d. h. bevor die Aortenklappen 
funktionell insuffizient geworden sind, stellen sich als Zeichen der beginnenden 
luetischen Infiltration derselben sehr charakteristische Veränderungen im Klang 
des zweiten Aortentones ein, welche noch lange, ehe die Klappen schlußunfähig 
geworden sind, für den Geübten die sichere Diagnose auf luetische Artitis ge¬ 
statten. Sobald nämlich die Aortenklappen beginnen, ihre normale Elastizität zu 
verlieren, gesellt sich zu dem oben skizzierten klinischen Bilde der Aortitis supra- 
sigmoidea ein eigentümliches und sehr charakteristisches Klingen des zweiten 
Aortentones hinzu; derselbe ist nicht wie bei der gewöhnlichen beginnenden 
Sklerose der Klappen bloß verstärkt und klappend, nicht wie bei der mit Hyper¬ 
tonie verbundenen Nephritis, laut paukend, sondern er klingt musikalisch, metallisch, 
oft ähnlich wie beim Anschlägen eines Gongs. 

Der Blutdruck ist bei der beginnenden Aortitis meist normal. 

Das Bild der luetischen Aortitis supra-sigmoidea mit beginnender 
Infiltration der Klappen mit dem Syndrom des Angor pectoris, dem 
metallisch klingenden zweiten Aortenton und dem charakteristischen 
schnellen und hebenden Puls ist das häufigste, welches der Patient 
bietet, wenn er wegen seiner Beschwerden zuerst den Arzt aufsucht, 
und es ist so charakteristisch, daß es in den meisten Fällen die richtige 
Diagnosenstellung erlaubt, auch schon, bevor dieselbe durch die fast 
immer positiv ausfallende Wa. R. gesichert wird. 

Der bloßen Infiltration der Aortenklappen folgt, bald schneller, bald lang¬ 
samer, eine Störung ihrer Funktion im Sinne einer Insuffizienz, seltener einer 
Insuffizienz und Stenose, ganz selten einer reinen Stenose. Der klingende zweite 
Aortenton wird unrein, dann allmählich zu einem zunächst sehr leisen, später 
lauten, bis zur Herzspitze und zum Processus xiphoides sich fprtpflanzenden diasto¬ 
lischen Geräusch; der erste Aortenton verliert oft auch seine Reinheit und ver¬ 
wandelt sich in ein systolisches Geräusch. Zugleich hypertrophiert der linke Ven¬ 
trikel und steigt der Blutdruck, der systolisch zwischen 160 und 200 mm Hg. 
liegt, während der diastolische Druck niedriger wird, wodurch eine Zunahme der 
Amplitude stattfindet. Bei starker Insuffizienz der Aortenklappen wird der diasto¬ 
lische Druck gleich Null. Der Puls ist ganz ausgesprochen celer und altus, meist 
•wesentlich ausgesprochener als es bei der endokarditischen Aorteninsuffizienz der 
Fall ist. Zugleich stellt sich oft ein Kapillarpuls ein. Dem vermehrten Druck 
ausweichend ektasiert oft die Aorta ascendens, in manchen Fällen mehr diffus, in 
anderen ausgesprochen aneurysmatisch, in diesen Fällen besonders nach außen. 
Das Bild der luetischen Aorteninsuffizienz mit oder ohne Aneurysma ist vollendet. 
In diesem Stadium scheint der aktive luetische Prozeß oft von selbst durch eine 
gewisse spontane Heilung und Sklerosierung Halt zu machen, was sich durch das 
Auf hören des Symptomes des Schmerzes und durch ein Negativwerden der Wa. R. 


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ausdrückt. In seltenen Fällen, wo der oben geschilderte Verlauf durch eine gleich¬ 
zeitige luetische Koronatitis kompliziert wurde, eine Form der syphilitischen Aorten¬ 
erkrankung, auf die wir weiter unten näher eingehen werden, ist das Bild der 
Aorteninsuffizienz kompliziert durch das Auftreten von Anfällen klassischer Angina 
pectoris. 

Zum Unterschied von der endokarditischen Aorteninsuffizienz ist die luetische 
Aorteninsuffizienz so gut wie nie mit luetischen Veränderungen der Mitralklappe 
verbunden. Eine scheinbare Ausnahme machen die nicht ganz seltenen Fälle, auf 
die M. Herz aufmerksam gemacht hat, wo ein kombiniertes endokarditisches Mitral¬ 
und Aortenvitium sekundär durch einen luetischen Prozeß der Aortenklappen kom¬ 
pliziert wird. Wir haben dieses Vorkommnis unter 189 Fällen von chronischen 
Klappenfehlern 8mal angetroffen; in allen Fällen war die Wa. R. positiv. 

Bei der Untersuchung einer Aorteninsuffizienz wird man bei der luetischen 
Form derselben anamnestisch, das der endokarditischen Aorteninsuffizienz immer 
fehlende Symptom des Brustschmerzes wohl kaum vermissen. 

Wie häufig die luetische Aorteninsuffizienz vorkommt, zeigen folgende Zahlen: 

Von 140 Fällen von Aorteninsuffizienz waren 36 endokarditiacher Natur; 17 der¬ 
selben waren rein oder anscheinend rein, 19 dagegen mit Mitralvitien kombiniert. 
96 weitere Fälle von Aorteninsnffizienz waren luetischer Natur, davon 40 ohne Aneurysma, 
9 ohne Aneurysma aber mit Koronaritis und 47 mit Aneurysma. Die letzten 8 Fälle 
waren Kombinationen von alten endokarditischen und frischeren luetischen Klappenprozessen. 

Von 66 klinisch reinen Aorteninsuffizienzen ohne Aneurysma und Beteiligung der 
Mitralklappen waren 49 luetisch = 74,3 °/ 0 . 

Von 140 klinischen Aorteninsnffizienzen (Aneurysmen nnd kombinierte Klappen¬ 
fehler inbegriffen) waren 104 luetisch = 74,3%. 

Die mehr diffuse Aortitis der Brustaorta, die zur Bildung großer 
Aneurysmen führt, sowie die disseminierte gummöse Aortitis, deren Folge 
zahlreiche kleine Aneurysmen sind, braucht hier nur kurz besprochen zu 
werden; in ihren Anfangsstadien ist sie schwer zu erkennen und erst der Nach¬ 
weis des aus ihr entstehenden Aneurysmas gestattet oft ihre Diagnose. Auch hier 
ist der Schmerz ein Frühsymptom, welches nicht übersehen oder unrichtig gedeutet 
werden darf. Zum Unterschied von der Aortitis supra-sigmoidea ist hier seltener 
der Plexus cardiavus betroffen, dagegen häufiger die Plexi cervico-brachialis; dann 
ist der Schmerz ein anderer, wie der des eigentlichen Angor pectoris; er strahlt 
eher nach dem Hals und den Armen aus; auch er tritt spontan auf, mit Vorliebe 
Nachts, ohne, daß zu seiner Auslösung körperliche Anstrengung nötig sei. Somit 
ist es ratsam, in allen Fällen von „Neuralgien“ der Brust, des Halses und der 
Arme an die Möglichkeit der Lues der Aorta zu denken und die Wa. R. an¬ 
zustellen. Neben dem Schmerzsymptom ist dasjenige der oben beschriebenen 
„Pulsatorischen Plethora“, deren Feststellung die Energometrie mit Leichtigkeit 
gestattet, ein oft vorkommender diagnostischer Wink. Ist sie stark ausgesprochen, 
so bemerkt man manchmal schon, bevor ein Aneurysma sich gebildet hat, ein 
deutliches Pulsieren der vorderen oberen Brustwand, dessen Erkennung bei seit¬ 
licher Betrachtung von größter Wichtigkeit ist. Man kann dieses Pulsieren auch 
dadurch nachweisen, daß man in Rückenlage das Stethoskop mit dem breiten 
Teil auf die betreffende Stelle frei auflegt; in Atemstillstand sieht man dann das 
rhythmische Schlagen des freien Endes des Hörrohres. 


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Die Syphilis des Herzens nud der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose n. Behandlung). 333 


Leichter ist die Frühdiagnose der Aortitis derjenigen Stelle der Aorta des- 
cendens, welche von dem linken N. recurrens umschlungen wird, weil da durch 
Heizung desselben bereits vor der Entstehung eines Aneurysmas charakteristische 
Phänomene beobachtet werden können, nämlich schmerzhafte Dysphagie, Pharynx¬ 
spasmen, Ösophagusspasmen, Glottisspasmen, Heiserkeit durch Stimmbandlähmung. 
All diese Symptome können bereits vor der Entstehung des Aneurysmas bestehen; ihre 
richtige Deutung ist deshalb besonders wichtig, weil dadurch die Bildung dieses 
besonders gefährlichen „Aneurysma recurrens“ verhindert werden kann, welches, 
wenn es auch keine größeren Dimensionen erreicht, nicht allein durch Druck 
empfindlich stört, sondern auch erfahrungsgemäß die Neigung besitzt, frühzeitig in 
die Speiseröhre, die Bronchen oder die Brusthöhle durchzubrechen. 

Die syphilitische Erkrankung der Koronararterien haben wir bereits 
gestreift. Sie ist eine nicht seltene Komplikation der luetischen Aorteninsuffizienz / 
und der Aortitis supra-sigmoidea mit oder Aneurysma. Sie ruft schwere Anfälle 
von Stenokardie, von Angina pectoris hervor. Sehr selten scheint sie auch rein, 
oder relativ rein aufzutreten; drei unserer Fälle sprachen dafür. In einem dieser 
Fälle traten gehäufte schwerste stenokarditische Anfälle, unheimlich quälend und 
schmerzhaft, zirka J / 4 Stunde anhaltend, bis IG mal in 24 Stunden auf, bei der 
leichtesten Bewegung oder Erregung, auch ganz spontan, besonders Nachts auf. 
Trotz energischster spezifischer Behandlung starb die-38jährige Patientin, die keine 
Lues in der Anamnese hatte (Wa. R. stark positiv) innerhalb 3 Wochen. Das 
lyrankheitsbild war bei ihr im Laufe von 3 Monaten langsam entstanden und ihre 
Beschwerden waren als nervöser Natur angesehen worden. Daher Vorsicht bei 
der Beurteilung sogenannter pseudoanginöser Beschwerden! 

Die Lues der Bauchaorta dürfte relativ selten Vorkommen. Ihr Früh¬ 
symptom ist ebenfalls dasjenige des Schmerzes, der, weil innerhalb des Abdomens 
auftretend, wohl nur sehr selten richtig gedeutet werden dürfte. Daher wird 
meist die Diagnose erst durch die Feststellung des sekundären Aneurysmas 
ermöglicht. 

Die Röntgenuntersuchung läßt uns in den meisten Fällen beginnender luetiscner 
Aortitis, wenn noch keine deutliche Ektasie der Aortenwand sich ausgebildet hat, 
im Stich. Zu Trugschlüssen verleitet oft die Durchleuchtung oder Photographie 
aus der Nähe, da sie keine richtige Beurteilung der tatsächlichen Größenverhältnisse 
des Herzens und der Aorta gestattet. Einwandfrei ist nur die Durchleuchtung in 
verschiedenen Durchmessern in einem Abstand, der mindestens 2 m, besser 
noch 2,50 m von der Röhre. Von Frontalaufnahmen, die uns keinen Aufschluß über 
etw'aige Dilatationen der Aorta nach hinten geben, sind nur Tele-Aufnahmen zu 
verwenden. Wie schon erwähnt, ist im Röntgenschirm bei luetischer Aortitis ein 
besonders starkes Pulsieren des betroffenen Teiles der Aortenwand, der systolisch 
stark nach außen getrieben wird, oft zu erkennen und diagnostisch zu verwerten. 
Bei Durchleuchtung in der Nähe erscheint bei Patienten mit stark gewölbtem 
Thorax die Brustaorta im Verhältnis zum Herzen oft unnatürlich breit; entfernt 
man den Patienten auf 2 m von der Röhre, wodurch die Herzsilhouette die der 
Wirklichkeit entsprechende Form annimmt, so merkt man erst, wie sehr die Durch¬ 
leuchtung aus der Nähe einen hätte irreführen können. 

Fassen wir mm unser gesamtes Material von luetischer Aortitis sowie von 


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den aus derselben hervorgehenden Aneurysmen zusammen, so geben darüber fol¬ 
gende Zahlen ein Übersichtsbild: 

Von 89 Fällen von luetischer Aortitis ohne Aneurysmenbildung waren 49 = 55°/^ 
auf den unteren Teil der Aorta ascendens und die Aortenklappen beschränkt (davon 
9 mal stärkere Koronaritis), 37 Fälle = 43°/ 0 betrafen vorwiegend die Brustaorta ohne 
Beteiligung der Aortenklappen und in 3 Fällen waren vorwiegend die Koronararterien 
betroffen. 

Von 97 Fällen von luetischen Aortenaneurysmen betrafen 47 = 49°/ 0 die Aorta, 
ascendens mit Beteiligung der Klappen (davon 12 mal Koronaritis), 6 die Aorta ascendens 
ohne Beteiligung der Klappen (3 mal Koronaritis), 9 den Arcus aortae, 24 — 25 °/ 0 die 
Aorta descendens (davon 7 mal mit Rekurrenslähmung); 9 mal handelte es sinh um große 
diffuse Aneurysmen der ganzen Brustaorta (2 mal mit Rekurrenslähmung) und 2 mal um 
Aneurysmen der Bauchaorta. 

In 62 von 97 Fällen = 54°,' 0 war die Wa. R. positiv. 

Das Alter der an luetischer Aortitis Erkrankten hängt im allgemeinen von 
der Zeit der Infektion ab. Zirka 10 Jahre nach derselben scheint die Aorta am 
häufigsten betroffen zu sein. Doch kann dies auch früher der Fall sein, in einem 
unserer Fälle bereits 4 Jahre nach dem Primäraffekt, in anderen Fällen viel später, 
d. h. 25 Jahre und darüber nach erfolgter Ansteckung. Im allgemeinen stehen 
die an luetischer Aortitis erkrankten Patienten am häufigsten in mittleren Jahren, 
zwischen 32 und 50 Jahren. ' 

Neuerdings haben wir einen Fall beobachtet, der in obiger Statistik nicht 
einbegriffen ist, wo sogar eine luetische Aortitis mit beginnender Aneurysmenbildung 
als Manifestation einer hereditären Lues aufgefaßt werden mußte. Es handelte 
sich um einen 23jährigen Soldaten, der außer einer luetischen Aortitis noch ein 
Gumma im rechten Unterlappen, eine schwere Keratitis und eine im 12. Jahr 
entstandene Labyrintherkrankung aufwies. Anhaltspunkte für eine extragenitale 
Infektion waren nicht vorhanden. Trotz der manifesten multiplen luetischen Er¬ 
scheinungen war die Wa. R. bei ihm dauernd negativ. 

Im allgemeinen scheint uns der Verlauf der Aortitis luetica um so stürmischer 
zu sein, je näher die Infektion zurückliegt und je jünger der Patient ist, sowie 
in den Fällen, wo eine Lues gar nicht oder ungenügend behandelt wurde, ferner 
wo die Aortenlues die einzige luetische Organerkrankung darstellt. 

Wie alle luetischen Prozesse ist der Verlauf der Syphilis der Aorta kein 
kontinuierlich fortschreitender, sondern er wird unterbrochen durch Perioden des 
Stillstandes und der spontanen Regression. In manchen Fällen entwickelt sich 
eine Aorteninsuffizienz oder ein Aneurysma in wenigen Monaten, in andern sind 
Jahre dazu notwendig, letzteres ist besonders der Fall bei älteren, bereits in dem 
Alter der Arteriosklerose stehenden Individuen. Es besteht ja auch die relative 
Heilung resp. Vernarbung der Gefäßsyphilis, die sog. „narbige Sklerose“, eigentlich 
nur in der Entstehung einer sekundären Atheromatose, einer richtigen Verkalkung. 
Gerade die leichteren Fälle von Mesaortitis endigen in frühzeitiger Arterio¬ 
sklerose. Und es ist anzunehmen, daß eine nicht unbeträchtliche Zahl der Fälle 
von Myodegeneratio cordis mit zentraler Sklerose, Atheromatose und Sklerose der 
Aorta auf dem Boden einer leichten luetischen Aortitis entstanden sind. Je mehr 
der atehromatöse Prozeß den mesaortitischen überwiegt, resp. überdeckt, desto 
geringer wird die Chance der Entstehung eines richtigen Aneurysmas; in solchen 


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Die Syphilis des Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 335 


Fällen entwickelt sich nur, wie bei der gewöhnlichen reinen Atheromatose, diffuse 
mäßige Erweiterung der Aorta. 

Einen solchen Zusammenhang von stärkerer Atheromatose mit einem luetischen 
Prozeß der Aorta haben wir in 25 von 193 Fällen von Sklerose des Herzens nnd der 
Aorta sicher feststellen können. 21 derselben hatten eine Lues in der Anamnese; die 
meisten hatten andere sichere Inetische Manifestationen (14 mal Tabes, 3 mal Leber¬ 
syphilis, 2 mal Lnes cerebri). Die 5 anderen hatten eine positive Wa. R., die nnr anf 
die Aorta bezogen werden konnte. In 13 dieser Fälle war hauptsächlich die Brustaorta 
verkalkt, in 7 betraf der Prozeß außerdem noch die Aorten und Miralklappen, in 3 
hauptsächlich die Koronararterien und in 3 war die Bauchaorta stärker mitbeteiligt. In 
allen Fällen war das Myokard stark in Mitleidenschaft gezogen. 

Im allgemeinen scheinen uns die syphilitischen Veränderungen der Aorta in 
den Fällen den relativ am günstigsten Verlauf zu nehmen, w r o neben ihnen oder 
vielmehr meistens vor ihnen eine syphilitische Erkrankung anderer Organe sich 
entwickelt haben, z. B. der Leber oder des Zentralnervensystems. Gerade bezüg¬ 
lich der Verbindung von einer Tabes mit Aortenprozessen ist dies sehr deutlich. 
Zunächst ist da auffällig, daß meistens zuerst die Tabes und dann erst später 
die Aortenveränderungen auftreten, die meist sehr langsam und relativ gutartig 
verlaufen. Andererseits scheinen Patienten mit schwerer luetischer Aortitis sehr 
selten noch eine Tabes zu bekommen. Merkwürdig ist auch, daß in der Tabes 
fast ausschließlich die Aorta und fast nie die peripheren Arterien und besonders 
die Gehirnarterien, die doch ein Lieblingssitz der Syphilis sind, befallen werden. 
Auch fällt auf, daß in der Tabes die Aortenveränderungen nur sehr selten mit 
dem für die primäre Aortitis charakteristischen Brustschmerzen einhergehen. Es 
sind dies Beobachtungen, die dafür sprechen, daß, wenn die Lues sich gleich¬ 
zeitig oder hintereinander in verschiedenen Organbezirken manifestiert, sie in 
jedem derselben zu einer gewissen Gutartigkeit neigt. 

Obige Statistik betrifft, wie erwähnt, nur Männer; nach unserer Erfahrung 
dürfte die Syphilis der Aorta bei Frauen um ein geringes seltener Vorkommen als 
bei Männern, doch ist der Unterschied kein wesentlicher. Bei Frauen ist die Zahl 
der Fälle von nichtbehandelter, ganz besonders zu luetischen Aortenveränderungen 
neigender Lues größer als bei Männern. 

Zum Schluß kämen wir noch zur Besprechung der Behandlung der Syphilis 
der Kreislauforgane und speziell derjenigen der luetischen Aortitis. Wie schon 
Goldscheider ausdrücklichst bemerkt, muß dieselbe eine möglichst energische 
uund möglichst frühzeitig einsetzende sein, um Aussicht auf Erfolg zu haben. 
Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß es sich nicht allein um die Behand¬ 
lung einer Syphilis, sondern auch um die einer Herzkrankheit handelt. Es ist 
daher doch die Behandlung der luetischen Aortitis, wie überhaupt auch der Syphilis 
anderer innerer Organe, Sache des Internisten, und nicht des meist vorwiegend 
dermathologisch ausgebildeten Syphiliologen. 

Was zunächst die medikamentöse Behandlung der luetischen Aortitis an¬ 
belangt, so muß mit Nachdruck betont werden, daß eine einfache Jodtherapie, 
auch in hohen Dosen, völlig ungenügend ist. Es ist vielmehr eine spezifische 
kombinierte Jod-Quecksilber-Salvarsankur am Platze. Dieselbe wird um so energi¬ 
scher sein müssen, je aktiver der Aortenprozeß ist, wofür die Stärke der Positivität 


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P. Schrumpf 


der Wa. R. einen wertvollen Anhalt gibt. Aber auch in den Fällen, wo die Wa. R. 
negativ ist, genügt die einfache Jodtherapie nicht, sondern auch da muß zu einer 
kombinierten Kur gegriffen werden. 

Da, wo gleichzeitig eine Herzinsuffizienz vorliegt, was meistens nur bei vor¬ 
geschrittenen Fällen, und besonders bei großen Aneurysmen der Fall ist, muß die¬ 
selbe zunächst durch Digitalis und Diuretin bekämpft werden. Doch ist mäßige 
Herzinsuffizienz, zumal, wenn gleichzeitig Digitalis verabreicht wird, keine Kontra¬ 
indikation für eine spezifische Behandlung, speziell auch nicht für die Anwendung 
von Salvarsan. 

Für gewöhnlich geben wir unseren Patienten durch sechs Wochen hindurch 
3 g Jodnatrium pro Tag und einmal wöchentlich Neosalvarsan intravenös in 
3—4 ccm Wasser aufgelöst, beginnend mit Dosis 2, darnach fünfmal Dosis 3. 
Quecksilber ordinieren wir in Form von Schmierkur, oder Injektionen eines löslichen 
Salzes oder per os. In. letztem Falle wird es zweckmäßig in folgender Form, mit 
Jod zusammen, ordiniert: 

Rp. Hydrarg. oxyd. rubr. 0,3 
solve in 

Sol. Na. jod. 20 : 300 
d. s. 3 X tägl. einen Teelöffel nach dem Essen. 

Dieselbe Kur wird nach 2 Monaten wiederholt. Es ist von großer Wichtig¬ 
keit., bei der Behandlung der syphilitischen Aortenerkrankung nicht locker zu 
lassen, bis man nicht allein ein dauerndes Negativwerden der Wa. R., sondern 
auch einen sicheren Stillstand und in vielen Fällen auch Rückgang des Leidens 
klinisch feststellen kann. Von großem Wert ist in der Behandlung der Aortenlues 
das Neosalvarsan, von dem wir bisher in keinem Fall unangenehme Nebenerschei¬ 
nungen erlebt haben. Bei schwereren Herzinsuffizienzen mag es angebracht sein, 
mit dem Salvarsan vorsichtig zu sein, doch glauben wir, daß auch dann ein Ver¬ 
such mit Dosis 2 angebracht ist. 

Kontraindiziert ist die kombinierte spezifische Behandlung in den Fällen, wo 
gleichzeitig schwere Nierenstörungen vorliegen. In solchen Fällen, die prognostisch 
sehr ungünstig sind, muß man sich mit Jod behelfen. Die gewöhnliche Schrumpf¬ 
niere, ohne Niereninsuffizienz ist keine Kontraindikation für eine schonende kom¬ 
binierte Therapie, auch nicht für Neosalvarsan in den genannten Dosen. 

Nitroglyzerin und Nitrite sind zu verordnen in den Fällen, wo Stenokardie 
vorliegt. Gerade in diesen Fällen, wo es darauf ankommt, rasch zu handeln, 
möchten wir das Salvarsan nicht vermissen. 

Das den Aortitiker, besonders im Beginn seines Leidens, am meisten quälende 
Symptom ist dasjenige des Schmerzes. Dasselbe verliert er sehr bald nach Ein¬ 
setzen der kombinierten Behandlung. Leichtere, beginnende Ektasien der Aorten¬ 
wand können zurückgehen. Größere Aneurysmen, können oft deutlich kleiner 
werden, die durch sie bedingten Kompressionserscheinungen können dadurch ganz 
oder teilweise verschwinden. Zum Stillstand, d. h. zun Sklerosierung gebrachte 
Läsionen der Aortenklappen können den, von seinen Schmerzen befreiten Patienten 
oft auffällig wenig stören. Dasselbe gilt auch für kleinere oder sogar große 
Aneurysmen. Bei den luetischen Läsionen der Aorta und der Aortenklappen ist 
eben das Myokard, zum Unterschied von den infektiösen Klappenfehlern, meist 


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Die Syphilis de9 Herzens und der Gefäße (Häufigkeit, Diagnose u. Behandlung). 337 

intakt und dem Plus an Arbeit leicht anpassungsfällig. Und von dem Zustand 
des Herzmuskels hängt schließlich die Prognose eines jeden Klappenfehlers ab. 

Der Aortitiker soll wenig essen, wenig trinken, Alkohol, Tabak und alle 
Gifte meiden, die erfahrungsgemäß die Gefäße schädigen können. Die Diät muß 
eine mehr lakto-vegetabische sein. Es ist angebracht, für Zufuhr von Kalkium 
zu sorgen; speziell während der Prozeß noch als aktiv zu betrachten ist, ist Kalk 
zur Unterstützung des Skleroseprozesses zu verordnen (Goldscheider). 

Sehr wichtig ist, besonders in beginnenden Fällen, die körperliche Schonung 
des Patienten. Körperliche Anstrengung begünstigt die Bildung von Aneurysmen 
im höchsten Maß. Den verderblichen Einfluß der körperlichen Anstrengung auf 
beginnende, bei der Einstellung nicht erkannte luetische Aortitiden haben wir 
des häufigei’en bei Soldaten beobachten können, worauf auch neuerdings A. Hoff- 
roann aufmerksam gemacht hat. So sind u. E. Fälle von sogenannter Lues latens 
mit positiver Wa. R., aber ohne anscheinend objektiv nachweisbare organische 
Veränderungen, bei denen es sich nach unserer Erfahrung sehr häufig um be¬ 
ginnende Aortaprozesse, seltener um beginnende Tabes handelt, unbedingt von 
einem körperlich anstrengenden Militärdienst (Ausbildung!) auszuschließen. 

Kohlensäurebäder, sind bei Aortitikern nicht angebracht; es sind überhaupt 
alle, das Herz zu sehr tonisierende, die Ektasie der Aortenwand und die RuptUF 
eines eventuellen Aneurysmas begünstigenden Prozeduren zu vermeiden. Daher 
auch kein Digitalis, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Je höher sein Blut¬ 
druck ist, desto mehr ist der Aortitiker gefährdet. 

Patienten, die einen luetischen Aortenprozeß durchgemacht haben, sind auch, 
wenn derselbe über das aktive Stadium hinaus ist, dauernd unter ärztlicher Auf¬ 
sicht zu halten. Die Wa. R. ist in regelmäßigen Abständen immer zu wiederholen; 
auch wenn sie negativ bleibt und der Patient sich wohl fühlt, ist dennoch ab 
und zu eine leichte Kur zu verordnen. Gerade in diesen Fällen empfehlen wir 
die kombinierte Jod-Hg-Therapie nach obiger Formel. 

Die Behandlung der luetischen Aortitis ist, falls nach den skizzierten Prin¬ 
zipien durchgeführt, dankbar, viel dankbarer als man im allgemeinen annimmt, 
am dankbarsten, wenn sie möglichst frühzeitig einsetzt. Man kann sagen, daß 
die Prognose der Aortitis luetica zum guten Teil von ihrer frühen Diagnose ab¬ 
hängt. Aber auch . in später zur Behandlung kommenden Fällen erlebt man oft 
ganz unerwartet günstige Resultate. * 

Die Grundsätze bei der spezifischen Behandlung der übrigen luetischen Er¬ 
krankungen des Zirkulationsapparats sind dieselben, wie diejenigen bei der Aortitis. 


Zeir*chr. f. phv*ik. u. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8/1* 


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D. Verdauungs-, Stoffwechsel- und Konstitutions¬ 
krankheiten. 


XVI. 

Die Heilung der habituellen Stuhlträgheit 
durch Trinkkuren in Kurorten. 

Von 

Dr. M. Ehrenreich 

in Bad Kissingen. 

Über die Möglichkeit einer Heilung der habituellen Obstipation durch den 
Gebrauch von Trinkkuren in Kurorten äußern sich die Autoren fast durchwegs 
sehr absprechend. Als Kronzeugen, dessen Urteil sich die späteren Bearbeiter 
dieses Themas im großen und ganzen anschlossen, zitiere ich hier Nothnagel, 
der sich folgendermaßen ausläßt: „Bezüglich der Trinkkuren in Kurorten (Marien¬ 
bad, Karlsbad, Homburg, Kissingen u. v. a.), sei es an den Quellen selbst, sei et 
unter häuslichen Verhältnissen, ist vor allem ein weit verbreiteter Irrtum richtig¬ 
zustellen. Dieselben wirken nämlich nur nach Art eines gewöhnlichen Abführ¬ 
mittels; der Brunnen, jeden Morgen in der entsprechenden Becherzahl getrunken, 
produziert für jeden Tag die Stuhlentleerung, aber weiter geht seine Wirkung 
nicht; er entspricht nur einer symptomatischen Indikation, von einem Heilerfolg, 
einer Beeinflussung des GrunÜzustandes ist keine Rede.“ Und weiterhin: „Die 
Tatsache, daß Patienten mit habitueller Obstipation wälirend ihres Aufenthaltes 
in Kurorten sich wohl fühlen, ist freilich sicher und auch aus. mehreren bekannten 
Gründen erklärlich; und deshalb suchen sie jahrelang ununterbrochen ihren ge¬ 
wohnten Kurort auf. Aber ebenso sicher, wie wir alljährlich an zahlreichsten 
Fällen beobachten können, ist, daß nach beendeter Kur der alte Zustand wieder 
da ist; „„in X. Y. hatte ich täglich regelmässigen Stuhl, vor vier Tagen bin ich 
von dort abgereist, seit zw r ei Tagen habe ich schon wieder keinen Stuhl““, so 
lautet ein nicht seltener Bericht“. 

Trotz diesen ungünstigen Beobachtungen Nothnagels und anderer behaupte 
ich auf Grund ausgedehnter, in Kissingen gewonnener Erfahrung, daß die Heilung 
der habituellen Obstipation durch Trinkkuren nicht nur möglich ist, sondern sogar 
in der weitaus größeren Zahl der Fälle mit Sicherheit herbeigeführt werden kann. 

Der Widerspruch, in dem diese meine Erfahrung zu den Beobachtungen 
vieler erfahrener Spezialisten steht, findet seine Erklärung darin, daß die Art, wie 
ich die Kur gebrauchen lasse, von der herkömmlichen durchaus verschieden ist. 


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Die Heilung der habituellen Stuhlträgheit durch Trinkkuren in Kurorten. 339 


Die übliche Behandlung der habituellen Obstipation in Kurorten besteht 
darin, daß dem Verstopften auf gegeben wird, morgens nüchtern zwei, drei und 
mehr Becher des Brunnens, oft noch verstärkt durch Zusatz von Bitterwasser oder 
Salz, zu trinken und außerdem eine „Obstipationsdiät“ einzuhalten, d. h. eine 
möglichst schlackenreiche, den Darm mechanisch und chemisch reizende Kost mit 
grobem.Brot, Honig, Marmelade, viel Gemüse, Salat und rohem Obst, saurer Milch, 
Kefir usw. 

Es kann nicht fehlen, daß bei diesem Regime der Patient häufige und reich¬ 
liche Entleerungen hat und demgemäß ob seiner „vorzüglichen Verdauung“ hoch¬ 
befriedigt ist, obwohl dabei gerade die Verdauung, das heißt die Aufschließung 
und Aufsaugung der zugeführten Nahrung, eine besonders schlechte ist. Es kann 
aber auch nicht ausbleiben, daß er nach beendeter Kur, wenn dem Darm die 
gewohnten Anregungs- und Abführmittel der Obstipationsdiät und des Mineral¬ 
wassers entzogen sind, wieder ebenso verstopft ist oder gar noch mehr als vor 
Gebrauch der Kur. 

Nachdem ich diese Erfahrung in den ersten Jahren meiner Kissinger Tätig¬ 
keit des öfteren gemacht hatte, verließ ich diese Behandlungsweise vollständig 
zugunsten der weiter unten zu schildernden, zu der ich auf Grund von Erwägungen 
gelangte, die hier kurz dargelegt seien. 

Bei nahezu sämtlichen Fällen von habitueller Obstipation, d. h. von nicht 
durch handgreifliche anatomische Veränderungen (wie Kazinom, Narbenstriktur, 
Verwachsungen, Gebärmutterverlagerungen u. dgl.), oder durch chronische Intoxi¬ 
kation oder Nerven- und Geisteskrankheiten verursachter eingewurzelter Stuhl¬ 
trägheit, kann man durch genaue Ermittelung der Vorgeschichte sich überzeugen, 
daß hauptsächlich zwei Momente die Ursache für ihre Entstehung abgaben, und 
zwar erstens die wiederholte willkürliche Unterdrückung des natürlichen Stuhl¬ 
dranges und zweitens die mangelnde Erziehung des Darmes zur Ausstoßung seines 
Inhaltes zu eiilbr bestimmten Zeit. Das erstere Moment tritt oft schon in der 
frühesten Jugend durch Verschulden von Eltern und Erziehern ein, die aus Un¬ 
kenntnis oder Gleichgültigkeit die Kinder in diesem Punkte falsch erziehen. Häufiger 
kommt es mit dem Eintritt in Schule und Berufsleben zur Geltung und ist dann 
oftmals ganz unvermeidlich. Veränderungen der gewohnten Lebensweise, vorüber¬ 
gehende Krankheiten, Reisen u. dgl. sind Umstände, die sein Eintreten nicht selten 
unterstützen. Je häufiger nun der natürliche Stuhldrang unterdrückt wird, desto 
größer wird die Gefahr, daß der Darm seine vergeblichen Mahnungen überhaupt 
für längere Zeit einstellt und damit die Etablierung der chronischen Stuhl¬ 
verstopfung einleitet, die dann um so tiefere Wurzeln schlägt, je länger sie besteht, 
und je mehr der Darm durch den gedankenlosen Gebrauch von Abführmitteln davon 
entwöhnt wird, aus eigenem Antrieb seine ausstoßenden Funktionen zu erfüllen. 
Eine auf diese Weise entstandene habituelle Obstipation kann man recht eigentlich 
als eine Kulturkrankheit bezeichnen, denn es liegt in unseren Kulturverhältnissen 
begründet, daß wir es uns oft versagen müssen, den zu unpassender Zeit auf¬ 
tretenden Drang, zu Stuhl zu gehen, sofort zu befriedigen. Daraus folgt jedoch 
durchaus nicht, daß sie ein notwendiges Kulturübel sei. Sie wäre, im Gegenteil, 
durchaus vermeidlich, wenn allen Kulturmenschen die physiologische Tatsache 
bekannt wäre, daß man seinen Darm dazu erziehen kann, seinen Inhalt täglich 

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340 


M. Ebrenreich 


zu einem bestimmten Zeitpunkt, den man sich durchaus beliebig wählen kann, 
abzugeben. Diese Erziehbarkeit des Dickdarms macht den, der sie kennt, in 
weitestem Umfang unabhängig von der sofortigen Befriedigung auftretenden Stuhl¬ 
drangs. Wer sie jedoch nicht kennt, ist nicht in der Lage, dessen oft unvermeid¬ 
liche Unterdrückung durch entsprechende Erziehung seines Darmes auszugleichen 
und dadurch der Entstehung einer habituellen Obstipation vorzubeugen. • 

Ist die Stuhlträgheit erst einmal eingewurzelt, so kann sie verschiedene 
Formen annehmen und auch durch die Verfassung anderer Organe in ungünstigem 
Sinne beeinflußt werden. Die Einteilung in atonische und spastische Formen, die 
Fl ein er zuerst angegeben hat, hat sich in der Praxis am besten bewährt und 
muß bei der Behandlung stets berücksichtigt werden. Weitgehende Berücksichtigung 
erfordern ferner auch Veränderungen anderer Organe, insbesondere Störungen 
der Magensekretion und Motilität, wobei es bezüglich des Effektes ganz gleich¬ 
gültig bleibt, ob man diese Störungen als primär oder sekundär auffaßt. Am 
wenigsten darf man bei der Behandlung die psychischen Veränderungen ausser 
acht lassen, die bei länger dauernden Stuhlverstopfungen nie fehlen, und sich 
hauptsächlich in der Art äußern, daß sich bei dem damit Behafteten die Vor¬ 
stellung, er könne ohne die Hilfe von Abführmitteln überhaupt nicht mehr zu 
Stuhle gehen, in krankhafter Weise festsetzt. 

Geht man von den eben dargelegten Gesichtspunkten aus, so muß das Ziel 
einer rationellen Behandlung der habituellen Obstipation sein, zunächst den Dann 
wieder für die physiologischen Entleerungsimpulse empfänglich zu machen und ihn 
hernach zu geregelter Entleerung zu erziehen. Es ist klar, daß durch Ver¬ 
abreichung von Abführmitteln ein solcher Erfolg nicht zu erreichen ist, denn das 
Abführmittel setzt einen Reiz, der von einer Erschlaffung gefolgt wird, wodurch 
der träge Darm noch träger gemacht wird, so daß man für die Folge zu immer 
stärkeren Reizen greifen muß, sei es durch Vergrößerung der Dosis, sei es durch 
Anwendung stärker wirkender Mittel. Wenn man daher im Badeort einen bisher 
mit Abführmitteln mißhandelten Darm mit großen Dosen des Mineralwassers und 
außerdem durch eine, den Darm mechanisch und chemisch reizende Kost zur Tätig¬ 
keit „anregt“, so bedeutet dies nichts anderes als eine geradlinige Fortsetzung 
der bisherigen Behandlung durch Steigerung der den Darm reizenden Mittel und 
der Enderfolg kann daher auch kein anderer sein, als der durch diese Mittel 
erzielbare. Will man den Darm der inadäquaten Reize entwöhnen und wieder für 
adäquate empfänglich machen, so muß man also anders Vorgehen. Man muß ihm 
zunächst Ruhe lassen, damit er sich wieder auf sich selbst besinnen kann, und 
die notwendige Entleerung mit einem Minimum des Mineralwassers herbeizuführen 
suchen. 

Diese Erwägungen erheben keinen Anspruch darauf, neu zu sein, sind viel¬ 
mehr in anderen Zusammenhängen in der Literatur oft erörtert worden. Ins¬ 
besondere hat Ehrmann aus Goldscheiders Klinik vielfach ähnliche und aus¬ 
führlich begründete Ansichten zu diesem Thema in dieser Zeitschrift mitgeteilt, 
und auch eine vom Kurorte unabhängige Behandlungsmethode mitgeteilt, der ich 
mehrere Anregungen beim Ausbau meines Kurverfahrens entnommen habe, 
f* Im einzelnen gestaltete sich mir dieses im Laufe der Jahre bei unkompli¬ 
zierten Fällen habitueller Verstopfung folgendermaßen: 


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Die Heilung der habituellen Stuhlträgheit durch Trinkkuren in Kurorten. 


341 


■ Dem Patienten wird aufgegeben, morgens nüchtern die notwendige Menge 
Rakoczy zu trinken. Nur in den allerseltensten Fällen überschreite ich die Dosis 
von 600 Gramm, ziehe es vielmehr vor, bei ungenügender Wirkung für den Anfang 
kleine Mengen Bitterwassers, höchstens 50 bis 100 Gramm, dem Brunnen zusetzen 
zu lassen, die jedoch möglichst bald wieder allmählich fortgelassen werden. In 
dieser kleinen Dosis und so stark verdünnt wirkt das Bitterwasser nicht reizend. 
Unter bewußtem Verzicht auf die peristaltikanregende Wirkung der Kälte und 
der Kohlensäure, empfehle ich in den meisten Fällen, das Wasser warm und ent¬ 
gast zu trinken. Ob es unter Spazierengehen am Brunnen oder im Bett getrunken 
wird, ist nach meiner Erfahrung durchaus gleichgültig, sofern es nur morgens 
frisch vom Brunnen geholt wird. Bei Atomkern und Enteroptotikern ist das 
Trinken im Bett entschieden angezeigt. Die althergebrachte Verordnung, das 
Wasser langsam und in kleinen Schlücken zu trinken, ist wohl berechtigt, weil 
dadurch seine Verweilzeit im Magen abgekürzt wird. 

Ich versäume es nicht, intelligente Patienten dahin zu unterweisen, daß es 
darauf ankomme, das Mindestquantum an Mineralwasser herauszufinden, das bei 
dem Betreffenden eine einmalige Stuhlentleerung herbeiführt, und daß dazu seine 
Mitwirkung erwünscht sei, daß er sich jedoch keinerlei Gedanken darüber zu 
machen brauche, ob ihm die Entleerung nach Form und Menge genügend erscheine. 

Der zweite und wichtigere Teil der Kurverordnung ist die Regelung der 
Diät. Sie ist bei meiner Verordnung das Gegenteil einer „Obstipationsdiät“. Ent¬ 
sprechend den oben dargelegten Gesichtspunkten erlaube ich nur gekochte, leicht 
verdauliche und breiweiche Speisen, und verbiete alle jene, welche den Darm 
mechanisch oder chemisch stärker reizen. Das Schema für unkomplizierte Fälle 
ist ungefähr folgendes: Morgens: Tee oder Kaffee mit Milch, Weißbrot oder Zwie¬ 
back, Butter, weiche Eier. Mittags: Legierte Suppe oder Fleischbrühe ohne 
Gemüseeinlagen. Zartes Fleisch und Fisch, gekocht oder gebraten, weichen Reis, 
Grieß, Sago, Kartoffelbrei. Gemüse und Konipot wenig und nur in Püreeform 
oder so weich, daß es auf dem Teller zu Brei zerdrückt werden kann. Ferner 
weiche Käsearten. Als Nachspeisen: Bisquittorten imd Aufläufe von Reis, Grieß usw. 
Als Getränke: Leichten Weißwein mit Wasser oder ein geeignetes Tischwasser. 

Das Schema gilt, wie gesagt, nur für ganz unkomplizierte Fälle. Hat man, 
wie dies in Badeorten nicht selten ist, außer der Stuhlträgheit noch andere Er¬ 
krankungen mitzubehandeln, so müssen diese natürlich bei der Regelung der Diät 
mitberücksichtigt werden. Es macht keine Schwierigkeiten, im Rahmen dieses 
Schemas die erforderlichen Modifikationen für Entfettungs- oder Mastkuren, Mit¬ 
behandlung von Adernverkalkung, Gicht, Magenkrankheiten usw. eintreten zu 
lassen. Hier ist eben der Punkt, wo die individualisierende ärztliche Behandlung 
einzusetzen hat, nur daß dabei der leitende Gesichtspunkt bleiben muß, daß nur 
leichtverdauliche Speisen in weichster Form zu gestatten sind. 

Bei Verordnung dieser Diät äußern die Patienten nicht selten ilu - Erstaunen, 
daß sie so ganz entgegengesetzt den Vorschriften sei, die sie von früher be¬ 
handelnden Ärzten und berühmten Spezialisten erhalten hätten. Eine ent¬ 
sprechende Aufklärung, daß die angeordnete Änderung eine vorübergehende und 
durch die besonderen Erfordernisse der Trinkkur bedingte sei, ist hier am Platze. 
Auch empfiehlt es sich, sie darauf vorzubereiten, daß sie bei diesem Regime weder 


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342 Ehrenreich, Die Heilung der habituellen Stuhlträgheit durch Trinkkuren in Kurorten. 


besonders häufige, noch reichliche Entleerungen haben werden, und daß dies im 
Plane der Kur gelegen sei. 

Ich belasse es bei dieser Kurvorschrift je nach der zur Verfügung stehenden 
Zeit 2 bis 3 Wochen. Alsdann lasse ich eine einschneidende Änderung vornehmen. 
Die Trinkkur wird jäh unterbrochen; dies hat sich mir besser bewährt als ein 
allmähliches Herabgehen mit der Dosis. Eine ebenso gründliche Umänderung 
erfährt die Diät. Nunmehr kommt die von Boas herrührende „Obstipationsdiät“ 
zu ihrem Rechte, die jetzt an Stelle der bisherigen Schonungsdiät für einige Zeit 
verordnet wird. Damit ist die Kur an ihrem kritischen Punkt angelangt. Der 
Patient muß zunächst die Gewißheit erhalten, daß sein Da^m nunmehr so weit 
wieder hergestellt ist, daß er keiner Abführmittel mehr bedarf, jedoch kann zu 
diesem Zeitpunkt meist noch nicht ganz auf einige Hilfsmaßnahmen verzichtet 
werden, die gleichzeitig mit dem Aussetzen der Trinkkur oder schon einige Tage 
vorher Platz zu greifen haben. Sie sind verschieden, je nach Art der vorliegenden 
Komplikation der Verstopfung. Bei Atonie ist es Massage des Dickdarms, bei 
Spasmen die Verordnung von Belladonna mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß es 
sich hierbei nicht um ein Abführmittel handle, bei Übersäuerung des Magens wird 
man morgens etwas Alkali nehmen lassen, bei schlaffen Bauchdecken wird man 
zu gymnastischen Übungen greifen u. s. f., vor allem aber darf man eine ent¬ 
sprechende psychische Beeinflussung nicht vergessen. 

Der Erfolg ist fast immer ein prompter. Meist nach 1 bis 2 bis 3 Tagen 
kommt der Patient seinen Erfolg zu melden. Mehrmals sah ich Frauen, die seit 
Jahrzehnten nicht mehr ohne Abführmittel leben zu können vermeinten, vor Rührung 
ob der gelungenen Kur Tränen vergießen. 

Ist man erst bis zu diesem Punkte gelangt, so hat man gewonnenes Spiel, 
wenn auch die Behandlung damit noch lange nicht abgeschlossen ist. Es kommt 
vielmehr jetzt noch darauf an, den Patienten wieder von der „Obstipationsdiät“, 
die jetzt ihre Schuldigkeit getan hat, und den, während der Übergangszeit be¬ 
nützten, oben erwähnten Hilfsmaßnahmen, insbesondere der Belladonna, zu ent¬ 
wöhnen, was, wenn es allmählich geschieht, keine Schwierigkeiten macht, und 
schließlich muß er noch lernen, wie er seinen Darm auf eine bestimmte Entleerungs¬ 
zeit zu dressieren hat. Dabei wäre es fehlerhaft, ihm hierfür die Zeit morgens nach 
dem Auf stehen zu empfehlen, weil der Darm der meisten Menschen morgens ruht, 
und sie außerdem nach dem Aufstehen sich oft nicht die genügende Zeit nehmen 
können. Die günstigste Zeit ist nach einer der Hauptmahlzeiten, und zwar nach 
derjenigen, nach welcher der Betreffende genügende Muße für diesen wichtigen 
Akt hat. Der Kurarzt kann für die Nachbehandlung, die mehrere Wochen in 
Anspruch nimmt, meist nur allgemeine Direktiven geben und muß das übrige dem 
Hausarzt überlassen. Aber nie entlasse ich einen derartigen Patienten ohne die 
Mahnung: „Nehmen Sie nie wieder ein Abführmittel ein! Bei jedem Menschen 
kann es einmal zu vorübergehenden Störungen der Darmentleerung kommen. 
Greifen Sie in einem solchen Falle lieber einmal vorübergehend zu einem Einlauf, 
und sehen Sie zu, daß Ihr Darm am folgenden Tag wieder von selbst seine 
Schuldigkeit tut!“ 

Seit 10 Jahren übe ich diese Methode der Behandlung der eingewurzelten 
Stuhlträgheit und bin gut mit ihr gefahren. Mißerfolge kommen natürlich 



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R. Ehrtnann, Über Akromegaloidismus und zur Theorie der inneren Sekretion. 343 


gelegentlich auch vor, besonders bei schwerer Hysterie. Im allgemeinen sind sie 
jedoch so außerordentlich selten, daß in jedem Falle, bei dem diese Kur versagt, 
der Verdacht gerechtfertigt ist, zu dem nach Boas sonst erst das Versagen der 
stärksten Abführmittel berechtigt, daß es sich nämlich dann nicht um eine 
habituelle, sondern um eine, durch anatomische Hindernisse verursachte chronische 
Verstopfung handle. Nicht wenige der Patienten blieben dauernd geheilt, manche 
wurden nach Monaten oder Jahren rückfällig, und kamen dann die Kur zu wieder¬ 
holen. Nach der Ursache ihrer Rückfälligkeit befragt, gaben sie meist selbst an, 
daß diese einzig in ihrer wieder eingerissenen Nachlässigkeit gelegen sei. „Ich 
dachte, in 1 bis 2 Monaten komme ich ja ohnehin wieder nach Kissingen, und 
da kommt es jetzt nicht mehr so genau darauf an“, lautet die scherzhafte Erklärung, 
die man von solchen Patienten nicht ganz selten hört. 


XVIL 

Ober Akromegaloidismus und zur Theorie der inneren Sekretion. 

Von 


Professor Dr. R. Ehrmann, 

Direktor der inneren Abteilung deB städtischen Krankenhauses Neukölln. 

Nachdem das Krankheitsbild der Akromegalie und seine Beziehung zur Hypo¬ 
physe von Pierre Marie entdeckt worden w T ar, ist durch die Untersuchungen von 
v. Hansemann, Benda, B. Fischer und anderen mikroskopisch eine Steigerung 
der spezifischen Sekretion des Vorderlappens nachgewiesen w r orden, die ihren Grund 
in adenomatösen Wucherungen dieses Teils der Hypophyse hat. Wir haben nun 
eine Reihe von Patienten beobachtet, bei denen die der Akromegalie eigen¬ 
tümlichen Veränderungen in geringem Maße oder angedeutet vorhanden w r aren. Im 
Gegensatz zur Akromegalie, die mit der Bildung der genannten Adenome sich bei 
den Patienten eines Tages entwickelt, sind die Abweichungen bei unseren Pa¬ 
tienten von vornherein vorhanden gewesen und ihnen nicht zum Bewußtsein ge¬ 
kommen. Aus den beigefügten Photographien, sowie den Röntgenogrammen der 
Hände und der Sella turcica ergibt sich, daß hier Änderungen vorliegen, die für eine 
vermehrte Sekretion der Hypophyse sprechen, und nach den Aufnahmen der 
Schädel scheint bei einem Teil unserer Patienten auch eine geringe Vergrößerung 
der in der Sella turcica liegenden Hypophyse vorhanden zu sein. Ein sicherer Nach¬ 
weis durch die Obduktion W'ar allerdings bisher noch nicht möglich. Trotzdem 
möchte ich annehmen, daß eine vermehrte sekretorische Tätigkeit des Vorderlappens 
der Hypophyse hier vorliegt. Bei einem Teil der Patienten haben w’ir rheumatoide Be¬ 
schwerden wahrgenommen, bei anderen bestanden neben der eigenartigen Veränderung 


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Eliritifuu:, (lief Akr>*»ii(-i'aJiii«J.iü!i)Vf5 und zur Theorie der inneren Svkrehu 


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, vliji , dev müssen leider wegen 4bb ° 

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iiiiüg mul 4 sind von einem Fall vdn echte»' Akromegalie zum Aei-gleich.> 
Im mm hieran- itnii ltft» i»,-h noch einige Wort« über die innere Sekretion 
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auf die Mebeitüiwu beziehen. Ks ist anitaHend, daß man sowohl bei der 

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H. Gerhartz, über die Beziehungen zwischen Wasser- und Kochsalzretention usw. 345 


auch ihrer Herkunft nach ganz verschieden zu bewerten sind. Trotzdem glaube 
ich, daß der Gegensatz zwischen Vorder- und Hinterlappen bei der Hypophyse und 
zwischen Rinde und Mark bei den Nebennieren sich erklären und vor allem auch gut 
mit der großen Bedeutung der Pathologie des Vorderlappens bzw. der Rinde in Ein¬ 
klang bringen läßt. Es ist gar nicht so auffüllig, wenn man wirksame Substanzen 
aus Vorderlappen bzw. Rinde nicht gewinnen kann, und trotzdem hier, wofür auch 
das mikroskopische Bild spricht, den eigentlichen Ort der Bildung der hochwirk¬ 
samen Substanzen annimmt, die man aus Hinterlappen bzw. Mark extrahieren kann. 
Denn es ist höchst wahrscheinlich, daß an ersteren Orten so starke fermentative 
Kräfte am Werke sind, oder daß bei der Produktion so stark wirksame Neben¬ 
produkte entstehen, die eine schnelle Zerstörung der wirksamen Substanzen am 
Orte ihrer Bildung vornehmen würden. Aus diesem Grunde ist es sehr wahr¬ 
scheinlich, daß das produzierte Sekret, um nicht zerstört zu werden, sofort in 
den benachbarten Hinterlappen bzw. in das benachbarte Mark abfließen muß, wo 
es sich speichern kann. Hier ist es offenbar vor den Schäden einer weiteren 
Einwirkung gesichert und es ist daher nicht wunderbar, wenn man aus diesen 
Teilen, quasi wie aus einem Speicher, durch Extraktion das wirksame innere 
Sekret gewinnen kann, dessen Herstellung nach den mikroskopischen Befunden 
wohl im Vorderlappen und in der Rinde gesucht werden muß. 


XVIII. 

Ober die Beziehungen zwischen Wasser- und Kochsalzretention. 
Zur Theorie der Ödembildung durch Salzzufuhr. 

Von 

Prof. Dr. med. et phil. H. Gerhartz 

in Bonn (Mediz. Klinik). 

Der ursächliche Zusammenhang zwischen Wasseranreicherung und Ödem¬ 
bildung einerseits und der Zurückhaltung von Natriumverbindungen, hauptsächlich 
Kochsalz, andererseits, ist seit den Arbeiten von H. Strauß, Widal und Javal, 
Achard (1902 bis 1903) nicht mehr aus der Diskussion über die Entstehung der 
Ödeme geschwunden. Während die Beobachtungen der genannten und anderer 
Autoren unzweifelhaft den nach den osmotischen Gesetzen zu erwartenden Parallel- 
ismus zwischen Kochsalzretention und Wasserbindung bzw. Ödementstehung für 
gewisse Fälle von Nierenentzündung dargetan haben, sind auch Mitteilungen 
erschienen, die über Kranke berichten, bei denen eine konstante parallele Beziehung 
zwischen Kochsalzzurückhaltung und Ansammlung von Wasser im Unterhautzell¬ 
gewebe vermißt wurde. 1 ) Es wurde dafür vermutet, daß eine Divergenz im Aus- 

') L. Mohr, Über das Ausscheidungsvermögen der kranken Niere. Ztschr, f. kl. Med., 
Bd. 51, S. 331—348. 1904. — R. Claus, M. Plaut, F. Reach, Studien zur Path. u. Ther. der 


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34G 


H. Gerhartz 


scheidungsvermögen für Kochsalz und Wasser in der Niere bestehe 1 ). Überhaupt 
wurden, da das Augenmerk nur auf Nephritiker gerichtet war, die noch unklaren 
Verhältnisse mit dem kranken Zustande der Niere in ursächlichen Zusammenhang 
gebracht. Ferner wurde, um die Wirkung des angereicherten Kochsalzes zu 
erklären, noch auf toxische Einflüsse,*Gefäßschädigungen zurückgegriffen 2 ). Blum 3 ) 
fand dann aber, was ich selbst bei einem einjährigen Kind bestätigt gefunden 
habe, daß auch bei Abwesenheit irgendwelcher Zeichen einer Erkrankung der 
Nieren Natrium bicarbonicum bei Zuckererkrankung imstande ist, Ödembildung 
zu bewirken. 

Aus Versuchen von T ach au 4 ) an gesunden Mäusen ergab sich weiter, daß 
es nicht angängig ist, Ödembildung und Wasseranreicherung im Körper für diese 
Betrachtungen zu identifizieren, da Ödembildung ohne Änderung des Wasserbestandes 
des Organismus Vorkommen kann; ferner aber, daß bei Tieren, die große Mengen 
Kochsalz erhalten haben, der Wassergehalt des gesamten Körpers gegenüber 
Normaltieren nicht vergrößert zu sein braucht. 

«Es dürfte für das Verständnis der Parallelität vön Wasser- und Natrium¬ 
kation-Retention am wertvollsten sein, wenn nachgewiesen werden kann, daß ein 
Kausalkonnex der beiden Stoffe unter physiologischen Bedingungen bereits 
besteht, und daß dieser mit einer Erkrankung der Nieren, der Gefäße oder anderer 
Gewebe an und für sich nichts zu tun hat. 

Ein 12 kg schwerer, 2 Jahre alter, weiblicher Pudel 5 ) wurde zur Unter¬ 
suchung der unter der Einwirkung von Muskelarbeit zu erwartenden Änderungen 
im Wassergehalt des Körpers angehalten, täglich 6000 Touren (1 Tour = Weg 
von 65 cm) auf einer 28,52 % zur Ebene geneigten Tretbahn, d. i. 3920 m Hori¬ 
zontalweg und 11,19 m Steigung, zu leisten. Harn und Kot wurden täglich genau 
gemessen und ’die Aschenbestandteile aus Harn und Kot der ganzen Periode 
untersucht. 

Zur Bestimmung der Alkalien wurden zunächst Schwefelsäure, Magnesia. 
Phosphorsäure und die Erdmetallphosphate durch Barytwasser (unter Zusatz von 
Eisenchlorid) entfernt, die Reste der Salze der Alkalierden mit Ammonium¬ 
karbonat beseitigt. Es wurde dann die Lösung der Kalium- und Natriumchloride 
mehrmals abgedampft und von den Ammonsalzen befreit. Das Kalium wurde als 
Kaliumplatinchlorid aus dem gewogenen Chloridgemisch abgeschieden und gewogen. 


Nephritis, Med. Klin., Jg. 1, S. 646— 649. 1905. — I. W. Biooker, Über den Einfluß der Koch¬ 
salzzufuhr auf die nephritischen Ödeme. Arch. f. klin. Med., Bd. 96, S. 80—104. 1909. — Ferner 
Richter, Magnus, Heineke u. A. 

*) Mari schier, Über den Einfluß des Chloraatrium auf die Ausscheidung der kranken 
Niere. Arch. f. Verd., Bd. 7, H. 332. 1901. 

a ) Schlayer, Hedinger und Takayasu, Über nephritisches ödem. D. Arch. f. kl. Med., 
Bd. 91. 1907. — A. Bittorf, Zur Pathologie des Wasser- und Salzstoffwecbsels. D. Arch. f. 
kl. Med., Bd. 94, S. 84—109. 1908. 

3 ) L. Blum, Über die Rolle von Salzen bei Entstehung von Ödemen. Verh. des 26. Kongr. 
f. inn. Med. 1909. S. 122-126. 

4 ) P. Tachau, Versuche über einseitige Ernährung. 2. Wasserverteilung und Ödembildung 
bei Salzzufuhr. Bioch. Z., Bd. 67, S. 338—349. 1914. 

5 ) P. v. Monakow, Untersuchungen über die Funktion der Niere unter gesunden und 
krankhaften Verhältnissen. D. Arch. f. klin. Med., Bd. 123, S. 30 ff. 1917. 


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Über die Beziehungen zwischen Wasser- und Kochsalzretention usw. 


347 


Es wurde in der 15 tägigen Arbeitsperiode im Mittel pro Tag erhalten: 

Ausfuhr: im Harn 0,53 g Na. 2 0 
» Kot 0,02 „ „ 

Insgesamt 0,55 g Na 2 0 

In einer folgenden 10 tägigen Ruheperiode wurde erhalten: 

mittlere tägliche Ausfuhr: im Harn 0,47 g Na 2 0 

„ Kot 0,02 „ „ 

Zusammen 0,49 g Na 2 0 

Es wurde also vom arbeitenden Tier 0,55 g Na 2 0 (Arbeit) 

0,49 „ Na 2 Q (Ruhe) 

0,06 g Na 2 0 mehr verloren, ferner 
aber auch pro Tag 116 g Wasser mehr abgegeben. Hierbei kann es sich nur um 
eine Abgabe von Wasser in den zirkulierenden Flüssigkeiten handeln, da die noch 
in Betracht kommende Muskulatur nachweislich zunahm. Daraus geht also hervor, 
daß bereits unter physiologischen Verhältnissen Natrium und Wasser sich parallel 
verschieben, und zwar deshalb, weil sie in den natriumhaltigen zirkulierenden 
Körperflüssigkeiten, in Blut und Lymphe, zusammen retiniert oder verloren werden. 
Ist dem aber so, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß eine Behinderung der 
Ausscheidung von Kochsalz zur Wasserretention führen, eine verminderte Wasser¬ 
abgabe zur Kochsalzzurückhaltung Anlaß geben wird; d. h. eine enge und direkte 
Beziehung zwischen der Aufnahme von Na CI und Wasser und der Abgabe von 
Kochsalz und Wasser, die von einigen Autoren in Zweifel gezogen wird, ist sicher. 
Ich kann daher die Angabe von Magnus, daß nur nach Ausschaltung der Nieren, 
und deshalb nur auf dem Umwege über eine Schädigung der Gefäße, nicht beim 
gesunden Tier, enge Beziehungen zwischen Kochsalz- und Wasseransammlung sich 
einstellten, nicht als beweiskräftigen Einwand gegen die Lehre von den „Kochsalz¬ 
ödemen“ ansehen. Wenn der klinische Streit dahin geht, ob bei renalen Ödemen 
die renale Kochsalzretention das Primäre ist (Widal, Strauß u. A.) oder die 
Ödeme die Kochsalzansammlung zur Folge haben, so muß man sagen, daß beides 
möglich ist und zur Erklärung genügen kann und zwar auch ohne Zuhilfenahme 
pathologischer Faktoren. Nicht entschieden ist damit, was klinisch das Vorliegende 
bei den renalen Ödemen ist. 

Daß bei einer Reihe von Nierenkranken eine primäre Behinderung der Koch¬ 
salzausfuhr vorliegt, scheint mir nach den Beobachtungen v. Monakows 1 ) äußerst 
wahrscheinlich. 

') H. Gerhartz, Untersuchungen Uber den Einfluß der Muskelarbeit auf die Organe des 
tierischen Organismus, insbesondere ihren Wassergehalt. Pflüg. Arch., Bd. 133, S. 413. 1910. 


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348 


Emst Steinitz 


XIX. 

Ober den Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf den 
Harnsäuregehalt des Blutes und die Verwertung der 
Beobachtungen für die Gichttherapie. 

Aus dem poliklinischen Institut für innere Medizin der Universität Berlin. 

(Geheimrat Prof. Goldscheider.) 

Von 

Dr. Ernst Steinitz, 

Assistent des Instituts, z. Z. Stabsarzt d. Res. 

Der Erfolg einer Gichttherapie ist, soweit es sich nicht um die Behandlung 
des akuten Anfalles handelt, schwer zu beurteilen. — Aufschluß über die Wirkung 
allein in der Beobachtung der Harnsäureausscheidung durch den Urin zu suchen, 
muß als ziemlich aussichtslos gelten; denn selbst, wo eine starke Harnsäureflut 
sich einstellt, kann vermehrte Produktion die Ursache sein, wie dies z. B. für die 
Harnsäureflut nach Atophan von manchen Seiten vermutet worden ist. 

Mehr Aufschluß verspricht die Untersuchung des Blutes. Von jeher richtete 
die Gichttherapie ja ihr Bestreben darauf, den Organismus nach Möglichkeit von 
Harnsäure zu befreien, und als bester erreichbarer Indikator dafür muß der Harn¬ 
säuregehalt des Blutes gelten. . Es hat daher seine Berechtigung, in ihm einen 
Gradmesser auch für den therapeutischen Erfolg zu suchen, und es ist von Interesse, 
sein Verhalten unter den verschiedenen therapeutischen Maßnahmen zu verfolgen. 
Der wirkliche Wert auch dieses Anhaltspunktes wird sich freilich erst nach 
umfassenderen Erfahrungen darüber ergeben, mit welcher Regelmäßigkeit 
Senkung des Blutharnsäurespiegels und Besserung des Leidens Hand in Hand gehen. 

Untersuchungen über die Blutharnsäure mit zuverlässigen Ergebnissen und 
in größerem Umfange sind erst möglich geworden durch neuere Methoden, die 
kurz vor dem Kriege Eingang gefunden haben. 

Die kolorimetrische Methode von Folin und Denis ist mit einigen Verbesserungen 
ziemlich gleichzeitig in der Friedrichschen Klinik in Mönchen nnd in der unseren 
angewandt worden und hat in beiden Untersuchungsreihen gut übereinstimmende Re¬ 
sultate ergeben. Leider int durch den Krieg die Fortführung der Untersuchungen bei 
uns unterbrochen worden. Die Methode ist aber auch später von Landmann und Höst 
mit gutem Erfolg und den früheren entsprechenden Resultaten verwendet worden. — 
Wichtig an der neuen Methode ist die Möglichkeit, den Harnsäuregehalt mit geringen 
Blutmengen (10 ccm) zu bestimmen. Das erst hat häufige Untersuchungen bei ein und 
derselben Person ermöglicht. Wir haben bis zu drei an einem Tage und innerhalb 
einiger Monate bis weit über zehn an einem Patienten vorgenommen. 


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übei- den Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf den Harosäuregebalt des Blutes usw. 349 


Unsere Beobachtungen über die Einwirkung therapeutischer Maßnahmen sind 
durchaus noch nicht abgeschlossen und bedürfen noch sehr der weiteren Ergänzung 
und Sicherung der Ergebnisse. Die Unterbrechung, die der Krieg für absehbare 
Zeit in unsere Arbeit gebracht hat, läßt aber eine vorläufige Zusammenstellung 
und Verwertung der Resultate erlaubt erscheinen. 

Als Grundlage der Gichtbehandlung dürfen die diätetischen Maßnahmen 
gelten. Wir sahen bei reiner Milchdiät erhebliche Senkung des Blutharnsäure¬ 
spiegels in kurzer Zeit. Für längere Zeit wird man sich aber zu solcher Diät 
wegen der Schädigung der Ernährung nicht leicht entschließen. — Nach purinfreier 
Diät war innerhalb kürzerer Zeit stets nur eine mäßige Wirkung, manchmal gar 
keine festzustellen. 1 ) Dem entsprechen auch Erfahrungen an Gesunden, bei denen 
die Unterschiede des Blutharnsäuregehalts bei purinfreier und bei beliebiger Diät 
zw’ar meist deutlich, aber nicht so erheblich sind, wie man nach früheren Vor¬ 
stellungen erwartete. Bei einigen Kranken, die purinfreie Diät monatelang ge¬ 
wissenhaft fortsetzten, sank der Harnsäuregehalt aber doch mit der Zeit deutlich 
ab (Tabelle l) 2 ). Das Befinden w r ar dabei durchschnittlich gut, Anfälle traten nicht 
auf. Wichtig für die Einschätzung derartiger Erfolge ist es, sich gegenwärtig zu 
halten, daß zur Erzielung eines wesentlichen Heilerfolges unter Umständen schon 
eine mäßige Herabsetzung des Harnsäurespiegels ausreichen kann, wenn sie den¬ 
selben gerade unter das für den betr. Patienten gefährliche Niveau senkt. Solche 
Versuche mit monatelang eingehaltener Diät w r aren natürlich nur ausnahmsweise 
durchführbar 3 ). — Sehr interessant wäre es, den Einfluß der Kriegsernährung mit 
ihrer erzwungenermaßen knappen und fleischarmen Kost an Kranken und Gesunden 
festzustellen. Leider war mir dieses durch dauernde Abwesenheit von meiner 
Arbeitsstätte i^nöglich 4 ). 


Tabelle I. 

21. Gicht, Paral. agitans. Therapie: Diät. 


mg Harnsäure 
in 100 g Blut 

Purinfrei seit 4 Tagen . . ,. 4,9 

» . - 12 „ .^ . 5,7 

, ,40. 5,9 

„ ,3 Monaten. 5,5 

- ,6 3,5 


Bemerkenswert ist ein unbeabsichtigtes Experiment eines Patienten, bei dem 
unter Diät und Radium Harnsäuregehalt und Befinden sich gebessert hatten, der 
aber plötzlich die Diät aufgab und sich mehrfach starke alkoholische Exzesse 


') Kleine Schwankungen kommen beim Gichtiker auch ohne ersichtliche Ursache vor. 

*) Leider mußten die der Arbeit beigegebenen Kurven, die ein übersichtliches Bild gaben, 
mit Rücksicht auf die Kriegsverhältnisse durch Tabellen ersetzt werden. 

s ) Tabelle 1 stammt von einem Patienten, der auf Fletsch keinen Werte legte und auch für 
die anderen diätetischen Einschränkungen gutes Verständnis hatte. 

4 ) Die Kriegsernäbrung kann zwar nicht ohne weiteres als Gichtdiät gelten, da die purin¬ 
haltigen Gemüse, z. B. Spinat und Hfllsenfrüchte, eine große Rolle in ihr spielen, aber doch 
wäre die Kenntnis ihrer Wirkung, wegen der eine lange Zeit fortgesetzten eingeschränkten Diät 
von großem Interesse. 


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350 


Ernst Steinitz 


erlaubte: nach einem Monat war die Blutharnsäure weit über das zu Beginn der 
Beobachtung vorhandene Maß gestiegen und eine Woche nach dieser Feststellung 
bekam er einen Gichtanfall. Auf diese Verwarnung hin ließ der Patient wieder vom 
Alkohol und die Harnsäure sank innerhalb einiger Wochen auf den vorherigen 
Wert (s. zweite Hälfte der Tabelle 7). 

Tabelle II. 

17. Gicht. Therapie: Diät, Durchspülung. 


mg Harnsäure 
in 100 g Blut 

Purinfrei seit 3 Tagen. 4,8 

i , 5 •> 4,0 

„ ,14 „ 4,0 

, ,9 Wochen, tägl. 1 Flasche Namedy-Sprudel seit 7 Wochen 3.4 

„ , 14 „ „ 1 „ , 12 2,7 

n l 15 0 9 


Tabelle III. 

117. Atypische Gicht. Therapie: Alkaligaben. 

mg Harnsäure 
in 100 g Blut 


Purinfrei 5 Tage. 3,1 

Tägl. 3 gestr. Teelöffel Alkali seit 2 Wochen 3,2 j Vor jeder 
„ 3 „ . , , 3 „ 3,2 i Blutuntersuchung 

„ 6 „ * „ , 6 3,3 ) 2 Tage purinfrei. 


Deutlicher wurde der Einfluß der Behandlung, wenn zur Diät reichliche 
Durchspülung hinzugefügt wurde (Tabelle 2). In der DurchspüJ«mg scheint uns 
ein Hauptfaktor der Wirksamkeit von Brunnenkuren zu liegen. Den Einfluß der 
in den Gichtwässern enthaltenen Alkalien versuchten wir durch Darreichung von 
Alkali ohne viel Flüssigkeit festzustellen, sahen aber davon 1 ) keinerlei Effekt 
(Tabelle 3). — In ähnlicher Weise wie die Durchspülung mit Mineralwässern schien 
dagegen in einigen begonnenen Versuchen Diuretin den Harnsäuregehalt herab¬ 
zusetzen. — Nach Bädern, Duschen und Massage sahen wir in einer vereinzelten 
Beobachtung leichte Senkung des Harnsäurespiegels. 

Die regelmäßige rasche und starke Wirkung des Atophans auf den Blut¬ 
harnsäurespiegel im Sinne einer Herabsetzung wurde schon in einer früheren Arbeit 
an einigen Kurven dargetan. Weitere zahlreiche Versuche bestätigten diese Er¬ 
fahrungen. Die Wirkung verschwindet rasch nach dem Aussetzen des Mittels 
ganz oder fast ganz (Tabelle 4), bei länger fortgesetzten oder öfter wiederholten 
Atophankuren nimmt jedoch die Nachwirkung zu; wie weit man es schließlich 
bezüglich einer Dauerwirkung bringen kann, bleibt noch festzustellen. — Zur ge¬ 
naueren Anwendung und Dosierung des Atophans ist folgendes zu bemerken: 
durch unvermittelte große Dosen, 8 bis 10 Tabletten täglich, kann man einen 
starken Harnsäuresturz hervorrufen; doch hat ein solcher Übelbefinden und un¬ 
angenehmes Schwächegefühl zur Folge. Diese störenden Erscheinungen lassen 
sich durch Beginn mit kleiner Dosis und allmähliche Steigerung vermeiden; der 


>) Allerdings nur eine Beobachtung. 


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Über den Einfluß therapeutischer Maßnahmen auf den Harnsäuregehalt des Blutes usw. 351 


Harnsäurespiegel geht dann allmählich herunter. Die Gewöhnung durch die voran¬ 
gehenden kleinen Dosen bedingt eine an der Ausscheidung im Urin am deutlichsten 
erkennbare Wirkungsabschwäcliung der nachfolgenden Gaben — ähnlich wie bei 
diuretischen Mitteln —, jedoch keine vollständige Aufhebung der Wirkung auf das 
Blut. Man erreicht infolgedessen am meisten, im Verhältnis zur verbrauchten 
Menge des Mittels, mit intermittierenden Gaben. Auf die steigenden Dosen kann 
man meist verzichten, man erreicht mit klein bleibenden auf die Dauer ziemlich 
dasselbe (vgl. die beiden Atophanperioden der Tabelle 4). Die kleinen Atophan- 
dosen, 3 bis 4 Tabletten täglich, werden monatelang gut vertragen 1 ); zweckmäßiger 
sind aber meist die unterbrochenen Gaben. Bei häufiger Wiederholung dieser 
nimmt die zunächst einige Tage anhaltende günstige Nachwirkung auf eine Woche 
und mehr zu. 

Tabelle IV. 

17. Gicht. Therapie: Atophan. 

mg Harnsäure 
in 100 g Blut 


Purinfrei seit 3 Tagen. 4,8 

w »b ff . 4,0 

40 Tabl. Atophan, steigende Dosen in 6 Tagen . 2,2 i 

Dasselbe noch einmal , 6 „ 2,2 1 -Atophan 

Kein Atophan 2 Monate. Diät?. 5,6 

Tägl. 3 Tabletten Atophan 18 Tage. 2,6 \ 

Dasselbe noch 22 Tage. 2,5 Atophan 

Dasselbe noch 45 Tage. 2,3 > 

Kein Atophan, keine strenge Diät 14 Tage . . 5,0 

. , „ fi 7 t noch 21 Tage 3,0 

» . > » „ , 14 „ 4,0 


Tabelle V. 

73. Schwere Gicht. Therapie: Atophan abwechselnd mit Diät. 

mg Harnsäure 
in 100 g Blut 


Purinfrei seit 10 Tagen. 5,9 

3 Monate wöchentlich 4 Atophantage, 3 Diättage, zuletzt 4 Diättage 4,9 
3 Wochen dasselbe + Radiumtrinkkur, » 4 „ 4,7 

2 Wochen 8 Atophantage, 4 Diättage, , 4 „ 3,3 

3 Wochen dasselbe, , 7 , 3,4 

2 Wochen dasselbe, , 4 , 3,1 


Besonders gut ist diese Wirkung zu erzielen durch Abwechslung zwischen 
Atophan- und Diättagen, die zudem viel leichter durchzuführen ist, als dauernde 
Diät. Wiederholt haben wir mit gutem Erfolg die Woche in 3 Atophantage, 
mit 3 bis 4 Tabletten täglich ohne strenge Diät, und 4 Diättage eingeteilt. Es 
gelingt auf diese Weise leicht, den Blutharnsäurespiegel dauernd niedrig zu halten 
(Tabelle 5). Bei längerer Behandlungsdauer konnte -die Atophanpause auf eine 
Woche und mehr verlängert werden. Statt dessen kann man auch die Atophan- 
gaben auf 3 bis 2 Tage zu 2 Tabletten vermindern. 


') Bei empfindlichem Magen mit Natron bikarbonikum. 


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352 


Ernst Steinitz 


Bekanntlich besteht Grund zu der Annahme, daß die Atophanwirkung sich 
aus zwei Komponenten zusammensetzt, einer spezifisch der Harnsäureschädigung ent¬ 
gegenwirkenden und einer allgemein antirheumatisch-antineuralgischen. Es war 
deshalb von Interesse, festzustellen, ob Atophanderivate, denen ebenfalls Erfolge 
nachgerühmt werden, die gleiche Wirkung auf den Blutharnsäuregehalt besitzen. 
Mit einem dieser Derivate, dem Synthalin, machten wir die Erfahrung, daß jede 
Wirkung auf die Blutharnsäure ausbleibt. 

Zu erwähnen ist, daß die Wirkung der Atophankuren auf das Befinden 
zwar zum guten Teil günstig schien, aber trotz regelmäßiger Beeinflussung des 
Blutharnsäure-Spiegels dies durchaus nicht immer der Fall war. Anfälle sahen 
wir allerdings während solcher Kuren nicht auftreten. 

Von besonderem Interesse waren Feststellungen über die Radium Wirkung. 
Große Radiumdosen, wie sie im Emanatorium oder bei intensiven Trinkkuren zur 
Anwendung kommen, bewirken zunächst eine Erhöhung des Blutharnsäure-Gehalts 
(Tabelle 6), eine Senkung scheint regelmäßig nach dem Aussetzen des Mittels nach¬ 
zukommen. Das stimmt mit den Beobachtungen über die sonstige Wirkung der 
Radiumkuren gut überein. Dagegen bewirken milde Radiumtrinkkuren, bei denen 
ja die gleichzeitige Durchspülung wesentlich mitwirken kann, von vornherein eine 
mäßige, allmähliche Senkung des Blutharnsäurespiegels 1 ) (Tabelle 7). 


Tabelle VI. 

77. Gicht. Therapie: Radium-Emanatorium -{- -Trinkkur. 

mg Harnsäure 
in 100 g Blut 


Vor einiger Zeit Radiumkur 

1 Woche später. 

Jfre ue Radiumkur seit 12 Tagen 

, r , 18 „ 

- » * 44 „ 

Behandlung seit 3 Monaten ausgesetzt 


3.3 

3.4 
4,0 
5, 

5,6 

3,1 


.0) 

.6 I 


Radiumkur 


Tabelle VIL 


87. Gicht. 


Therapie: Radium-Trinkkur. 


mg Harnsäure 
in 100 g Blut 


Seit einiger Zeit purinfrei . . 

2 Tage später .... 
Radium-Trinkkur seit 9 Tagen 

yj rt n rt 


4,1 
4,5 
41 1 

* 1 Radiumkur 


„ * «48 Tagen, keine Diät mehr, Alkohol-Exzesse 5,3 3 ) 

Keine strenge Diät, kein Alkohol, 6 Wochen später. 3 6 


*) Die Radiumkuren wurden größtenteils im hydrotherapeutischen Institut der Universität 
(Geheimrat Brieger) von Herrn Dr. Fürstenberg freundlichst durchgeführt. Für die milden 
Trinkkuren benutzten wir zum Teil die uns liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellte Bram- 
bacher Wettinquelle, von der täglich eine Flasche mit etwa 1000 Mache-Einheiten getrunken 
wurde; der Brunnen ging den Patienten frisch abgefüllt jeden zweiten Tag direkt von der 
Brunnenverwaltung des Bades Brambach i. V. zu. 

*) Gichtanfall 1 Woche nach dieser Blutuntersuchung. 




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Über den Einfluß tberapeutischerMaßnahmen auf den Harnsäuregebalt des Blutes usw 353 


Tabelle VUL 

Schwere Gicht. Therapie: Radium -f* Atophan. 

mg Harnsäure 
in 100 g Blut 

Seit einiger Zeit purinfrei (im Anfall). 

€ Tage später... 

Emanatorium + Trinkkur seit 2 Wochen. 

« » . 

Dasselbe -{- tägl. 3 Atophantabletten 1 Woche . . . . . 

Trinkkur -(- tägl. 3 Atophan tabletten 4 Wochen .... 

Dasselbe noch 2 Wochen. 

Radiumtrinkkur ohne Atophan 1 Woche, keine strenge Diät 

Das Radium mobilisiert offenbar in erster Linie die Harnsäure aus den 
Depots, bringt sie ins Blut hinein und bewirkt erst sekundär und sehr allmählich 
ihre Ausscheidung aus dem Organismus. Es lag daher nahe, das Radium (besonders 
die großen Dosen), mit dem die Harnsäure rasch aus dem Blut eliminierenden 
Atophan zu kombinieren. Die Wirkung einer solchen Kur auf den Harnsäure¬ 
spiegel unterscheidet sich, wie leicht verständlich, nicht augenfällig von der des 
Atophan allein. Der Heilerfolg dieser kombinierten Behandlung scheint aber ein 
besonders guter zu sein. Es ist schwer, auf Grund weniger Beobachtungen dar¬ 
über zu urteilen; wir hatten aber einen auffallenden Erfolg mit dieser Be¬ 
handlungsmethode in einem besonders schweren Gichtfall, der alle Mittel einzeln 
ohne Erfolg versucht hatte (Tabelle 8). Der Heilerfolg verschwand auch nicht, 
als mit dem Aussetzen des Atophans der Blutharnsäuregehalt sogleich wieder in 
die Höhe schnellte. 

Der Kreis der zu erprobenden Gichtmittel ist noch ein großer und auch be¬ 
züglich der erwähnten sind infolge des Krieges unsere Untersuchungen unvoll¬ 
ständig geblieben und gestatten noch keine weitgehenden Schlüsse. Einige 
Hinweise sind aber durch sie doch gegeben. Hervorheben möchten wir folgendes: 

Sehr empfehlenswert scheint die Verbindung purinfreier Diät mit 
reichlicher Durchspülung; die Diät ist möglichst monatelang konsequent 
fortzusetzen. — Als Ersatz für langdauernde strenge Diät empfiehlt sich der 
oben näher beschriebene Wechsel von Atophan- und Diättagen. — Für 
schwere Fälle ist die Kombination von Radium und Atophan zu versuchen. 

Literatur. 

Fol in und Denis, Journ. of biol. Chem. Bd. 12, 1912. S. 239; Bd. 13, 1912/13, S. 469; 
Bd. 14, 1913, S. 95. — Folin und Macallum, Journ. of biol. Chem. Bd. 13, 1912/13, S. 363. 
— Höst, Hoppe-Seylers Ztschr. f. physiol. Chem. Bd. 95, 1915, S. 88. — Landmann, Hoppe- 
Seylers Ztscb. f. physiol. Chem. Bd. 92, 1914, S. 416. — Steinitz, Hoppe-Seylers Ztschr. f. 
physiol. Chem. Bd. 90, 1914, S. 108; Deutsch. Med. Woch. 1914, Nr. 19; Verh. d. Kongr. f. 
inn. Med. 1914; Berl. klin. Woch. 1914, Nr. 28. 


5.2 

5.3 
5,7 

5.3 
3,1 
2 , 

2.3 

5.4 


5 } 

.3 ) 


Atophan 


Radium. 


Zeitsehr. f. physik. u. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8 ( 9. 


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E. Infektionskrankheiten 


xx. 

Ober zwei eigenartige Fälle von Infektion der 
Ösophagus- und Magenschleimhaut. 

Aus der Infektionsabteilung des Rudolf-Yirchow-Krankenhauses. 

Von 

Prof. Ulrich Friedemann. 

Während die lymphatischen Apparate des Rachenringes sowie die Payersehen 
Plaques und die Lymphfollikel des Ileum und Colon recht häufig der Sitz bakte¬ 
rieller Erkrankungen verschiedenster Art sind, gehören Infektionsherde in den 
übrigen Schleimhäuten des Magendarmkanals, und besonders des Ösophagus und des 
Magens zu den größten Seltenheiten. Es seien daher im folgenden zwei Fälle 
mitgeteilt, die, soweit mir die Literatur bekannt ist, vereinzelt dastehen. 

I. Ein Fall von Diphtherie des Ösophagus. 

Der Patient P. H., 60 Jahre alt, Kaufmann, erkrankt am 10. April 1918 mit 
Schmerzen im Rachen und Schluckbeschwerden. Die Untersuchung ergibt guten Er¬ 
nährungszustand, an den inneren Organen normalen Befund. Rachen stark gerötet, 
Schleimhaut geschwollen, Uvula bis auf Walnußgroße ödematös durchtränkt. Aus der 
linken Nase eitriger Ausfluß. 

II. April 1918. Wegen stark erysipolatöser Schwellung der Nase wird P. auf die 
Infektionsabteilung verlegt. 

13. April 1918. Sehr starkes Erysipel des Gesichts. Augen völlig zugeschwollen. 
Rachenbeschwerden gebessert; Rötung derselben zurückgegangen. 

16. April 1918. Der Gesichtserysipel blaßt langsam ab. Starke Schuppung. Ery- 
sipelatöse Rötung und Schwellung des linken Armes. Beginnende Absziedierung an der 
Innenseite des Unterarms. 

18. April. Inzision am linken Unterarm. Geringe Eiterentleerung. Tamponade. 
Die Schwellung geht zurück. 

Die Temperatur bewegte sich von Anfang an zwischen 38° und 39° und sank nach 
der Inzision zur Norm herab. 

Am 21. April setzt plötzlich bei kleinem Puls Atemnot ein. An der hinteren 
Rachenwand ist ein dicker weißer Belag bemerkbar, der nach oben unter der Uvula auf- 
liört und dessen untere Begrenzung hinter der Zungenwurzel nicht festgestellt werden 
kann. Auf der Uvula finden sich vereinzelte weißliche punktförmige Beläge. 

22. April. Allgemeinbefinden schlecht. Zeitweise Atemnot. Der Mund ist ständig mit 
Schleim gefüllt, die Atmung röchelnd. Der Puls bleibt unter Kampfer und Coffein befriedigend. 

23. April. Der Belag hat sich nach oben auf die Uvula ausgebreitet, sieht schmierig 
grünlich aus. Typischer diphtherischer Fötor. Die bakteriolgische Untersuchung des 


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Über zwei eigenartige Fälle von Infektion der Ösophagus- und Magenschleimhaut. 355 


tags zuvor gemachten Rachenabstriches ergibt Diphteriebazillen. P. erhält DiphtherieBerum 
lOOOO S. E. intravenös, 10000 S. E. intramuskulär. Unter zunehmender Verschlechterung 
des Allgemeinbefindens erfolgt am Abend der Tod unter Herzschwäche. Die Temperatur 
war während dieser ganzen schweren Erkrankung kaum erhöht. 

Sektionsbefund: Vom Rachen erstreckt sich abwärts, sowohl in Larynx und Trachea 
als auch in den Ösophagus hinein bis über die Mitte desselben «reichend, eine dicke grau¬ 
gelbe zusammenhängende Membran. 

Pulmones überall lufthaltig. Aus den Bronchien entleert sich auf Druck eitriges Sekret. 

Cor von normaler Größe, schlaff, Klappenapparat intakt. 

Milz etwas vergrößert, fest, Follikel geschwollen, Pulpa nicht abstreifbar. 

Leber und Nieren ohne Besonderheiten. 

Anatomische Diagnose: Diphtheria laryngis, tracheae et oesophagi. Bronchitis 
purulenta. * 


Der soeben beschriebene Fall bietet in mehr als einer Hinsicht Interesse. 


Es liegen offenbar zwei getrennte Erkrankungen vor, deren erste, das Erysipel, den 
Verlauf der Diphtherie nicht unwesentlich beeinflußt hat. Abgesehen von der 
Herabsetzung der allgemeinen Widerstandsfähigkeit durch die Streptokokken¬ 
infektion möchte ich annehmen, daß durch das einleitende, an sich übrigens recht 
seltene Erysipel der Rachenschleimhaut eine lokale Dispositiod für die diphtherische 
Erkrankung geschaffen wurde, die wohl auch bestimmend für die eigentümliche 
Ausbreitung des Prozesses war. Besonders bemerkenswert ist in diesem Falle das 
völlige Freibleiben der Tonsillen und die schnelle Ausbreitung auf Trachea und 
Ösophagus. Offenbar folgte das Diphtherievirus den Wegen, die das Erysipel schon 
vorher gebahnt hatte. 

In diagnostischer Hinsicht bot der Fall insofern Schwierigkeiten, als bei der 
ungewöhnlichen Lokalisation und dem Aussehen der Beläge zunächst der Verdacht 
auf eine Soorerkrankung gelenkt wurde. Die bakteriologische Untersuchung, die 
keine Fadenpilze oder Oidien, hingegen reichlich Diphtheriebazillen ergab, sicherte 
die Diagnose, die am zweiten Tage allerdings auch aus dem inzwischen veränderten 
Aussehen der Membranen und dem typischen Fötor gestellt werden konnte. 

Der rasch tödliche Verlauf ist in diesem Fall offenbar auf die vorgängige 
sehr schwere Erysipelerkrankung zurückzuführen. 


2. Ein Fall von Malleus des Magens. 

Der Patient P. S., 34 Jahre alt, infizierte sich vor 4 Wochen beim Arbeiten mit 
Botzkulturen, von denen ihm etwas ins Gesicht, wie er angibt, auch in den Mund 
spritzte. Etwa 3 Tage später traten Kopfschmerzen, Fieber, sowie ein heftiger Ka- 
tharrh der Luftwege auf. Im Anschluß daran sollen sich beiderseitige Pleuritis, sowie zwei 
eitrige Geschwüre am Zahnfleisch entwickelt haben. Seit 14 Tagen Geschwür am linken 
Unterschenkel, das wenig Heilungstendenz zeigt. 

Die Untersuchung am 20. Juli ergibt am Herzen normale Grenzen, reine Töne. Auf 
den Lungen liDks unten leichte Dämpfung, sonst keinen Befund. Unterleibsorgane ohne 
Besonderheiten. 

Am linken Unterschenkel findet sich ein linsengroßes Ulcus mit schlaffen, unter¬ 
minierten Rändern. 

Die Blutuntersuchung ergibt starke positive Agglutinations- und 
Komplementbindung8reaktion auf Rotz. 

Die Temperatur zeigte während der ganzen ersten, im folgenden beschriebenen 
Krankheitsperiode nur vereinzelte geringe Abweichungen von der Norm, die aber 38° 
kaum erreichten. 

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356 


Ulrich Friedemann 


Nach Rücksprache mit Herrn Geheimrat P. Ehrlich wurde beschlossen, einen Ver¬ 
such mit dem im Speyerhaus in Frankfurt a. M. hergestellten Kupfersalvarsan zu unter- 
nehmen. 

Am 28. Juli 1915 erhielt P. 0,05 Kupfersalvarsan intravenös. Zur Technik dieser 
Injektion sei bemerkt, daß noch sorgfältiger als beim Neosalvarsan auf eine exakte In¬ 
jektion geachtet werden muß. Jede paravenöse Injektion führt zu äußerst schmerzhaften 
Infiltraten, ja unter Umständen zu einer Nekrose der Vene. Nach der Injektion steigt 
die Temperatur auf 39° an, Allgemeinbefinden schlecht. Schlaflosigkeit. Appetitmangel. 
Am folgenden Tag ist die Temperatur wieder normal, das Allgemeinbefinden besser. 

31. Juli wiederum 0,05 Kupfersalvarsan. Keine Reaktion. 

4. August 0,05 Kupfersalvarsan. Temperatur bis 38°. Klagen über innere Unruhe, 
Schlaflosigkeit. 

10. August Klagen über starke Gelenkschmerzen, die durch Ätophan gebessert 
werden. Das Geschwür am linken Unterschenkel ist abgeheilt. 

12. August 0,1 Kupfersalvarsan. Temperatursteigerang auf 40,4°. Sehr schlechtes 
Allgemeinbefinden. Starke Gelenkschmerzen, die auch in den folgenden Tagen anhalten. 

Wegen der starken Reaktionen wird an Stelle des Kupfersalvarsan NeoBalvarsan 
angewandt. 

19. August 0,3 g Neosalvarsan. Keine Reaktion. 

24. August 0,6 g Neosalvarsan. Keine Reaktion. 

P. klagt fortgesetzt über Gliederschmerzen und Appetitlosigkeit. 

31. August 0,5 g Neosalvarsan. Keine Reaktion. 

In der Folgezeit wurden weitere Injektionen nicht gemacht. Die Temperatur blieb 
dauernd normal. Die Gelenkschmerzen besserten sich. Dagegen beginnt P. seit dem 
15. September über Magendrücken und ein Gefühl von Völle zu klagen. 

20. September Allgemeinbefinden gebessert. Temperatur dauernd normal. Der 
Appetit bessert sich. Der P. verläßt das Bett. Die Besseraug hielt auch fernerhin an, 
so daß wir bereits einen glücklichen Ausgang der Erkrankung erhofften. 

Da trat am 7. Oktober 1915 plötzlich nach einer kurzen Spazierfahrt ein heftiger 
Schüttelfrost auf. Gleichzeitig klagt P. über Stiche in der Brust und starke Magen- 
schmerzen. Erbrechen. Die Temperatur steigt auf 39°. Die Temperatursteigerang, die 
einer unregelmäßig remittierenden Charakter aufweist, hält bis zum 16. Oktober 1915 an. 
Dann wird die Temperatur wieder normal unter gleichzeitiger Besserung der vorher 
starken Kopf-, Glieder- und Magenschmerzen. 

Am 18. Oktober wieder 40° unter Verschlechterung des Allgemeinbefindens. Dann 
wieder normale Temparatur bis zum 27. Oktober. Nun beginnt ein unregelmäßig remit¬ 
tierendes Fieber, das jedoch 38,5° nicht überschreitet. 

3. November ist eine Verschlechterung des Befindens festzustellen. Es herrscht 
völliger Appetitmangel. Die gerötete Zunge ist dick belegt. Bisweilen Erbrechen. Glieder¬ 
schmerzen. Schlaflosigkeit. 

Wegen der zunehmenden Verschlechterung wird am 13. November nochmals 0,05 
Kupfersalvarsan intravenös injiziert. Die Temperatur steigt auf 39°, sinkt aber am 
17. November auf 37,5° ab. 

Am 18. November wiederum 0,05 Kupfersalvarsan. Die Temperatur steigt danach 
auf 39,5° und zeigt in der Folge einen unregelmäßig remittierenden Charakter mit Stei¬ 
gerungen bis 40°. Das Allgemeinbefinden ist schlecht. Die Magenschmerzen sind un¬ 
erträglich, so daß P. dauernd unter Morphium gehalten werden muß. Nahrungsaufnahme 
per 08 überhaupt nicht mehr möglich. Ernährung durch Nährklystiere. 

Am 26. November erfolgt der Exitus letalis unter Herzschwäche. 

Auszug aus dem Sektionsprotokoll: Kräftiger Mann mit leidlich gut erhaltenem 
Fettpolster. 

Herz von normaler Größe, keine Klappenveränderungen. 

Lungen überall lufthaltig, Pleura nicht verwachsen, Milz und Nieren ohne Be¬ 
sonderheiten. 


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über zwei eigenartige Fälle von Infektion der Ösophagus- und Magenschleimhaut. 357 


Anf der Schleimhaut des Magens finden sich vier im Durchmesser 4 bis 6 ccm 
messende Tumoren, mit halbkugelförmiger glatter Oberfläche, weißgelber Farbe, nicht 
nlzeriert, welche die nntere Hälfte des Magens bis zum Pylorns ausfüllen. Die histolo¬ 
gische Untersuchung ergibt: Im Bereich der Tumoren entzündliches Granulationsgewebe. 

Der Fall bietet allein wegen der großen Seltenheit des Rotzes beim Men¬ 
schen Interesse. Sodann gab er Gelegenheit, über die Wirksamkeit des Kupfer- 
salvarsans und Neosalvarsans bei dieser Erkrankung Erfahrungen zu sammeln, 
nachdem die Veterinärärzte über günstige Resultate berichtet hatten. In dieser 
Hinsicht müssen wir die Krankheit in zwei Perioden teilen. In der ersten, die 
bis zum 7. Oktober 1915 reicht, scheint mir in der Tat ein günstiger Einfluß auf d<jn 
Krankheitsprozeß vorhanden zu sein. Alle Krankheitserscheinungen gingen zurück, 
so daß P. bereits das Bett verlassen konnte. Allerdings möchte ich sogleich be¬ 
merken, daß beim Rotz auch derartige spontane Besserungen Vorkommen. 

Daß wir uns über den Zustand der Patienten geirrt und nur das unter der 
Asche fortglimmende Feuer nicht bemerkt hatten, bewies die Verschlechterung 
nach der Ausfahrt am 7. Oktober 1915. In dieser zweiten Periode war nun von einem 
therapeutischen Einfluß des Kupfersalvarsan^ nichts zu bemerken. Im Gegenteil 
schlossen sich an die Injektionen sehr deutliche und dauernde Verschlechterungen 
des Befindens an. Die Reaktionen, die anfangs nur 24 Stunden dauerten, klangen 
nicht mehr ab. Demnach kann von einem therapeutischen Erfolg in diesem Fall 
nicht gesprochen werden. Doch sind bei der Trostlosigkeit des Krankheitsbildes 
weitere Versuche wohl berechtigt. 

Das klinische Bild bot manche charakterische Züge, die Lungenerscheinungen, 
die Gliederschmerzen, das Ulkus am Unterschenkel. Dagegen gehörten die über¬ 
aus heftigen Magenbeschwerden nicht in den Symptomenkomplex der Rotzerkrankung 
und boten einer Deutung große Schwierigkeiten. 

Die Obduktion gab dafür die Erklärung, indem sie eine ausgedehnte und 
offenbar ausschließliche rotzige Erkrankung des Magens aufdeckte. Über deren 
Entstehung lassen sich nur Vermutungen äußern. Möglich wäre es immerhin, daß 
bei der Infektion direkt Rotzbazillen in den Magen gelangten. Interessant ist 
jedenfalls, daß der übrige Organismus, auch die Lungen, völlig frei von anatomischen 
Veränderungen war. Es wäre daran zu denken, daß das Virus im übrigen Körper 
durch das Kupfersalvarsan vernichtet wurde und im Magen aus unbekannten 
Gründen zu einer so mächtigen Entwicklung gelangte. 


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358 


Hoefer 


XXL 

Serumtherapie bei Fleckfieber. 

Von 

Dr. F. A. Hoefer, 

Assistent am Medizin. Polikl. Instit. der Univ. Berlin, 
z. Z. Kaiser). Kreisarzt in Plock (Polen). 

Da die medikamentöse Therapie bei Fleckfieber, besonders in den schweren 
Fällen, versagt, und auch die Chemotherapie gegen Fleckfieber noch keine Erfolge 
erzielt hat, so bleibt für den Arzt, *der die Entscheidung über Leben und Tod 
seines Patienten nicht entsagend ganz in die Hände des Schicksals legen will, 
nur übrig, den Körper im Kampf gegen die Krankheitserreger mit den Mitteln zu 
unterstützen, die ihm die Serumtherapie an die Hand gibt. 

Die größte Bedeutung unter den spezifischen Behandlungsmethoden, die wir 
bei Infektionskrankheiten anwenden, kommt bisher der Einverleibung spezifischer 
Antitoxine zu. 

Antitoxine oder überhaupt Immunkörper gegen Fleckfieber können aber bis¬ 
her nur aus dem Serum von Fleckfieber-Rekonvaleszenten, als durch die Krank¬ 
heit aktiv immunisierter Individuen, gewonnen werden, da es noch nicht gelungen 
ist, den Erreger, geschweige denn seine Toxine darzustellen. Es kommen also 
vorläufig nur therapeutische Versuche mit Rekonvaleszentenblut resp. -seram in Be¬ 
tracht, und solche habe ich mit wechselnden Versuchsbedingungen seit 3 Jahren an 
dem großen Krankenmaterial des Fleckfieberhospitales in Plock (Polen) durchgeführt. 

Es stellte sich bei den Versuchen, die hier unter ungünstigen Verhältnissen 
nur langsam gefördert werden konnten, bald heraus, daß leichte oder mittelschwere 
Fälle für solche Versuche ungeeignet sind, da hier auch ohne therapeutische Be¬ 
einflussung unerwartete Änderungen im Krankheitsablauf eintreten können. 

Bei mittelschweren Fällen wurde deshalb zunächst nur noch nachgeprüft, ob 
durch Serumbehandlung eine Verkürzung der Krankheitsdauer zu erzielen wäre, 
und zwar nur bei Fällen, die aus dem Isolierhaus eingeliefert wurden, bei welchen 
also der Erkrankungstag genau bekannt war. Es ergibt sich zwar eine Ver¬ 
kürzung der Krankheitsdauer um einige Tage gegenüber unbehandelten Fällen, 
doch ist die Abschätzung dessen, was bei mittelschweren Fällen auf das Konto 
der Serumtherapie kommt und was nicht, zu unsicher, und ferner kommt bei 
leichten Fällen auch spontan ein verkürzter Ablauf vor, so daß nur noch die aller- 
schwersten Fälle zur Behandlung herangezogen wurden, bei denen ein tödlicher 
Ausgang mit Sicherheit vorauszusagen war. 

Diese Fälle widerstanden zunächst jeder Behandlung, bis ganz große Serum- 


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Serumtherapie bei Fleckfieber. 


359 


dosen (1000 ccm und mehr, 250 bis 300 ccm pro die) subkutan oder (geringere 
Dosen) intravenös gegeben wurden. 

Denn es scheint, daß die Immunstoffe im Bekonvaleszentenserum, das zur 
passiven Immunisierung der Kranken verwandt werden sollte, nur in geringer 
Konzentration vorhanden sind. Und da andererseits bei den schwersten Fällen 
offenbar die aktive Immunisierung eine* ungenügende ist oder ganz versagt, und 
da die Konzentration der Schutzstoffe im Körper des Patienten einen bestimmten 
Schwellenwert erreichen muß, um wirken zu können, so mußten die Dosen vergrößert 
werden, bis die Wirkung erreichbar war. Die Größe der Dosen wurde auch dadurch 
mitbedingt, daß Serum von verschiedenen Rekonvaleszenten gemischt gegeben werden 
mußte, wobei möglicherweise auch weniger wirksame Sera beigemischt wurden, 
da eine Methode zur Prüfung der Stärke der Sera fehlt. 

Ich berichte im folgenden nur über einen Teil der Versuche mit einer be¬ 
stimmten Versuchsanordnung, nämlich über Versuche mit Serum, das am 6. Tage 
nach der Entfieberung entnommen und sofort therapeutisch verwendet wurde; 
fünf Tage nach der Entfieberung ist das Blut sicher nicht mehr infektiös. 

Die Versuchsanordnung war folgende: Das aus derCubitalvene steril entnommene 
Blut wurde in einigen wenigen Kubikzentimetern einer sterilen konzentrierten Natr. 
citricum-Lösung aufgefangen, durch steriles Zentrifugieren von den Erytrozyten und 
etwaigen Koagulis befreit und mit 0,1 °/ 0 (bis 0,2%) Karbolsäure versetzt. Vor derVer- 
wendung wurde eine bakteriologische Sterilitätsprüfung vorgenommen. Das Serum 
— d. h. eigentlich Citratplasma — wurde immer möglichst frisch verwendet, da Ver¬ 
suche über die Haltbarkeit des Serums noch nicht zu Ende geführt wurden. Die 
Injektion erfolgte subkutan unter die Bauchhaut usw. oder intravenös. 

Behandelt wurden außer mittelschweren Fällen nur solche, die als verloren 
betrachtet werden konnten. Ich gebe hiervon nachstehend nur einige Beispiele 1 ). 

Fall 1. Noech Pattermann, 20 J. alt. Am Tage vor Einlieferang mit Schüttel¬ 
frost im Isolierhanse erkrankt. Am 3. Krankheitstage Exanthem. Geringer Hilztumor. 
Puls klein, frequent. Zeitweilig etwas unbesinnlich. 

Am 4. Krankheitstage: 60 ccm Serum subkutan. 

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Entfieberung beginnt am 6. Krankheitstage und ist am 9. vollendet. Weil-Felix 200 +. 

Fall 2. Strawczynski, 32 J. alt, am 6. Krankheitstage aufgenommen. Reicht. Exanthem. 
Puls weich, frequent, irregulär. Herztöne leise. Kleiner Milztumor. Klagt über starke Kopf¬ 
schmerzen. Vom 6.—8. Tage etwas unklar. Entfieberung am 9. Tage. Weil-Felix 3200 +. 

Behandelt am 7. Krankheitstage mit 100 ccm Serum subkutan. 

>t »» 8- >» ji 95 ,, ,, ,, 

n >> 9. ,, „ 96 ,, ,, ,, 

Fall 3. Lammarsz, 42 J. alt. Aus Isolierhans eingeliefert. Puls klein, weich, 
frequent, stark irregulär. Am 5. Krankheitstage beginnt sie zu delirieren, wird be¬ 
nommen, schluckt nicht. Vom 9. Tage ab wird Sensorium allmählich freier. Vorzeitige 
Entfieberung (am 12. Tage). 

Injektionen am 5. Tage: 85 ccm Serum subkutan. 

>» » 6" i» 80 n >> n 

_._ » >» 7. ,, 100 ,, ,, 

*) Die Temperaturkurven mußten wegen Raummangels leider Wegfällen. 


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360 


Hoefer 


Bei den beschriebenen Fällen handelt es sich nm mittelschwere Fälle; alle 
fühlten sich, ebenso wie auch die leichten Fälle, nach der Injektion subjektiv 
erheblich besser, die Kopfschmerzen verringerten sich, Puls besserte sich. 

Die folgenden vier Fälle stellen schwerste Fälle dar. 

Fall 4. Benzon, 45 J. alt. Am 8. Krankheitstage aofgenommen, sehr starkes, 
petechiales Exanthem, Puls fadenförmig, Herzdämpfung verbreitert, starke Cyanose des 
Gesichtes und der Extremitäten, Koma, Unterkiefer hängt herab, Incontinentia nrinae 
et alvi, an einzelnen Tagen auch Retentio nrinae. Hypostatische Pneumonie. 

Am 9. Tage 60 ccm Serum. subkutan injiziert. 

„ 10. ,, 67 ,, „ ,, ,, 

>i ff* >> 67 ,, ,, ,, ,, 

>> 12. ,, 50 ,, „ ,, ,, 

Am 13. Krärikheitstage wird das Sensorium freier, reagiert anf Anruf. 

Am 14. Tage weitere Besserung, er antwortet auf Fragen nach seinen Lebens¬ 
verhältnissen, fühlt sich subjektiv gut, Puls ist voller und kräftiger geworden. 

Leider mnß wegen Serummangels die Behandlung unterbrochen werden. 

Am 15. Tage ist er wieder völlig benommen, Puls sehr schlecht, durch Herzmittel 
nicht mehr zu beeinflussen. Die am 16. und 17. Tage noch erfolgten subkutanen Serum¬ 
injektionen von 68 bezw. 84 ccm Serum bleiben erfolglos. Am 17. Tage Exitus. 

Fall 5. Ester Bornstein, 21 J.alt. Aufnahmestatus am 8. Tage entspricht dem von Fall 4. 

Nach den subkutanen SerUminjektionen von 70 ccm am 8. Tage, 

v i> » » >> ,, „ 8. „ 

n » >> >i >> 60 „ „ 8 . „ 

die eine vorzeitige Entfieberung zur Folge haben, tritt eine vorübergehende Aufhellung 
des Sensoriums ein, reagiert schwach auf Anrufe, schluckt bisweilen. 

Wegen Serummangel kann auch hier die Behandlung nicht fortgesetzt werden. 

Am 15. Tage Exitus letalis. 


Fall 6 (Tab. 6). Eva Szumklarz, 23jähr. Lehrerin. Am 4. Krankheitstage abends 
anfgenommen. Status: Beginnendes Exanthem, Milztumor, Puls irregulär, klein, weich, 
klagt über starke Kopfschmerzen nnd schlechtes Allgemeinbefinden. 

Am 5. Tage: Reichliches Exanthem, beginnende Benommenheit, starke Hyperästhesie 
der Haut, Puls verschlechtert. 

6 . Tag: Völlige Benommenheit, passive Rückenlage, Incontinentia nrinae et alvi. 
Puls fadenförmig, zunehmende Cyanose des Gesichtes und der Extremitäten, die völlig 
kalt sind. Eingeflößte Milch wird nicht mehr geschluckt, Sondenernährung, Nährklysmen, 
subkutane NaCl-Infusionen. 

Der Zustand bleibt mit geringen Schwankungen der gleiche bis zum 11. Tage. 
Dann wird das Sensorium freier, sie reagiert auf Anruf, schluckt selbständig. Starke 
Unruhe und Delirien treten anf, die allmählich verschwinden. 

Entfieberung am 15. Tage. Sie hatte erhalten: 


am 5. 

Tage 200 ccm Serum 

subkutan 

» 6 . 

ty 

200 „ „ 

fy 

„ 7. 

ff 

200 n ,, 

ff 

,, 8 . 

ff 

200 ,, yf 

ff 

„ 9. 

ff 

200 ,, ,, 


„ 10. 

ff 

200 „ 

yy 

„ 11. 

jf 

200 „ 

fy 

also insgesamt 1400 ccm Rekonvaleszentenserum. 



Der Fall wurde wiederholt den Plocker polnischen Ärzten demonstriert, die 
durchaus nicht davon zu überzeugen waren, daß der Fall gerettet werden könne. 


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Serumtherapie bei Fleckfieber. 


361 


Fall 7. Czaika, 27 J. alt. Am 6. Krankheitstage ans dem Gefängnis eingeliefert. 
Geringes Exanthem, Puls klein, irregulär. Geringer Milztumor. Starke Unruhe, diffuse 
Bronchitis. 

7. Tag: Deliriert, Puls verschlechtert. 

9. Tag: Puls fadenförmig, starke Cyanose des Gesichtes und der Hände. Be¬ 
nommenheit, schluckt nicht mehr. Incontinentia urinae et alvi. Hypostatische Verände¬ 
rungen über beiden Unterlappen. 

12 . Tag: Sensorium freier, freiwillige Urinabgabe, Puls voller und kräftiger, noch 
irregulär. 

13. Tag: Antwortet klarer, fühlt sich subjektiv wohler. 

18. Tag: Entfiebert. Lunge o. B. Er hatte erhalten: . 

am 9. Tage 300 ccm Serum subkutan, 


„ 10. 

„ 300 

77 

77 

77 


und 60 

77 

77 

intravenös, 

„ 11. 

„ 300 

97 

77 

subkutan, 

tt 13. 

„ 250 

77 

77 

77 

also insgesamt 1210 ccm Serum. 






Es handelt sich also in den beiden letzten hier geschilderten Fällen, die 
wohl ohne die Serumbehandlung unbedingt verloren gewesen wären, um eine ge¬ 
lungene passive Immunisierung gegen Fleckfieber mit Rekonvaleszentenserum, 
oder richtiger um eine Unterstützung der mangelhaften aktiven Immunisierung 
durch die passive. 

Auch bei den mitgeteilten zwei Todesfällen ergab sich, obwohl wegen 
Serummangels nur kleine Dosen und nicht laufend gegeben werden konnten, ein 
unzweifelhafter Erfolg der Seruminjektion, der freilich in diesen Fällen die schon 
gesetzten Schädigungen nicht mehr aufheben und die Komplikationen nicht über¬ 
winden konnte. 

Ob das wirksame Prinzip des Serums als antitoxisch oder als antiinfektiös 
zu bezeichnen ist, läßt sich freilich zurzeit noch nicht entscheiden. Man muß aber 
wohl annehmen, daß die Schwere des Krankheitsbildes durch eine reichliche 
Toxinproduktion der Erreger bewirkt wird, welcher der Körper keine ent¬ 
sprechende Antitoxinproduktion entgegenstellen kann. 

Auf jeden Fall ist eine möglichst frühzeitige Einverleibung des wirksamen 
Immunkörpers, und zwar im Überschuß, erforderlich, ob es sich nun um eine 
Trennung der verankerten resp. um eine Bindung der frei im Blute zirkulierenden 
Toxine handelt oder um eine Einwirkung auf den Erreger selbst. 

Und solange es nicht gelungen ist, auf dem Umwege über den Tierversuch 
ein hochwertiges Antiserum gegen Fleckfieber zu gewinnen, sollte in jedem 
schweren Falle der an sich völlig unschädliche Versuch mit Rekonvaleszenten - 
serum gemacht werden. 


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362 


Emst Mosler 


XXII. 

Die Beziehungen des Wolhynischen Fiebers zu anderen 

Krankheiten. 

Aus einem Kriegslazarett in Frankreich. 

Von 

Dr. Ernst Mosler, 

z. Z. Landsturmpfl. Arzt, 

Assistenzarzt an der Kgl. Universitätspoliklinik zu Berlin. 

(Dir. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Galdscheider.) 

Es ist mir, wie ich schon kurz in meiner letzten Arbeit 1 ) angedeutet habe, 
aufgef allen, daß bei dem Wolhynischen Fieber diejenigen Organe am meisten in 
Mitleidenschaft gezogen werden, die schon früher einmal bei dem betreffenden 
Patienten in irgend einer Art erkrankt gewesen sind. 

Diese Beobachtung ist außerordentlich wichtig, weil man diese Fälle vielleicht 
nicht mehr als Wolhynisches Fieber deshalb erkennt, da durch das neue Aufflackern 
eines alten Leidens das an sich schon variationsfähige Bild des Wolhynischen 
Fiebers noch weitere Abänderungen erleidet. 

Auch ist für später anzufertigende Gutachten die Feststellung wertvoll, ob 
noch vorhandene Störungen die direkten Ursachen des Wolhynischen Fiebers sind, 
oder ob das Wolhynische Fieber nur das auslösende Moment gewesen ist, ein schon 
vorhandenes, aber schlummerndes Leiden wieder erweckt zu haben. 

Ich möchte deshalb meine über dieses Thema gemachten Beobachtungen 
kurz skizzieren. 

Ich habe eine Reihe an Wolhynischem Fieber erkrankte Mannschaften lange 
Zeit beobachtet, die früher einmal eine Verletzung der Extremitäten gehabt haben. 

Gleichgültig, ob es sich um Narben alter Weichteilwunden, um Knochenschüsse 
oder unkomplizierte Frakturen handelte, übereinstimmend gaben diese Kranken an, 
daß mit Einsetzen des Wolhynischen Fiebers jene alten Wunden oder Bruchstellen 
besonders heftig von der Krankheit ergriffen wurden. 

Objektiv läßt sich das Vorhandensein der Schmerzen leicht dadurch feststellen, 
daß diese Partieen durch hyperalgetische Zonen von größerer Ausdehnung umgeben 
sind, daß ferner an diesen Stellen eine besonders starke Druck- und Klopfempfind¬ 
lichkeit vorhanden ist, die die Druck- und Klopfempfindlichkeit der korrespondierenden 
Körperstellen der andern Körperhälfte um ein mehrfaches übertrifft. 

Einzelne Beispiele dienen zur Erläuterung: 

») B. kl. W. 1917, Nr. 42. 


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Die Beziehungen des Wolhyuiachen Fiebers zu anderen Krankheiten. 


303 


1 . Str. Vor 9 Monaten Bruch des rechten Oberarms. Gut ausgeheilt. Keine Be¬ 
schwerden mehr und keine Bewegungsbeeinträchtigung mehr. Mit Ausbruch des wol- 
hynischen Fiebers setzten im rechten Oberarm und in der Schulter außerordentlich 
heftige Schmerzen ein, die ebenso stark wie die Schienbeinschmerzen waren. Hyper¬ 
algetische Zonen fanden sich hier erstens in den von mir in meiner vorigen Arbeit 
als typisch angegebenen Stellen an Stirn und Unterschenkeln. Außerdem war aber noch 
eine ausgedehnte hyperalgetische Zone festzustellen, die von der rechten Schulter aus¬ 
ging und einen großen Teil der zu den Segmenten C. 4, C. 5, D. 1 und D 2 gehörenden 
Hautpartien betraf. 

2 . Schu. Vor 18 Monaten Gelenkschuß durch linken Ellbogen. Vollkommen aus¬ 
geheilt, keinerlei Beschwerden mehr gehabt. Seitdem er am wolbynischen Fieber erkrankt 
ist, heftigste Schmerzen im Ellbogengelenk, die zeitweilig alle anderen Beschwerden 
fibertrafen. 

Außer den typisch hyperalgetischen Zonen an Stirn und Unterschenkeln war hier 
noch eine solche Zone festzuStellen, die auf der Rückseite und Außenseite des Armes 
von der Mitte des Oberarmes ab bis zum unteren Ende des oberen Drittels des Vorder¬ 
armes verlief. Die mediale Begrenzung war die Linie, die auf den bekannten Schemen 
als Begrenzungslinie zwischen D. 1 einerseits und G. 5 bis C 7. andererseits angegeben ist. Auf 
der Vorderseite reichte diese längliche Partie in derselben Längenausdehnung nicht ganz 
bis zur Mittellinie. 

3. N. Vor 18 Jahren Bruch des linken Oberarms im Ellbogengelenk. Vollkommen 
ausgeheilt damals. Auch niemals Beschwerden bei der Arbeit (Schlosser). Während des 
wolbynischen Fiebers außerordentlich heftige Schmerzen in dem Gelenk. Nachdem alle 
anderen Beschwerden bereits verschwunden, blieben Schmerzen in dem Gelenk zurück. 
Außer den hyperalgetischen Zonen an den Unterschenkeln und an der Stirn ist hier 
noch eine solche Zone am linken Arm festzustellen. Sie fängt am unteren Drittel des 
Oberarms an und hört bereits am unteren Ende des oberen Drittels des Vorderarms auf. 
Sie verläuft fast zirkulär um den Arm und läßt nur auf der Beugeseite in der Mitte 
eine längliche Partie frei. 

4. Rö. Vor 3 Jahren Verstauchung des linken Fußes, die keinerlei Beschwerden 
zurfickließen. Während des wolbynischen Fiebers dort sehr heftige Schmerzen. An 
manchen Tagen waren die Schmerzen nur auf den linken Fuß beschränkt. Die typische 
hyperalgetische Zone des linken Unterschenkels wird nach unten, zu breiter; dehnt sich 
fast über den ganzen Fußrücken aus und geht von hier aus noch mit einem schmalen 
zirkulären Streifen oberhalb des Hackens um den Fuß herum. 

5. Wa. Vor 6 Monaten leichte Verstauchung des linken Kniegelenks. Doch 
dauernd Dienst getan. Seit Ausbruch des wolbynischen Fiebers nahmen die Schmerzen 
in dem Gelenk außerordentlich zu. Die typische hyperalgetische Zone am linken Unter¬ 
schenkel geht hier nach oben über das Kniegelenk hinaus und umfaßt dasselbe fast 
zirkulär. 

Wenn ich also in meiner früheren Arbeit gesagt habe, daß hyperalgetische 
Zonen beim Wölhynischen Fieber an den oberen Extremitäten nicht Vorkommen, 
will ich diese Behauptung heute doch einschränken. 

Es scheinen aber derartige hyperalgetische Zonen an den Extremitäten nur 
vorzukommen, wenn sie bereits der Sitz früherer Verletzungen gewesen sind. 

Bei einigen anderen Patienten (4) ließ mich eine Rötung und Schwellung der 
Extremitätengelenke anfangs an akuten Gelenkrheumatismus denken, bis die Kurve 
und der weitere Verlauf der Erkrankung deutlich auf Wolhynisches Fieber hin¬ 
wiesen. 

Da nün, wie ich bereits in meiner vorigen Arbeit betont habe, Gelenk¬ 
schwellungen und Rötungen sicherlich nicht in das Krankheitsbild des Wolhyni- 
schen Fiebers gehören, so gelang es mir auch in allen diesen Fällen mit Gelenk- 


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364 


Ernst Mosler 


Schwellungen und Rötungen anamnestisch nachzuweisen, daß diese Patienten in 
vergangenen Jahren einmal an akutem Gelenkrheumatismus gelitten hatten. 

Die hyperalgetischen Zonen bei derartigen Kranken umfassen hier in breiter 
Ausdehnung die betreffenden «Gelenke, vornehmlich der unteren Extremitäten, und 
gehen meistens zirkulär um die Gelenke herum. 

Die Prüfungen sind auch liier stets noch angestellt worden, nachdem Schwel¬ 
lung und Rötung der Gelenke vorübergegangen waren. Trotzdem blieben die 
hyperalgetischen Zonen, die die Gelenke einrahmten, noch lange Zeit bestehen. 

Hier an dieser Stelle möchte ich auch einen Kranken erwähnen, der seit 
Jahren an Plattfußbeschwerden litt. Auch bei diesem waren während seiner Er¬ 
krankung an Wolhynischem Fieber die Fußgelenke leicht gerötet und geschwollen 
und außerordentlich stark schmerzhaft. 

Diese Schmerzhaftigkeit dauerte viele Wochen an, zn einer Zeit also, wo der 
Kranke bettlägerig war und keine Belastung der schwachen Gelenke erfolgte. 

An vielen dieser einmal erkrankten Körperstellen befinden sich mehr oder 
minder ausgedehnte, ziemlich scharf abgegrenzte hyperalgetische Zonen, die auch 
bei häufiger Überprüfung annähernd immer denselben Umfang einnehmen. 

Seit meiner letzten Veröffentlichung habe ich auf meiner Nierenabteilung 
8 Nephritiker lange Zeit beobachtet, bei denen ich außerdem einwandfrei ein 
Wolhynisches Fieber feststellen konnte. In allen diesen Fällen hat es sich aber 
meiner Auffassung nach, wie ich das auch bereits in meiner vorigen Arbeit betont 
hatte, lediglich um eine zufällige Kombination gehandelt. In einem Falle ließ 
sich sogar mit Sicherheit nachweisen, daß der Betreffende das Wolhynische Fieber 
sich erst einige Wochen nach Beginn der Nierenentzündung zugezogen hatte. Der 
stets läusefreie Kranke wurde aus äußeren Gründen wegen Verlegung der Station 
eines Tages umgebettet und zufällig in ein Bett gelegt, in dem vorher ein Wol- 
hyniker gelegen hatte. Er zog sich dort gleich am ersten Tage einen Biß durch 
eine Laus zu. Der erste Fieberanfall kam nach 18 Tagen. 

Besonders schlimm sind diejenigen Wolhyniker daran, die früher einmal einen 
funktionellen oder organischen Krankheitsbefund des Nervensystems aufzuweisen 
hatten. 

Leute, die schon früher an Kopfschmerzen oder Migräne litten, leiden unter 
unsagbaren Kopf- und Augenschmerzen, die selbst an den fieberfreien Tagen nicht 
verschwinden und bei denen unsere gebräuchlichen und sonst gut wirksamen 
Antipyretica uns vollkommen im Stiche zu lassen scheinen. 

Die hyperalgetische Stirnzone ist bei diesen Patienten außerordentlich aus¬ 
gedehnt und umfaßt vielfach den Bereich des ganzen ersten Trigemimusastes. 

In ähnlich hartnäckiger Weise trat eine Ischias bei einem Patienten auf, der 
jahrelang von seinem Ischiasleiden verschont geblieben war. Die Schmerzen in 
dem früher erkrankten Bein waren das Anfangssymptom des Wolhynischen Fiebers. 
Erst 6 bis 8 Tage später, wie ich hier selbst unter meinen Augen beobachten 
konnte, kamen die anderen Beschwerden dazu. (Muskelschmerzen in dem anderen 
Bein, Druckempfindlichkeit des anderen Ischiasnerven, Kopfschmerzen, Schienbein¬ 
schmerzen.) 

Das Wolhynische Fieber nahm einen milden Verlauf, mit drei Paroxysmen 
in fünftägigen Intervallen schien die Krankheit erledigt. Das rudimentäre Fieber- 


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Die Beziehungen des Wolbynischen Fiebers zu anderen Krankheiten. 


365 


Stadium war kurz. Die Schmerzen in dem Bein, das früher schon einmal von 
einer Ischias befallen war, blieben jedoch in unverminderter Stärke fortbestehen, 
so daß man nunmehr lediglich von einer einseitigen Ischias mit einem hochgradigen 
Lasegueschen Symptom und mit stark gesteigertem Achillessehnen-Reflex sprechen 
konnte. Die hyperalgetische Zone an diesem Bein, war von Anfang an sehr aus¬ 
gedehnt, ging vom oberen Patellarrand bis zur Knöchelgegend und umfassste noch 
einen Teil der Wade, während an dem anderen Bein nur das mittlere Drittel des 
Schienbeins hyperalgetisch war. 

Ich habe schon in meiner vorigen Arbeit erwähnt, daß ich häufig Gelegenheit 
hatte, bei Leibschmerzen das ganze Colon, besonders das Colon sigmoideum stark 
spastisch kontrahiert zu finden. Es waren dies alles Kranke, die während des 
Wolhynisehen Fiebers, zum Teil auch schon vorher, an Dickdarmkatarrh erkra,nkt 
waren. Bekanntlich ist ja der Dickdarm der Darmabschnitt, der von nervösen 
Einflüssen besonders stark abhängig ist. 

Ich möchte fast vermuten, daß die bei dem Wolhynischen Fieber von mir 
häufig beobachteten wiederkehrenden Dickdarmaffektionen vorwiegend auf nervöser 
Basis beruhen. Denn selbst bei vorsichtigster Diät und dauernder Bettruhe sah 
ich wiederholt. Colonkoliken auftreten mit Abgängen von Blut und Schleim. Fieber¬ 
bewegung bestand dabei gewöhnlich nicht, auch klangen nach Darreichung von 
geringen narkotischen Dosen die Anfälle schnell ab. 

Einen ähnlichen Eindruck erweckten in mir vier Fälle von häufigem Urindrang, 
zum Teil mit Blasentenesmen, bei denen es mitunter sogar zu Bettnässen kam, wo 
niemals, auch nicht von urologischer Seite (Stabsarzt Dr. Wossidlo), eine Organ¬ 
erkrankung des Harnapparates festgestellt werden konnte. 

In wie weit der Sympathicus bei derartigen Eingeweideaffektionen eine Rolle 
spielt, ist ja noch nicht hinreichend geklärt. Mit Sicherheit läßt sich nur behaupten, 
daß hier vorwiegend nervöse Einflüsse in Betracht kommen. Und so sprechen 
diese Tatsachen ebenso wie die früheren Darlegungen von Goldscheider 1 ), 
Richter 2 ) und mir auch dafür, daß bei dem Wolhynischen Fieber vorwiegend 
der nervöse Apparat des Körpers in Mitleidenschaft gezogen wird. 

•) Goldscheider; Deutsch, med. W. 1917, Nr. 21. 

») Richter, B. kl. W. 1917, Nr. 22. 


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Alois Strasser 


301» 


XXIII. 

Malariarezidiv und Heilung. 

Aus dem k. und k. Reservespital Nr. 1 in Wien. 

(Kommandant: Stabsarzt Dr. G. Hay.) 

Von 

Professor Dr. Alois Strasser, 

Chefarzt der internen Abteilung. 

Die Therapie der Malaria erschien bis zur Überflutung unserer Spitäler mit 
allen Formen dieser Erkrankung, besonders durch die Nocht-Kochsche Vor¬ 
schrift in sicheren Bahnen zu gehen. Nun machten wir die Erfahrung, daß un¬ 
zählige Varietäten erscheinen, bei denen die stets bewährte Kur versagt und die 
Frage der gründlichen Heilung steht wieder im Vordergründe. 

Ich sah eine große Anzahl von Fällen, die noch teilweise unter meiner 
Aufsicht der typischen Nocht-Kochschen Kur unterworfen waren und in unregel¬ 
mäßigen Intervallen Anfälle hatten, meist mit positivem Plasmodienbefunde im 
Blute. Meist habe ich mir derart geholfen, daß ich die Chininkur vollständig 
aussetzte und ruhig wartete, bis die Anfälle irgendeinen greifbaren Typus an- 
nahrnen, dann gab ich Chinin nach der alten Methode durch einige Tage in 
großen Dosen (2,5 g durch 5 Tage, dann 10 Tage je 1,0 g) und, hatte in den aller¬ 
meisten Fällen vollen Erfolg. Diese konservative Methode ist fast immer durch¬ 
führbar, wenn nicht hochgradige Kachexie zwingt, möglichst jeden „unnötigen“ 
Anfall zu vermeiden. Aber auch bei diesen bleibt fast nichts anderes übrig, als 
den Typus abzuwarten, und nur in sicheren Fällen von Tertiana gelang es einige- 
male, genaju, wie Biedl beschrieb, durch Neosalvasarn die Leute wenigstens für 
einige Zeit anfallsfrei zu machen; die bei Wiederkehr der Anfälle eingeleitete 
starke Chininkur hatte dann auch guten Erfolg. 

Das Wiederauftreten der Anfälle und der Plasmodien im Blute nach jeder 
Art von Therapie spricht für die Latenz der Infektion, für einen Zustand, der 
schon oft Gegenstand der Diskussion war und neuerlich der Forschung sehr zu¬ 
gänglich wurde. 

Die Anfälle kommen bei latenter Infektion von selbst wieder, d. h. ohne 
daß wir eine andere Ursache wüßten, als die Wiederentwicklung aktiver Gene¬ 
rationen resp. eine gehörige Vermehrung der Plasmodien. Daß aber die Latenz 
oft sehr lange Zeit vorhanden sein kann, ohne daß Anfälle auftreten, ist bekannt 
und es überrascht kaum, wenn man den Bericht von einem 42 Jahre nach der 
Infektion aufgetretenen „Rezidiv“ einer Malariainfektion liest (von der Hayden)? 
Die allgemeine Ansicht geht dahin, daß Generationen von Plasmodien in paren- 


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Malariarezidiv und Heilung. 


307 


chymatösen Organen (vorwiegend in der Milz) und im Knochenmark wechseln 
können und die Akutisierung des Prozesses, d. i. das Rezidiv durch das Eintreten 
der Plasmodien in die Blutbahn entsteht. 

Unter welchen Umständen dies stattfindet, wird verschieden angesehen. Die 
Ansicht, daß die hohe Außentemperatur mit einer Anpassung der Plasmodien an 
die Flugzeit der Anopheles (Selektion) das auslösende Moment darstellt und die 
Parthenogenese durch die Hitze, die Amphimixis im Magen der Mücke unter 
niedrigen Temperaturen stattfindet, und daß in kühl gewordenen Extremitäten des 
menschlichen Körpers auch die Befruchtung von Makrogameten stattfinden könne 
(F. Lenz), scheint mir wenig begründet und schwer zugänglich, auch durch die 
Beobachtung der Rezidiven zu jeder Jahreszeit nicht gestützt. Andererseits be¬ 
friedigen auch die Ansichten nicht, daß die Widerstandsfähigkeit des Körpers 
durch irgendwelche Zufälle (z. B. Blutverlust) so herabgesetzt wird, daß die 
Plasmodien sich im Blute „wieder breit machen“ konnten (v. Th all er) oder daß 
Luftdruckschwankungen die Ursache der Rezidiven wären (L. Appel). 

Ziemlich einheitlich wird von den meisten neuen Beobachtern neuerdings 
bestätigt, daß starke Muskelarbeit, Erhitzungen, Abkühlungen, Erkältung (?), See¬ 
krankheit, Traumen besonders der Milzgegend, Diätfehler, Alkoholmißbrauch und 
Ortswechsel Rezidiven der Malaria hervorrufen, und daß die „Transposition des 
Blutes der inneren Organe in die Peripherie“ den Weg von der Latenz zum 
Rezidiv bezeichnet (Biedl, Garin, Silatschek und Falta, Reinhard, Külz, 
v. Thaller). 

Hierzu kommen noch die neuen Beobachtungen von Provokation von Malaria¬ 
anfällen durch Röntgenbestrahlung und Höhensonnenbestrahlung der Milz (Biedl), 
durch Bestrahlung mit ultravioletten Strahlen (Reinhard), nach Tiefenbestrahlung 
der Milz (F. Deutsch), nach Impfung mit Typhus-, Blattern-, Streptokokken- 
imd Gonokokkenvakzine (v. Thaller und Sieber), nach Injektion von Pferde¬ 
serum (Brauer, Schmidt, Saxl, v. Thaller). Auch bei diesen tritt vielfach 
die Ansicht von der Transposition des Blutes im obigen Sinne hervor. 

Strasser und Wolf haben vor längerer Zeit versucht, diese Erscheinung einer 
einheitlichen Auffassung zugänglich zu machen. Sie gingen von der Annahme aus, 
daß die Milz fast den alleinigen Herd der latenten Infektion darstellt, was wohl als 
unbestritten richtig angesehen werden kann. Sie bezeichneten ferner fast alle das 
Rezidiv bewirkenden Schädlichkeiten als solche, die eine mehr oder minder 
starke Kontraktion der Milz verursachend, diese zur Auspressung ihres Inhaltes 
in die Blutbahn veranlassen. Tatsächlich ist die Milzkontraktion durch Temperatur¬ 
einflüsse, Traumen usw. sicher nachgewiesen (Strasser und Wolf), und die diäte¬ 
tischen Exzesse und besonders die Seekrankheit mit dem Erbrechen stellen einen 
so gewaltigen Reiz des Vagus dar, daß damit eine Milzkontraktion stattfinden 
muß. Ortswechsel, besonders der Aufenthalt in hoher Luft, ist doch auch sicher 
durch Abströmen des Blutes von den parenchymatösen Organen zur Peripherie ge¬ 
kennzeichnet und starke Muskelarbeit entleert auch das Splanchnikusgebiet vom 
Blute zugunsten der Muskulatur oder sagen wir schlechtweg, der Peripherie. 

Die „Transposition des Blutes“ ist also als sicher anzusehen. 

Wenn nun tatsächlich die Plasmodiengeneration aus der Milz herkommt, 
dann muß sie die ganze Leber passieren, bevor sie in die freie Blut bahn kommt, 


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3G8 


Alois Strasser 


wie denn auch Rekurrensspirillen latent in der Milz lebend, durch die Leber in 
die Blutbahn treten. Ob nun die Plasmodien oder Gameten frei oder in Zellen 
eingeschlossen die Leber passieren, wäre durch gelegentliche Beobachtungen fest¬ 
zustellen, hat aber für das Auftreten des Rezidivs zunächst eine zweite Bedeutung. 

Ähnlich dürfte der Vorgang sein, wenn die Milz mit Röntgenstrahleh oder 
mit der Höhensonne bestrahlt wird, während mir der Vorgang bei der Provokation 
eines Rezidivs durch die Milchinjektion oder der Typhusschutzimpfung zunächst 
nicht klar ist. Celli spricht von Auftreten des Malariaanfalles und meint, 
„der Rheumatismus mag die Widerstandskraft des Organismus gebrochen haben“. 
Diese Ansicht ist für die Erklärung des Malariarezidivs zu schwankend, als daß 
man sie gebrauchen könnte. Es mag auch bei dem Albumoseniieber oder ander¬ 
weitiger Infektion ^ie Änderung der Kreislaufsverhältnisse im Sinne einer Trans¬ 
position des Blutes eine größere Rolle spielen. 

Anders gestaltet sich die Frage durch Biedls Beobachtung, daß Muskel¬ 
arbeit, starke Nahrungsaufnahme und Alkohol, weniger sicher Bäder und Duschen 
den Fieberanfall ausgelöst haben, resp. „dessen Eintritt beschleunigen konnten, 
wenn vorher Plasmodien im Blute waren“, was also nur eine Abkürzung der be¬ 
stehenden Latenz bedeuten würde, und weiter, daß er niemals nach den genannten 
Schädigungen (Eingriffen) Plasmodien im Blute gefunden hat, wenn sie vorher 
dort nicht zu finden waren. 

Es ist schwer zu analysieren, welchen Einfluß die genannten provokatorischen 
Einflüsse angesichts der Hauptthese der Arbeit Biedls haben, daß die Schizogonie 
nicht auf dem Wege der Parthenogenese, sondern nur nach vorangegangener Be¬ 
fruchtung der Makrogameten zustande kommt, daß also der Fieberanfall an den 
Befruchtungsvorgang gebunden ist. Man müßte denn annehmen, daß die ge¬ 
nannten Einflüsse den Befruchtungsvorgang begünstigen, doch ist für diese An¬ 
nahme eine reale Basis bisher nicht vorhanden. Auch ist noch nicht vollständig 
klar, wie der Befruchtungsvorgang den Fieberanfall an sich auslösen soll, zumal, 
wenn er im menschlichen Körper überhaupt stattfindet, was ich nach Biedls Be¬ 
obachtungen kaum bezweifeln möchte, er doch während der Latenz der Infektion 
etwa in der Milz auch stattfinden kann, ohne daß ein Fieberanfall ausgelöst 
würde. Es mag wohl doch so sein, daß der Fieberanfall entsteht, wenn im 
ganzen kreisenden Blute große Mengen von Blutkörperchen befallen werden und 
die .Sporulation mit dem Zerfall der Blutkörperchen erreicht ist. Zeitlich fällt 
das Fieber jedenfalls mit der Sporulation zusammen. Es ist also wieder die Vor¬ 
aussetzung für den Anfall, daß große Mengen von Plasmodien im kreisenden 
Blute sein müssen. 

Ich habe meiner Ansicht in der mit Wolf geschilderten Auffassung ent¬ 
sprechend, bei meinen Malariafällen von thermischen Wirkungen zum Zwecke der 
Provokation von Rezidiven reichlich Gebrauch gemacht. Ich kann natürlich 
nicht mit Sicherheit sagen, daß bei meinen Fällen die Wiederkehr der An¬ 
fälle ohne die thermischen Prozeduren unterblieben wäre, im Gegenteil, die 
allergrößte Mehrzahl befand sich im Stadium der latenten Infektion mit unregel¬ 
mäßig wiederkehrenden Anfällen und auch ich kann analog der Beobachtung von 
Biedl erklären, daß ich keinen Fall gesehen habe, der vor den thermischen 
Prozeduren von Plasmodien frei gewesen wäre und nach denselben solche im 


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Malariarezidiv und Heilung. 


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Blute gehabt hätte. Mit Sicherheit konnte aber in vielen Fällen ein 
deutlicher Einfluß der Prozeduren auf den Prozeß nachgewiesen 
werden. Ich verwendete der Einfachheit halber die Kombination eines heißen 
Bades von 40° C, 15—20 Minuten mit einer nachfolgenden kalten Strahldusche 
auf die Milzgegend und fand, daß in Fällen mit ganz unregelmäßigem Fieber¬ 
verlauf mit Mangel eines greifbaren Typus der Anfälle, bei denen nach Aussetzen 
des Chinins mehr oder minder lange Fieberpausen eingetreten waren, diese durch die 
genannten Prozeduren abgekürzt worden sind. Ich folgere die Abkürzung der 
Latenz daraus, daß nach mehrtägiger Anwendung typisches Fieber auftrat und 
.im Blüte reichlich Plasmodien zu finden waren, wiewohl vor den Prozeduren nur 
deren spärliche, vereinzelte nachgewiesen werden konnten. 

Ich teile eine Krankengeschichte mit, als Muster, die in vielen anderen 
Fällen sehr ähnlich geschildert werden könnte: 


Ltnt. W. S. Im Mai 1916 Eintritt in das Malariagebiet. Trotz Chininprophylaxe 
im Angnst erkrankt. Zunächst anfallsfrei nach Chinininjektionen, bekam nach einer 
zwölftägigen Marschleistung heftige Anfälle, trotzdem er intern fortlaufend Chinin nahm. 
Blutbefund positiv (Tertiana). Salvarsanversuche wegen Herzbeschwerden abgebrochen. 
Optochinkur ohne Erfolg. Nach vielen Chininkuren in mehreren Spitälern größere Fieber¬ 
pausen, zuletzt im November—Dezember 1916, nach je 10—13 Tagen zwei bis drei An¬ 
fälle in täglichen Intervallen. Vom 3. Dezember 1916 bis 6. Januar 1917 ohne Be¬ 
handlung, ein Anfall. Von Mitte Januar bis 13. März Anfälle alle 11—15 Tage bei 
Chininmedikation. 

13. März Aufnahme auf meine Abteilung. Am 14. und 15. je ein Anfall. Blut¬ 
befund positiv (Tertiana, reichlich Plasmodien). Milztumor groß. Chinin ausgesetzt, 
durch 16 Tage kein Anfall, im Blute außerordentlich seltene Plasmodien. Täglich heißes 
Bad 40° C 15 Min., danach kalte Milzdusche. Am 8. Tag Anfall mit reichlichem Plas- 
modienbefund, von da ab zweitägiger Typus. Chinin durch 5 Tage zu 2,5 g, fortgesetzte 
Bäderbehandlung; danach 1,0 g Chinin täglich durch drei Wochen. Nach einem weiteren 
Monate, also zusammen 8 Wochen anfallsfrei. Blut frei von Plasmodien, Milztumor 
geschwunden. 

Ich kann also weder in diesem, noch in anderen Fällen davon sprechen, daß 
die thermischen Einflüsse das Wiederauftreten der Anfälle allein verursachten, 
denn sie wären ohne die Eingriffe wohl sicher auch gekommen, da die Leute 
eben ungeheilt waren, aber die Abkürzung dfer Latenz schien mir mit zwingender 
Deutlichkeit hervorzugehen; und dann noch etwas, worauf ich in Hinsicht auf die 
Dauerheilung ein noch größeres Gewicht legen möchte, daß provokatorische 
Prozeduren, in meinen Fällen die thermischen Einflüsse, die Etablie¬ 
rung einer weiteren Latenz, ein Unterschlüpfen der Infektion in die 
parenchymatösen Organe verhinderten. 

Mannaberg sagt: Die Therapie vermag in dem Guerillakrieg gegen einen 
in den parenchymatösen Organen verschanzten Gegner nichts auszurichten, doch 
schlägt sie meist erfolgreich drein, wenn der Feind seine Truppen ins freie Feld 
der Blutbahnen entsendet. 

Warum die entsprechenden Medikamente, hier also hauptsächlich das Chinin, 
die in Latenz verharrenden Plasmodien nicht angreifen kann, darüber kann man 
sich unschwer plausible Vorstellungen machen. Wenn die Chiniuspannung im 
Blute sehr groß ist, dann ist es wohl möglich, daß das Mittel in gehöriger Kon¬ 
zentration überall hinkommt, um als Amöbengift wirksam einzugreifen; welche 

ZeiUchr. I. physik. u. diät. Therapie Bd. XXII. Heft 8]9. 24 


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A. Strasaer, Malariarezidiv und Heilung. 


etwa enorme Mengen von Chinin hierzu nötig sind, das wissen wir nicht. Um 
aber nur die Milz als Hauptort der Latenz ins Auge zu fassen, kann man sehen, 
daß der Blutumlauf in ihr ein ganz anderer ist als in einem Kapillargebiete irgendwo 
im Körper. Die Milzarterien übergehen unmittelbar in die Massen der Milz¬ 
pulpa (Jawein) und es ist keine große Phantasie nötig, um sich vorstellen zu 
können, daß Ströme von Blut an großen Haufen von Zellen vorübergehen, ohne 
mit ihnen in Berührung kommen zu müssen. In einem Kapillargebiete aber 
ist jede einzelne Zelle gezwungen, mit dem Blutserum in innigste Be¬ 
rührung zu treten und da wird eine viel geringere Chininspannung ge¬ 
nügen, um ihre antimykotische und amöbentötende Wirkung auszu¬ 
üben. Wir wissen ja aus dem berühmten Hippursäureversuch von Schmiede- 
berg-Bunge, welche geringe Mengen von Chinin genügen, um die vitale Tätig¬ 
keit der Zellen (hier die Synthese der Hippursäure aus Benzoesäure und Glykokoll) 
aufzuheben. 

Neben der Abkürzung der Latenz erscheint mir also als das Wich¬ 
tigste, alle Methoden anzuwenden, damit die Plasmodien möglichst in 
der freien Blutbahn bleiben. Die Verwendung der geschilderten ther¬ 
mischen Methoden ist sehr bequem und überall durchführbar. Es ist wahr¬ 
scheinlich, daß mit anderen Methoden, wie Röntgen- oder Quarzlampenbestrahlung 
der Milz, dasselbe Resultat erreicht werden kann; mit Milchinjektionen erzielte 
ich den vortrefflichsten Erfolg in einem sehr hartnäckigen Falle von Tropica mit 
schwerer Kachexie. Nach zwei Milchinjektionen traten hintereinander einige An¬ 
fälle auf, die dann durch intravenöse Chininbehandlung in kurzer Zeit zum 
Schwinden gebracht worden sind, wobei die Kachexie auch erfreulich zurückging. 

Ich möchte also das Wichtigste aus meinen Beobachtungen in folgendem 
zusammenfassen: 

1. Bei vielen, trotz ausgiebiger Chininprophylaxe an Malaria erkrankten 
Personen führt die übliche Nocht-Kochsche Behandlung nicht zur Heilung, es 
entsteht oft eine Latenz der Infektion. 

2. Diese Latenz kann durch verschiedene Eingriffe, unter anderen auch durch 
thermische Prozeduren (heiße Bäder mit kalten Milzduschen), abgekürzt, resp. 
ein Rezidiv hervorgernfen werden. 

3. Die Provokation der Anfälle beruht mit ziemlicher Sicherheit auf Aus¬ 
schwemmung des Blutes (Plasmodien) aus parenchymatösen Organen in die freie 
Blutbahn, und ist 

4. in therapeutischer Hinsicht dämm von großer Bedeutung, weil das Chinin 
im peripheren Blute viel bessere Gelegenheit hat, seine amöbenschädigende 
Wirkung auszuüben. 

Literatur. 

Appel, L. Wr. kl. Woch. 1915. Nr. 29. 

Biedl, A. Wr. kl. Woch. 1918. Nr. 14-17. 

Brauer, L. Wr. kl. Woch. 1917. Nr. 4. 

Deutsch, F. Wr. kl. Woch. 1917. Nr. 7. 

Garin. Presse med. 1917. Nr. 31. 

Heyden, L. v. d. Niederl. Tijdschr. v. Geneesk. 1915. S. 1680. 

Jawein. Virchows Arch. Bd. 161. S. 461. 


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Walterhöfer, Über infektiöse Lebererkrankungen. 


371 


Külz, L. Müneh. med. Woch. 1917 Nr. 4. 

Lenz. F. Münch, med. Woch. 1917. S. 394. 

Mannaberg, J. Nothnagels Handbuch. Malaria. 

Reinhard, P. Münch, med. Woch. 1917. S. 1193. 

Schmidt, R. Med. Klin. 1916. Nr. 7. 

Saxl, P. Münch, med. Woch. 1196. S. 116. 

Silatschek und Falta. Münch, med. Woch. 1917. S. 93. 
Str&sser und Wolf. Pflügers Archiv Bd. 108 und Wr. Klinik 1905. 
Thaller, L. v. Wr. kl. Woch. 1917. Nr. 4. 


XXIV. 

Ober infektiöse Lebererkrankungen. 

Aus dem Res.-Laz. Nürnberg-Ludwigsfeld. 

Von 

Stabsarzt d. R. Dr. Walterhöfer, 

leit. Arzt der Station B. 

(Assistent am poliklinischen Institut für innere Medizin, Berlin.) 

Der klinische Befund bei Beteiligung der Leber an infektiösen Erkrankungen 
erstreckt sich gewöhnlich auf den Nachweis einer Vergrößerung und Schmerz¬ 
haftigkeit des Organes. Beide Erscheinungen pflegen mit Abklingen der akuten 
Symptome zumeist restlos zu verschwinden. Ernste Folgen sind zu erwarten, wenn 
aus der akuten Attacke Verkleinerung und Unregelmäßigkeit der Form hervorgehen. 
Diagnostisch betreten wir festeren Boden, wenn die Beteiligung der Leber sich 
durch Ikterus kenntlich macht. Gerade bei Infektionskrankheiten bilden die durch 
Einwirkung der Erreger oder seiner Gifte hervorgerufenen Störungen der Leberzelle 
selbst die hauptsächlichste Ursache dieses Ikterus. Eine Quellung der Leberzellen, 
vergesellschaftet mit veränderter Beschaffenheit der Galle, beeinträchtigt Durch¬ 
gängigkeit und Abfluß in den feinsten Gallengängen, so daß es zum Ikterus kommt, 
ohne daß ein grob mechanisches Hindernis in den Gallenwegen sichtbar ist. 

Inwieweit manche Symptome bei nachgewiesener Leberbeteiligung auf Ver¬ 
änderungen der Leberfunktion — Leberinsufflzienz und hepatische Autointoxikation 
— zurückzuführen sind, bedarf vorkommenden Falles stets einer sorgfältigen Er¬ 
wägung. Untersuchungen haben gezeigt, daß alimentäre Lävulosurie, die von vielen 
Seiten als feinste Probe auf die Funktion der Leberzelle anerkannt wird, mehr 
oder weniger ausgesprochen bei allen Infektionskrankheiten vorkommt. 

Die Erscheinungen der Lebererkrankungen in den verschiedendsten Schat¬ 
tierungen sind wohl gelegentlich einmal bei allen erdenklichen Infektionskrankheiten 
anzutreffen. Immerhin gibt es bestimmte ansteckende Krankheiten, bei denen die 
Beteiligung der Leber mit einem gewissen Prozentsatz von vornherein in die Rechnung 
eingestellt werden muß. Bei einer anderen Gruppe geben die Lebersymptome dem 

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Walterböfer 


ganzen Krankheitsbild das Gepräge und bilden einen derartig integrierenden Bestand¬ 
teil, daß nach ihnen die Infektion ihren Namen erhalten hat. 

Fälle aus der Gruppe des Icterus infectiosus kommen bei meinem hiesigen 
Krankenmaterial sporatisch ständig zur Beobachtung. Sie verlaufen häufig genug 
als einfacher „Icterus catarrhalis“. Erst genaue Nachforschungen über den Beginn 
decken die wahre Natur auf. Nicht selten bringt man noch in Erfahrung, daß am 
letzten Aufenthaltsorte gleiche Erkrankungen öfters aufgetreten sind. Andere Fälle 
sind schwerer. Sie beginnen ebenfalls mit einem kurz dauernden Fiebefr und 
Ikterus. Zwei bis drei Monate zieht sich dann aber der Ikterus hin in eintönigem, 
bei Bettruhe fast beschwerdefreien Verlauf, nur ab und zu unterbrochen von 
ephemeren Fiebersteigerungen bis 40°. 6 bis 7 solcher Fiebersteigerungen kommen 
vor, eine sichtbare Veränderung im Krankheitsbilde findet dadurch nicht statt, uns 
bekannte Krankheitserreger (Malaria, Rekurrens, die Spirochäte der Weil’schen 
Krankheit, Strepto-Staphylokokken) sind nie nachweisbar. 


Einen hierher gehörigen klinisch interessanten Fall beobachtete ich im 
Jahre 1916: • l 

Nach den Aufzeichnungen des Krankenblattes erkrankte der 22 jährige Fahrer N. 
nach 8 monatigem Frontdienst am 24. Jnni 1916 in Galizien plötzlich nnter Fieber, 
FrostgefQhl, Durchfällen, intensiven Kreuzschmerzen und Schmerzen in den Beinen. Am 
nächsten Tage wurde eine Gelbfärbung der Hant und -eine braune Farbe des Urins 
bemerkt. Da schweres Krankheitsgefühl beBtand und die Schmerzen im Kreuz und 
Beinen stärker wurden, erfolgte Krankmeldung und am 5. Krankheitstage Aufnahme ins 
Kriegslazarett. Bei seiner Einlieferung zeigte der Kranke ein elendes Aussehen, die 
Körperwärme betrug 39,9. Die Haut war intensiv gelb gefärbt. Am ganzen Körper 
fanden sich zahlreiche „rote Papeln“, die an den Oberschenkeln nm die Haarfollikel 
herum hämorrhagisch sind. Über den Lungen Katarrh. Die Milzdämpfung ist deutlich 
vergrößert, die Leberdämpfung tympanitisch verdeckt. Der Leib war aufgetrieben. Im 
Stehen zeigte sich bis handbreit über das Schambein Dämpfung, die sich beim Lage¬ 
wechsel ändert. An den Unterschenkeln leichtes Ödem. Der Urin enthielt Eiweiß und 
Gallenfarbstoff. Im Sediment fanden sich hyaline und granulierte Zylinder, viele Nieren- 
epithelien und Leukozyten. Am 15. Krankheitstage wurde N. auf meiner Station auf¬ 
genommen. Bei dem früher stets gesunden Manne bestand noch mäßiges Fieber. Die 
Hautfarbe war leicht ikteiisch. Der Leib war. stark aufgetrieben, der Bauchumfang 
betrug in Nabelhöhe 96 cm. Ein freier Askites war nachweisbar. Milz vergrößert, 
Leber nicht zu fühlen. Das Skrotum stark ödematös geschwollen, an den Unterschenkeln 
mäßige Flössigkeitsansammlung. Der Urin war frei von Eiweiß, Zucker und Gallenfarb¬ 
stoff, Urinmenge 1500 bei 1016 spez. Gewicht. Vom 17. Tage an war der Kranke 
fieberfrei, nur am 24. Krankheitstage stieg die Temperatur plötzlich auf 38,4, ohne daß 
im Befinden des Kranken sich etwas änderte. In der Folgezeit setzte ohne medikamentöse 
Beeinflussung eine mächtige Diurese ein. Die Urinmengen stiegen auf 3000 ccm, Ascites 
ging zurück, die Ödeme am Skrotum verschwanden völlig. Am 31. Krankheitstage betrug 
der Leibumfang nur noch 81 cm. Nach leidlichem Wohlbefinden wurde am 54. Krank- 
heitstage eine Zunahme des Ikterus bemerkt. Im Urin trat wieder Gallenfarbstoff auf, 
der Stuhl war jedoch nicht entfärbt. Zu gleicher Zeit stieg der Ascites. Da als Folge 
der Verdrängung Atemnot auftrat, wurden am 63. Tage mittels Bauchpunktion 6 Liter 
Ascites entleert. Schon am nächsten Tage war der Ascites jedoch wieder angestiegen. 
In der Nacht traten plötzlich außerordentlich heftige Kreuzschmerzen auf, die trotz 
Morphium die Nachtruhe störten. Am anderen Morgen sieht der Kranke tiefgelb aus. 
Die Temperatur ist leicht erhöht, an Lippen und Nasenflügeln war ein Herpes auf¬ 
getreten. Auffallenderweise stieg die Urinausscheidnng auf 5000 ccm. Der Urin enthielt 
stark Bilirubin, aber kein Eiweiß. Nach 5 tägigem, mäßigem Fieber trat am 70. Krank- 


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Über infektiöse Lebererkrankungen. 


373 


heitstage Entfieberung ein. Der Batichumfang 'betrag jetzt 108 cm, der Nabel war 
bläschenförmig aufgetrieben. Am 74. Tage wurden nochmals durch Punktion 7 s / 4 Liter 
entleert, ohne daß der Patient länger als einen Tag Erleichterung davon gehabt hätte. Ani 
76. Tage hatte der Ikterus einen außerordentlichen Grad erreicht. Während der Nacht 
wurde der Kranke unruhig, drängte aus dem Bett. Stuhl und Urin gehen unwillkfirlich 
ab. Am folgenden Morgen sank die Körpertemperatur auf 35,2, der Kranke war völlig 
benommen. Im Laufe des Vormittags erfolgte Erbrechen von 2 Eßlöffel Blut. Am 
Nachmittage wiederholte sich das Blutbrechen im verstärkten Maße und in der Nacht 
, trat im Coma der Exitus ein. 

Die während der hiesigen Beobachtung vorgenommenen Untersuchungen des Blutes, 
Stuhles und Urines auf Typhus, Paratyphus A und B fielen negativ aus. Malaria und 
Rekurrens konnten ebenfalls ausgeschlossen werden. Als am 65. Krankheitstage unter 
Fieberanstieg eine erneute Verschlimmerung eintrat, wurden Meerschweinchen geimpft, 
jedoch ohne Resultat. Gelegentlich der täglich vorgenommenen Untersuchung des Blutes 
im Dunkelfeld fielen am 69. Krankheitstage zahlreiche bewegliche Fäden im Blute auf. 
Die Bewegungen der Gebilde erfolgten nach verschiedenen Seiten des Gesichtsfeldes, 
so daß eine Beeinflussung durch Strömung ausgeschlossen schien. Auf seiner Wanderung 
konnte ein derartiges Gebilde durch mehrere Gesichtsfelder verfplgt werden. Die Fäden 
selbst zeigten untereinander verschiedene Größe, sie waren mehrfach gewunden und 
hatten an beiden Polen knopfartige Auftreibungen. In ihrer Gestalt erinnerten sie mich 
in allen Punkten an die auf dem Warschauer Kongreß demonstrierten Erreger der 
Weil’schen Krankheit. In gleicher Weise konnten die Gebilde am 70. und 71. Krank* 
heitstage nachgewiesen werden. Dann waren sie aus dem Blute verschwunden. In 
gefärbten Trockenpräparaten ließen sich die Gebilde nicht darstellen. Die geimpften 
Meerschweinchen blieben auch jetzt gesund. 

Die Untersuchung des Ascites ergab bakteriologisch negative Resultate; der Eiwei߬ 
gehalt betrag 6 °j 0Q .• Im Sediment erkannte man spärlich Lymphozyten und große einkernige 
Zellen. Die qualitative und quantitative Zusammensetzung des Blutes war bis kurz vor 
Krankheitsende normal. Am 74. Krankheitstage zeigte das Blut erhebliche Veränderungen, 
Es bestand sehr starke Polychromatophilie, grobe basophile Punktierung, Poikilozytose; 
kernhaltige, rote Blutkörperchen, Jollykörper und neutrophile Myelozyten waren zu finden. 
Die Wassermann’sche Reaktion war negativ. 

Das Ergebnis der Obduktion soll nur im Auszug mitgeteilt werden: Sämtliche 
Organe waren stark ikterisch verfärbt. In und unter der rechten Pleura fänden sich 
zahlreiche Blutpunkte. Die Leber lag unter dem Rippenbogen in der Zwerchfellaushöhlung 
zurfickgesunken. Sie war stark verkleinert. Nach dem Herausnehmen zeigte sie 
Mannsfaustgröße; ihre Maße betragen 24 :13 : 7 cm. Die Verkleinerung betraf das 
ganze Organ gleichmäßig. Die Leberoberfläche war derb höckerig, die einzelnen Höcker 
waren kirschgroß. Beim Einschneiden knirschte das Gewebe. Auf dem Durchschnitt 
sah man von einem derben, homogenen Gewebe umschlossene Inseln, die normale Leber¬ 
zeichnung erkennen ließen. Die Inseln überragten die Schnittfläche und waren von 
dunkelbraungelber Farbe. Die Gallenblase war enteneigroß, überragte um 2 Querfinger¬ 
breite den Leberrand. Sie enthielt eine reichliche Menge blaßgrüngelber fadenziehender 
Galle. Die Gallenwege waren frei. Die Milz war vergrößert, 15 : 9 : 4'^ cm. Die 
Kapsel war gespannt, das sich weichschneidende Gewebe war von gelbroter Farbe. Die 
Milzzeichnung ist erhalten. Die Nieren zeigten mikroskopisch außer der ikterischen 

Verfärbung nichts besonderes. Der Magen enthielt reichlich geronnenes Blut. Geschwüre 
waren nirgends zu sehen, dagegen war die Schleimhaut durchsetzt mit zarten eben 
sichtbaren roten Blutpunkten. Auch im ganzen Dünndarm bis hinunter zur Klappe 
fanden sich reichlich Blutgerinnsel und zahlreiche kleine Blutpunkte in der Schleimhaut. 
Geschwüre fehlten auch hier. Das Knochenmark der Röhrenknochen war gelblich weiß. 
Die Untersuchungen von Herzblut, Milzsaft, Lebersaft und Knochenmark im Dnnkelfeld 
und im gefärbten Trockenpräparat ergaben einen negativen Befund. Sämtliche Organe 
waren kulturell steril, mit Ausnahme von Milz und Niere, in denen bact. coli und bac. 


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Walterhöter 


bac. proteus gefunden wurde. Die am 9. 8. mit Herzblut, Milz, Leber, Ascites und 
Knochenmark geimpften Meerschweinchen lebten am 3. 10. 1916 noch und waren 
gesund geblieben. 

In Anbetracht des vorliegenden Obduktionsbefundes erübrigt es sich, in 
breite differentialdiagnostische Erörterungen einzutreten. Die mikroskopisch¬ 
anatomische Untersuchung der Leber ergab, daß zunächst eine hochgradige 
atrophisch Laänneksche Leberzirrhose vorlag. Daneben fanden sich in den oben 
erwähnten Inseln die Leberzellen vergrößert, getrübt, zum Teil mit fehlendem 
Kern als Zeichen einer trüben Schwellung' oder leichten parenchymatösen 
Degeneration, wie sie im Verlaufe von Infektionskrankheiten häufig angetroffen 
werden. Von einer Nekrose der Leberzellen konnte nicht die Rede sein. Auch 
an der Hand der klinischen Erscheinungen läßt sich das Bestehen zweier Er¬ 
krankungen dartun. Ursprünglich hatte der Patient eine gewöhnliche Leber¬ 
zirrhose, deren Entwicklung sich zweifellos über Jahre erstreckte. Auf welcher 
Grundlage sich hier die Leberzirrhose entwickelte, blieb unbekannt. Erscheinungen 
hatte die Erkrankung'bisher nicht gemacht, ein Ereignis, das nicht so auffallend 
ist. Eröffnet wurde die Krankheitsperiode durch eine Reihe von akuten Symptomen, 
die nur von einer Infektion herrühren konnten. Aus der elektiven Wirkung dieser 
Infektion auf die Leber, in Verbindung mit dem übrigen Symptomenkomplex: 
frischer Milztumor, Nephritis und Schmerzhaftigkeit der Skelettmuskulatur läßt 
sich mit einem gewissen Recht der Verdacht aussprechen, daß die Erkrankung 
der Weil’schen Krankheit außerordentlich nahe steht. Dabei sehe ich ab von 
einer Verwertung des spirochätenartigen Befundes, da ich den Beweis schuldig 
bleiben mußte, ob es sich tatsächlich um den Erreger handelte. Das Hinzutreten 
dieser die Leber besonders schädigenden Infektion zur vorhandenen bisher 
symptomlos verlaufenden Leberzirrhose brachte hierin eine verhängnisvolle Wendung. 
Der bisher vollkommen aufrecht erhaltene Pfortaderkreislauf wurde gestört. 
Bereits am 5. Tage sehen wir die Erscheinungen der Pfortaderstauung in voller 
Entwicklung, die nach vorübergehender Besserung einen hohen Grad erreichen 
und in Verbindung mit den Zeichen einer hepatischen Autointoxikation den Tod 
herbeiführen. 

Zu Zeiten vermehrten sich die Fälle von infektiösem Ikterus. Die Krank¬ 
heitsbilder waren dann einheitlich, so daß die Zugehörigkeit des einzelnen Falles 
zu dieser Epidemie klinisch leicht erkenntlich war. Eine derartige Häufung 
beobachtete ich im August, September, Oktober 1917. In gewissen Abständen 
voneinander erkrankten bald auf dieser, bald auf jener Baracke im ganzen 
25 Mann. Ich selbst erkrankte auch und kann daher den Verlauf der Infektion 
aus eigenster Erfahrung schildern. Dem Ausbruch der Krankheit gingen Prodromal¬ 
erscheinungen voran. Man fühlte sich matt und abgeschlagen. Gegen Abend 
traten mäßige Kopfschmerzen auf. Das Gefühl einer beginnenden Infektions¬ 
krankheit, die anders wird als eine gewöhnliche sogenannte Erkältung, wurde 
bestärkt, als nach 3 Tagen abendliche Fiebersteigerungen einsetzten, die stark 
remittierend allmählich Spitzen bis zu 40° erreichten. Vom 4. Fiebertage an war 
die Milz geschwollen. Das hohe Fieber hielt 5 bis 0 Tage an, um dann lytisch 
am 9. bis 11. Tage abzufallen. Der Urin war stets eiweißfrei, Diazo war negativ. 
Es bestanden niemals irgendwelche Schmerzen. Mit dem Abfall des Fiebers 


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Über infektiöse Lebererkrankungen. 


375 


trat nun ein Ikterus auf. Die »Leber war zum Teil recht erheblich geschwollen 
und mäßig druckempfindlich. Der Ikterus erreichte meistens einen hohen Grad, 
der Urin enthielt jetzt Bilirubin. Nur in den schweren Fällen war auch der 
Stuhl acholisch. Bei mir selbst hielt diese Acholie 3 Wochen an. Nach durch¬ 
schnittlich 5 wöchiger Dauer war die ikterische Verfärbung wieder verschwunden. 
Allen Fällen gemeinsam war eine erhebliche Reduzierung des Ernährungszustapdes. 
Die Rekonvaleszenz war ungestört, zog sich aber über eine ganze Spanne Zeit hin. 

Die Gleichmäßigkeit der Symptome war bei allen Erkrankten überraschend. 
Es waren scharf umgrenzt 2 Krankheitsperioden zu unterscheiden. Der erste 
Abschnitt zeigte die Erscheinungen einer Allgemeininfektion mit hohem remittierenden 
Fieber und Milztumor. Die zweite Periode wurde ausgefüllt von den lokalen 
Lebersymptomen. In seiner ersten Hälfte zeigte die Erkrankung Anklänge an 
einen nicht voll ausgebildeten Typhus oder Paratyphus. Alle bakt. Untersuchungen 
fielen indes negativ aus. Auch die lange Zeit fortgesetzter Stuhluntersuchungen 
ergaben stets einen für Typhus und Paratyphus negativen Befund. Als wir nach 
mehreren Erkrankungen auf den eigentümlichen Verlauf aufmerksam gemacht 
waren, WTirden auch in der Frühperiode Tierimpfungen und Untersuchungen des 
Blutes im Dunkelfeld angestellt. Das Ergebnis w r ar ebenfalls negativ. Von der 
Symptomatologie der Weil’schen Krankheit unterschied sich dieser' Ikterus in 
wichtigen Punkten: Die Beteiligung der Nieren wurde stets vermißt; es fehlten 
die Schmerzen der Skelettmuskeln, ja die Krankheit zeichnete sich gerade durch 
ihren schmerzfreien Verlauf aus. Es fehlte ferner eine hämorrhagische Diathese; 
Rezidive blieben aus. Die Einheitlichkeit der Ätiologie der Erkrankungen dieser 
Epidemie ist wohl kaum in Abrede zu stellen. Ihre Abgrenzung von der Weil’schen 
Krankheit erscheint mir nach dem klinischen Befunde unzweifelhaft 1 ). 

Von dem infektiösen Ikterus sind die Lebererkrankungen scharf abzugrenzen, 
die mit einer gewissen Häufigkeit im Verlaufe von Infektionskrankheiten kompli¬ 
zierend hinzutreten. An erster Stelle steht hier die Amöbenruhr. Sie spielt 
unter unserem Material keine Rolle. Ähnliche charakteristische Lebererkrankungen 
wie bei der Amöbenruhr fehlen der bazillären Dysenterie vollkommen. In den 
leichten Fällen oder in Fällen mit rapidem Verlauf kommt es zu irgendwelchen 
nachweisbaren Leberveränderungen überhaupt nicht. Nur bei den chronischen 
Ruhrerkrankungen werden mehr oder minder schwere Leberveränderungen selten 
vermißt. Die abgemagerten Kranken mit ihren durch keine Behandlung zu 
bekämpfenden eiter- und bluthaltigen Durchfällen zeigen ohne Ausnahme erhebliche 
Lebervergrößerungen. Bei der pathologisch-anatomischen Untersuchung stellte 
»ich heraus, daß die Vergrößerung durch eine Verfettung der Leberzellen 
bedingt ist. 

Das Vorkommen von Vergrößerungen, Druckempfindlichkeit und Jkterus bei 
Erkrankungen der Typhusgruppe und bei septischen Erkrankungen ist bekannt. 
Ebenso bekannt ist die Mitbeteiligung der Leber am Scharlach, bei dem wir nicht 
selten auf der Höhe des scarlatinösen Exanthems noch eine ikterische Verfärbung 
der Haut beobachten können. Vielleicht weniger Allgemeingut ist die Kenntnis 
von dem Auftreten akuter Lebererkrankungen im Sekundärstadium der Lues. 


’) Von der Mitteilung der Kurven wurde wegen Kaummangels abgesehen. 

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Walterhöfer 


Uber Beteiligung der Leber bei Malaria habe ich eigene Erfahrungen im 
reichen Maße sammeln können. Die Faktoren, die zu Leberveränderungen führen 
können, ergeben sich aus einer Betrachtung bestimmter Vorgänge bei einem 
Anfall. Durch den'Zerfall der roten Blutkörperchen hat die Leber den dabei 
freiwerdenden vermehrten Blutfarbstoff zu Galle zu verarbeiten. Ist die Leberzelle 
dazu nicht imstande, so wird ein Teil desselben in Form eines ockergelben 
Pigmentes in der Zelle aufgespeichert. Hierzu kommt weiter die Ablagerung 
einess von den zugrunde gegangenen Malariaplasmodien herrührenden schwarzen 
Pigmentes in der Wand der Kapillaren. Hyperfunktion und Ablagerung von 
Trümmern führen hier zu Leberschädigungen, die sich im Auftreten von Ikterus, 
Lebervergrößerung und Schmerzhaftigkeit äußern, die, aber auch durch Pigment¬ 
verstopfung infolge mangelnder Blutzufuhr zu bleibenden organischen Schädigungen 
des Lebergewebes Anlaß geben können. 

Das Auftreten von Ikterus ist sowohl nach Tropika als auch nach Tertiana 
keineswegs selten. Im allgemeinen waren die dabei auftretenden sonstigen Er¬ 
scheinungen gering. Der Ikterus ging schnell wieder vorüber. Aber es kommen 
Ausnahmen hiervon vor. Wie bedrohlich sich das Krankheitsbild gestalten kann, 
mag folgender Fall zeigen: 

Der 23jährige Mann erkrankte im Oktober 1917 in Mazedonien an Tropika. Er 
hatte wiederholt Rückfälle mit Qnotidianatypns. Am 2., 3. und 4. Dezember 1917 
bekam er hier je einen mittelschweren Anfall mit Schüttelfrost. Im Blute fanden sich 
Tropikaringe. Zwei Tage nach dem letzten Anfall wurde der Kranke leicht ikterisch. Am 
9. Dezember erreichte der Ikterns einen hohen Grad. Die Leber war stark vergrößert 
und schmerzhaft. In der Nacht wurde der Patient anruhig, am anderen Morgen ist er 
somnolent. Die Temperatur sank unter die Norm (35°). Der Puls war stark ver¬ 
langsamt. Es traten sehr starke Delirien auf, die am 12. Dezember sich noch steigerten. 
An diesem Tage wurde ein kräftiger Aderlaß ausgeführt und am nächsten Tage war 
der Patient wieder bei Bewußtsein. Der Ikterus bestand in unverminderter Stärke fort, 
der Urin war stets eiweißfrei. Am 16. Dezember trat wiederum hohes Fieber auf, aber 
ohne Schüttelfrost. Die anfangs tiefen Remissionen bleiben allmählich weg, das Fieber 
nimmt mehr den Charakter einer Kontinua an. In den ersten Tagen konnte eine Ursache 
für das Fieber nicht gefunden werden. Am 20. Dezember klagte der Patient über starke 
Schmerzen in der linken Schulter. Dort bestand eine sehr schmerzhafte Schwellung, die 
aber am nächsten Tage wieder verschwunden war. Am 22. Dezember war über dem 
linken Oberlappen eine Dämpfung nachzuweisen. Es entwickelte sich eine kruppöse 
Pneumonie, die weiterhin einen normalen Ablauf zeigte. In der Folgezeit traten noch 
einige Tropikaanfälle auf. Außerhalb der Anfälle hat der Patient keine Beschwerden 
mehr 1 ). 

Die Pneumonie soll einmal beiseite gelassen werden, obwohl die Erscheinung 
in diesem Zusammenhänge einer Erörterung wert wäre. 

Nach der ganzen Art und Weise des Auftretens des Ikterus konnte ein Schwarz¬ 
wasserfieber ausgeschlossen werden. In Betracht' kam ferner eine zerebrale Malaria. 
Dagegen sprach indessen, daß in dieser Periode das periphere Blut frei von Plas¬ 
modien war. Auch pflegt die zerebrale Malaria sich unmittelbar an einen Anfall 
anzuschließen. Als einzige Möglichkeit der Erklärung blieb nur die Annahme, daß 
die schweren zerebralen Symptome mit der starken Senkung der Temperatur durch 


*) Von der Mitteilung der Kurven wurde wegen Raummangels abgesehen. 


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Über infektiöse Lebererkrankungen. 


377 


Beteiligung der Leber bedingt waren. Es handelte sich um die recht seltene 
Komplikation eines einfachen Ikterus nach Tropikaanfall mit bedrohlichen Symp¬ 
tomen einer Cholämie oder besser einer hepatischen Autointoxikation. 

In ähnlicher Weise wie bei Malaria treten die Leberveränderungen beim 
Schwarzwasserfieber auf, nur sind sie hier gewöhnlich hochgradiger. Auf die 
Komplikationen von seiten der Leber bei Rekurrens oder spezifischen tropischen 
Erkrankungen, die auch jetzt bei uns keinen Eingang gefunden haben, soll nicht 
näher eingegangen werden. 

Zusammenfassung. 

Die Beteiligung der Leber an infektiösen Erkrankungen ist bei unserem 
jetzigen Krankenmaterial kein seltenes Vorkommnis. Bei einer Reihe von Infektions¬ 
krankheiten treten die Erkrankungen der Leber als Komplikation hinzu. Besonders 
bei Malaria wurde Leberschwellung und Ikterus häufig beobachtet. Obwohl 
bleibende und hochgradige Leberveränderungen bei mehr als 1500 Malariafällen 
nicht auftraten, wird an einem Falle gezeigt, daß durch Beteiligung der Leber 
doch ein bedrohliches Krankheitsbild hervorgerufen werden kann. 

Fälle von infektiösem Ikterus kommen sporadisch ständig vor. Ihr klinischer 
Verlauf ist sehr mannigfaltig. Zuzeiten trat die Erkrankung epidemisch auf. 
Die Krankheitsbilder waren dann aber untereinander in hohem Grade überein¬ 
stimmend. In. keinem Falle konnte die Bakteriologie einen ätiologischen 
Aufschluß geben. Ob die zur Gruppe des infektiösen Ikterus gehörigen Fälle 
in ihrer Ätiologie überhaupt einheitlich sind, ist zurzeit noch zweifelhaft. 
Erfahrungen mit anderen Infektionen mahnen. in dieser Beziehung zur Vorsicht. 
Malaria, Rekurrens, Febris quintana, die ja auch ein hervortretendes Symptom, 
das periodisch auftretende Fieber gemeinsam zeigen, haben gelehrt, daß trotz dieser 
Übereinstimmung ein völlig verschiedenes Lebewesen als Erreger in Betracht kommt. 


Zeltschr. f. physik. u. dlit. Therapie lid. XXII. Heft 8,'S). 


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Erhöhte Bolus 
wirfttittg und 
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Intern 

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3ierili»ierter BoIms. 

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Nasendarmgärung, Hyperazidität; Ruhr 
Colitis uSc*; Gaifenblasenbeschwerden. 


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V'.'n.o- v br. jei«, IV- ;■ 1. MURC.EXRÖTH, Beil. tejln. 'Wotitcrfsi'hn.lfiRs/Nr. 8. S. m. 


(Li tördfof: Ä BIER Vfi«: Wöcl^TwefjK !»»7;#i::äf> u, t(’}S, Sfr, 

!kii»,\Vöche!>scln. löiä, M^rl. klin. Wocheusfi-hf'i&iö.'Nftöv$riSlft r 






410 


Referate über Bücher und Aufsätze. 


geschildert ist, wird die physikalische, diäte¬ 
tische und medikamentöse Therapie in bezug 
auf Wert und Wirkungsweise sowie die Be¬ 
handlung der einzelnen Krankheitsformen er¬ 
örtert. 

Bei den einzelnen Kapiteln ist die Literatur 
sehr umfangreich zusammengestellt, vielfach 
z. B. bei der Kriegsnephritis neu in dieser 
2. Auflage beigebracht, deren Ausgabe bereits 
ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des 
Buches am besten für die Qualität desselben 
spricht. J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf). 


Goldscheider (Berlin), Die Topographie 
der spinalen SensibilJtätsbezirke der Haut. 
Ztschr. f. klin. Med. 1917. Bd. 85. H. l.u.2. 

Goldscheiders Vorgehen besteht da¬ 
rin, daß er durch künstlich gesetzte Schmerz- 
Teize hyperalgetische Felder erzeugt und auf 
Grund der gesetzmäßigen Struktur derselben 
die spinalen Begrenzungen erschließt. Er 
bedient sich also der „Irradiationsmethode“ zur 
Feststellung der spinalen Sensibilitätszonen. 
Die Arbeit bildet gewissermaßen einen weiteren 
Ausbau der früheren Studien über Irradiation 
und Hyperästhesie im Bereiche der Kaut- 
sensibilität sowie über die Struktur der spinalen 
Sensibilitätsbezirke der Haut. Die ermittelten 
spinalen Bezirke werden dann in dreifacher 
Weise festgehalten. Durch Kombination der 
verschiedenen Methoden konnten Fehler der 
zeichnerischen Übertragung vollständig aus¬ 
geschaltet werden. Den zweiten Teil der mi¬ 
nutiösen Arbeit, die zu ähnlichen Ergebnissen 
führt, wie sie z. B. Sherrington gefunden 
hat, bildet die Identifizierung der ermittelten 
Bezirke mit den Segmenthöhen des Rücken¬ 
marks. Einzelheiten müssen im Original 
studiert werden. E. Tobias (Berlin). 


W. Kulka, Zur Kaliumpermanganatbeliand- 
lung der Variola. W. kl. W. 1917. Nr. 34. 

Polemik mit G. Morawetz wegen der 
günstigen Erfahrungen bei Behandlung der 
Variola mit 3—5%oig er Kaliumpermanganat¬ 
lösung. Unter Verzicht auf die früher suppo- 
nierte Rotlichtwirkung wurde absichtlich von 
dem Verfasser eine sehr geringe Konzentration 
genommen, um einerseits starke Ätzwirkung 
zu vermeiden, andererseits durch häufigere Be¬ 
handlung bessere Tiefenwirkung zu erzielen. 
Auch erschien so die Gefahr einer Giftwirkung 
durch Kaliresorption ausgeschlossen. Narben¬ 
bildung trat in sechswöchiger Beobachtungs¬ 
zeit nicht auf. — Die Priorität der Kaliumper¬ 


manganatbehandlung der Variola gebührt übri¬ 
gens, wie Kulka hervorhebt, weder ihm noch 
Mora wetz, sondern Dreyer. 

Roemheld (Hornegg a. N.). 

Franz Bardachzi und Zolt&n Barab&s 
(Przemysl), Bittersalz- und Kochsalzlö¬ 
sungen für Glyzerla bei der Verwendung 
zu Klysmen. W. kl. W. 1917. Nr. 34. 

Zuckersirup und Melasse können als rektale 
Abführmittel an Stelle von Glyzerin Verwen¬ 
dung finden. Wo sie fehlten, wandten die 
Autoren einen Eßlöffel, voll Bittersalz oder 
Kochsalz auf Jeinen Viertelliter zimmerwarmes 
Wasser als Klysma an, ein Ersatzmittel, bei 
dem neben der sicheren milden Wirkung die 
große Billigkeit besonders zu schätzen ist. 

Roemheld (Hornegg a. N.). 

Bräun Ing (Hohenkrug), Die Erfolge und 
Mißerfolge "der Stettiner Fürsorgestelle 
für Lungenkranke bei den Kranken mit 
offener Tuberkulose. Ztschr. f. Tuberku¬ 
lose. Bd. 28. Heft 1. 

Es gelingt der Fürsorgestelle bei etwa 
86 % der in eigener Häuslichkeit wohnenden 
Phthisiker hygienisch einwandfreie Verhältnisse 
zu schaffen. Um dem Rest beizukommen, sind 
besondere polizeiliche Maßnahmen, besonders 
eine amtliche Überwachung der Wohnungen, 
unumgänglich. Für alle schwerkranken Schwind¬ 
süchtigen müßte Unterkunft in Krankenhäusern 
geschaffen werden. Undurchführbar ist dies 
aber bei allen Kindern mit offener Tuberkulose 
unter 15 Jahren. Man kann auch nicht ver¬ 
hindern, daß diese mit andern Kindern spielen, 
dagegen sie vom Schulbesuch ausschließen. 
13 % der Schlafburschen entziehen sich der 
Beobachtung. Bei den übrigen können nur 
in 66 % hygienisch einwandfreie häusliche Ver¬ 
hältnisse geschaffen werden; eine polizeiliche 
Überwachung der Schlafstellen und ein Hand¬ 
inhandarbeiten der überwachenden Behörde 
mit der Fürsorgestelle ist notwendig. Kinder 
schwindsüchtiger Eltern können nur während 
des ersten Jahres vor der Ansteckung mit 
Tuberkulose bewahrt werden. Alle Kinder 
und Geschwister von offenen Tuberkulösen 
müssen fortlaufend ärztlich überwacht werden. 
Etwa 16 °/o aller Offentuberkulösen in Stettin 
befinden sich in Berufen, in denen sie das 
Publikum gefährden, und etwa 28 % ui Berufen, 
in denen sie ihre Mitarbeiter gefährden. 
Hier vermag die Fürsorgestelle vorläufig nur 
ausnahmsweise Abhilfe zu schaffen. 

Freyhan (Berlin). 


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Original-Arbeiten. 


i. 

Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre 

Behandlung. 

Von 

Geh. Hed.-Bat Prof. Dr. Goldscheider. 

(Schluß.) 

IT. Behandlung. 

Aus den vorhergehenden Erörterungen geht hervor, daß die erworbene krankhafte 
Überempfindlichkeit auf eine übermäßige Reizung zurückzuführen ist und sich nach 
den gleichen Gesetzen entwickelt wie die physiologische Erregbarkeitssteigerung, 
welche den Charakter der funktionellen Anpassung hat und auf dem gesetzmäßigen 
Vorgänge der kumulativen Assimilation, der restitutiven Überschußbildung beruht. 
Die krankhafte Hyperergie ist die Antwort auf den das physiologische Maß über¬ 
steigenden schädigenden Reiz, wie die physiologische Erregbarkeitssteigerung die¬ 
jenige auf den physiologischen Reiz ist. Die krankhafte Überempfindlichkeit ist 
daher zunächst überhaupt nicht zu bekämpfen oder zu unterdrücken, denn sie hat 
einen dauerfördernden („zweckmäßigen 1 ^ Charakter; sie läßt wie die physiologische 
Erregbarkeitssteigerung eine Reizanpassung, nämlich an den übermäßigen Reiz 
erkennen; sie ist eine Abwehrreaktion und verläuft häufig als kompensatorischer 
Vorgang. Aber andererseits bedeutet die Hyperergie einen Krankheitszustand, 
welcher nicht bloß durch die Bedingungen, welche ihn auslösen, sondern als solcher 
den Organismus gefährden kann. Er vermag zur Vernichtung der überempfindlichen 
Zellen zu führen. Er hat ferner die Neigung, gleichsam über das Ziel hinaus¬ 
zuschießen; die schon dem physiologischen Reiz eigene überschießende Reaktion 
kommt bei der pathologischen Hyperergie in vermehrtem Maße zum Ausdruck. 
Letztere stellt daher oft eine unnötige und nutzlose Belastung des Organismus dar 
(vgl. UI. Kap.), welche die Funktionen über das Bedürfnis der Anpassung hinaus 
anspannt und abnutzend wirkt. Die konstitutionelle bzw. latent vorhandene Über¬ 
empfindlichkeit bedingt ferner eine abnorm starke Reaktion auf Reize, welche 
noch in der Breite der physiologischen liegen und bei einem gesunden Organismus 
eine übermäßige Reaktion nicht anslösen würden. Die Überempfindlichkeit 
hat zwar auch in diesen Fällen einen dauerfördernden Charakter, indem sie 
verrät, daß gewisse Reize in ganz unerwarteter Art den betreffenden Organismus 
schädigen können, und stellt wie sonst eine defensive Reaktion dar; aber sie löst 

Zeit« ehr. f. physlk. m. diät. Therapie Bd. XXII. lieft 11. 28 


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412 


Goldscheider 


Erscheinungen aus, welche man nur als krankhafte bezeichnen kann und welche 
für sich der Behandlung bedürfen. 

Endlich erheischen die durch die Überempfindlichkeitsreaktion erzeugten ver¬ 
schiedenartigen Krankheitsvorgänge; nicht zum wenigsten, insoweit sie zu sub¬ 
jektiven Störungen führen, ganz allgemein die ärztliche Behandlung. 

Hierzu kommt, daß die endogenen und exogenen Bedingungen, welche eben 
zur krankhaften Überempfindlichkeit geführt hlaben und von denen uns letztere 
Kenntnis gibt, Gegenstand der Behandlung bilden müssen. 

Hiermit sind die Bichtlinien und Anzeigen für die Behandlung der krankhaften 
Überempfindlichkeit gegeben. Es muß im Krankheitsbilde unterschieden werden, 
was physiologische Erregbarkeitssteigerung und was bereits krankhafte Über¬ 
empfindlichkeit ist. Die Übergänge sind fließend. Manches, was einfach physio¬ 
logische Reaktion auf Reize und Beanspruchungen ist und beim Gesunden ebenso 
vorkommt, kann dem vom Gefühle seines Krankseins befangenen Kranken den 
Eindruck des pathologischen hervorrufen (Herzklopfen usw.). Nur dort, wo die 
Stärke der Reaktion und wo die Krankheitserscheinungen überhaupt auf eine 
krankhafte Überempfindlicbkeit hinweisen, soll die Therapie einsetzen. Auch 
hier wird oft nur eine psychische Beruhigung erforderlich sein, während man im 
übrigen den Erscheinungen freien Lauf läßt. Erst die wirklich exzessive Reaktion 
wird zum Eingreifen nötigen. Schon bei 0. Rosenbach findet man hierher ge¬ 
hörige Bemerkungen: „Die Beeinflussung der abnormen Reizbarkeit ist für die 
Therapie von größter Bedeutung.“ Es sei aber „wichtig, die wahre Natur der 
Gleichgewichtsstörungen, das Verhältnis von Reiz und Erregbarkeit zu erkennen 
und sich nicht durch dip Stärke der Reaktion täuschen zu lassen, d. h. den Exzeß 
der Reaktion mit einem Kompensations- bezw. Heilungsvorgang zu identi¬ 
fizieren“ usw. Man soll „neben der Bekämpfung der Reize, die ja nicht ver¬ 
nachlässigt werden soll, die Veränderung der Erregbarkeit zum Zielpunkt 
der Behandlung machen, selbstverständlich aber erst, wenn die wahre Bedeutung 
der Reaktion durch funktionelle Prüfung und genaue anamnestische Daten fest¬ 
gestellt ist“ 1 )* Die Bekämpfung der Überempfindlichkeit darf daher auch nicht 
so weit gehen, daß die natürliche Reaktion gehemmt wird; nur das Übermaß soll 
bekämpft werden. Die Überempfindlichkeit nimmt bei den verschiedenen Krank¬ 
heitsbildern, in denen sie sich findet, eine ungleiche Stellung ein. Bei den 
Diathesen, bei der Neurasthenie, bei der Überreizung ist sie die Krankheit selbst; 
ihre Behandlung ist gleichbedeutend mit derjenigen der Krankheit. Bei den 
Infektionen, wo *sie auf den Werdegang der Erkrankung bestimmend und ge¬ 
staltend einwirkt, gibt sie uns wichtige Anhaltspunkte für die Diagnose und 
Therapie. Bei vielen anderen Erkrankungen bildet sie ein zu behandelndes 
Symptom, aber stets ein solches, welches auf das engste mit dem Krankheits¬ 
vorgang verknüpft ist, denn die Überempfindlichkeit entspricht ja einer über¬ 
schießenden Reaktion auf die krankmachende Ursache. 

Die Behandlung der Überempfindlichkeit stellt somit stets einen wichtigen, 
ja führenden Teil der Therapie überhaupt dar. Hierzu kommt nun noch, daß sie 

*) Ausgewählte Abhandlungen, herausgegeben von Dr. Walter Guttmann. I. S. 154. 
Vgl. auch: „Energotherapeutische Betrachtungen über Morphium“. Deutsche Klinik von 
v. Leyden und F. Klemperer. S. 250. 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


413 


sieb oft gerade an die subjektive Seite des Krankheitsbildes, die Krankheits- 
empfindung wendet. 

Bei der Behandlung der krankhaften Überempfindlichkeit muß man sich 
stets gegenwärtig halten, daß diese wie jeder krankhafte Vorgang sich vielfach 
von selbst abgleicht, worüber in den vorhergehenden Kapiteln das nötige gesagt 
worden ist. 

Die Überempfindlichkeit beherrscht oft das Krankheitsbild viel mehr als die 
Schwäche und Insuffizienz der Funktionen, mit welcher sie so häufig verbunden 
ist, weil die durch jene ausgelösten Erscheinungen sowohl objektiv wie subjektiv 
besonders auffallend sind: motorische, vasomotorische, vegetative, sensible Reizungs¬ 
symptome, Fieber usw. Zuweilen wird der Kranke sich der Funktionsschwäche 
erst dadurch bewußt, daß die Insuffizienz sekundär zu Reizungserscheinungen 
führt (z. B. bei konstitutionell minderwertigen Organen). 

Die Überempfindlichkeit ist aber auch für die ärztliche Diagnose, für die 
Beurteilung des Verlaufes und die Wirksamkeit der Behandlung von großer Be¬ 
deutung, denn sie leitet den Arzt, indem er den Bedingungen der Überempfindlichkeits¬ 
symptome nachgeht, zur Erkenntnis der Krankheitsvorgänge. Die Behandlung der 
Überempfindlichkeit ist daher keine bloß symptomatische, sondern entspricht gleich¬ 
zeitig der Indicatio causalis und morbi. 


A. Kausale Behandlung. 

Es sind zu unterscheiden die wirklichen Ursachen und die Gelegenheits¬ 
ursachen, welche nur die latente Überempfindlichkeit zur Manifestation bringen. 

Erstere sind teils endogener, teils exogener Natur. Die endogenen be¬ 
stehen in der kongenitalen oder erworbenen Minderwertigkeit von Organen oder 
Geweben, in Diathesen, Stoffwechselanomalien, Erkrankungen endokriner Drüsen, 
Krankheitsresiduen verschiedener Art, konstitutioneller Neurasthenie; die exogenen 
in Überreizung, übermäßiger funktioneller Beanspruchung, ungenügender Ruhe, 
Infektion bzw. Intoxikation und ihren Folgezuständen, Trauma, psychischen Er¬ 
regungen. 

Nicht selten wirken exogene und endogene Bedingungen zusammen oder 
erstere bringen die endogene Überempfindlichkeit als Gelegenheitsursachen zur 
Manifestierung. 

Die so erzeugte krankhafte Überempfindlichkeit kann örtlich begrenzt oder 
allgemeiner verbreitet sein. Im ersteren Fall kann durch Irradiation der 
Organismus in größerem Umfange beteiligt werden, andererseits kann eine ver¬ 
breitete Überempfindlichkeit örtliche Symptome entstehen lassen, worauf schon in 
den vorigen Kapiteln hingewiesen worden ist. 

Die exogenen Bedingungen sind zum Teil solche, welche sich beseitigen 
oder einschränken lassen (übermäßige Beanspruchung, Überreizung, ungenügende 
Ruhe), zum Teil solche, welche der unmittelbaren Beeinflussung entzogen sind 
(Infektion, Intoxikation, Trauma, psychische Erregungen) und nur mittelbar, nach¬ 
dem sie bereits wirksam geworden sind, durch zweckmäßige Behandlung behoben 
oder gebessert werden können. 

Die endogenen Bedingungen sind der Behandlung nur insofern zugänglich, 
als unter Umständen die allgemeine Widerstandsfähigkeit oder die einzelner 


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414 


Goldscheider 


minderwertiger Organe gekräftigt werden kann. Auch fehlt es nicht an Be¬ 
strebungen, die Überempfindlichkeit als solche umzustimmen (Kalktherapie usw.), 
worüber unten näheres zu sagen ist. Ferner können gewisse Krankheitsanlagen 
und Konstitutionsanomalien und auf solchen beruhende Organveränderungen der 
therapeutischen Beeinflussung unterworfen werden. Endlich kann die Mani- 
festierung endogen bedingter Überempfindlichkeiten durch Ausschaltung exogener 
Gelegenheitsursachen verhindert oder gehemmt werden. 

Endogene Bedingungen zur Entwicklung von Übermüdungstiberempfindlichkeit 
können beispielsweise chronische Herzleiden sein; man wird in solchen Fällen 
das Herz zu behandeln, zugleich aber das Maß der Tätigkeit und die Lebens¬ 
führung mit der Leistungsfähigkeit des Herzens in ein richtiges Verhältnis zu bringen 
haben. Ähnliches gilt für schwächende Magendarmerkrankungen, Anämie u. a. m. 

In näherer Ausführung dieser Gesichtspunkte ist, was die exogenen Be¬ 
dingungen betrifft, hervorzuhehen, daß die Feststellung und Ausschaltung der¬ 
selben zu den wichtigsten ärztlichen Maßnahmen auf diesem Gebiete gehört. Im 
II. Kapitel wurde das Bild der chronischen Übermüdung geschildert und es wurde 
dargelegt, daß dasselbe nicht allein Symptome der Schwäche, sondern auch der 
Reizung enthält. Erinnert man sich, daß Übermüdung, Reizhäufung, Mangel an 
Ruhe Überempfindlichkeit mit ihren mannigfachen objektiven und subjektiven 
Reizungserscheinungen (Hyperästhesie, Neuralgien, Myalgien, Reizsymptomen des 
Herzens und anderer Eingeweide usw.) erzeugt, so wird man bei zahlreichen 
Krankheitsfällen den wahren Grund der Reizsymptome erkennen und verstehen. 
Man wird statt überflüssiger, wirkungsloser und oft die Übermüdung oder Über¬ 
reizung steigernder und somit das Leiden verschlimmernder Mittel durch Abstellung 
der ursächlichen Bedingungen Erfolge erzielen. Die Feststellung der Ursachen 
dieser Art erfordert ein genaues Eingehen auf die Lebensweise des Kranken. Die 
Erfahrung des Hausarztes kann hier von großer Bedeutung sein. Man wird die 
Lebenshaltung zu regulieren haben, auf den Patienten und seine Umgebung be¬ 
lehrend einzuwirken suchen. 

Zuweilen wird der Erfolg einer Badekur zugeschrieben, während in Wirk¬ 
lichkeit die mit ihr verbundene Ruhe das wesentlich wirksame Moment bildete. 
Da unter den ein Bad oder eine Sanatoriumsbehandlung aufsuchenden Kranken 
sich nicht wenige befinden, welche allein oder in Verbindung mit irgend einem 
Organleiden an Übermüdung leiden, so muß gerade der Bade- und Sanatoriumsarzt 
seinen Blick für das Bild der Übermüdung schärfen. Es muß gesagt werden, daß 
Mißgriffe hier nicht selten Vorkommen (s. unten). 

Das Krankheitsbild der chronischen Ermüdung ist im II. Kapitel gezeichnet 
worden. Beachtenswert ist, daß unter dem Einflüsse der Ermüdung latente 
Symptome' von Organkrankheiten hervortreten können (s. unten). Der Bade- bzw. 
Sanatoriumsaufenthalt muß in solchen Fällen für eine gründliche Ruhekur ausge¬ 
nutzt werden. Ein Zuviel an geselligen Veranstaltungen, Unterhaltung, Zer¬ 
streuung, Musik usw. kann hier nur verderben, was die Ruhe schafft. 

Häufig beruht die Ursache motorischer, sensibler, vasomotorischer und auch 
vegetativer Überempfindlichkeit auf ungenügendem Schlafe, sei es, daß der 
Betroffene sich zu wenig Schlaf gönnt oder daß er an Schlafstörungen leidet. In 
solchen Fällen genügt es oft, hinreichenden Schlaf herbeizuführen, um die Reizungs- 


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Ober die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


415 


Symptome verschwinden zu machen. Da die Überempfindlichkeit ihrerseits wieder 
zu Schlaflosigkeit führen kann, so wird durch dieses Verfahren nicht selten ein 
Circulus vitiosus durchschlagen. Wir kommen auf diesen Punkt zurück. 

Die Behandlung der endogenen Bedingungen umfaßt als wesentlichen Faktor 
die Kräftigung der Widerstandsfähigkeit und Leistungsfähigkeit. Es 
kommt hierbei außer auf allgemein hygienische Maßnahmen auf Übungsbehand¬ 
lung an. Ein minderwertiges Herz, durch methodische Übung gekräftigt, wird 
bei funktioneller Belastung weniger leicht in den Zustand der Überempfindlichkeit 
geraten. 

Die Übung umfaßt im weitesten Sinne außer der Erhöhung der Leistungs¬ 
fähigkeit motorisch oder sekretorisch tätiger Organe auch die Erhöhung der 
passiven Widerstandsfähigkeit durch Reizgewöhnung (z. B. Druckreize), die Übung 
regulatorischer Mechanismen (z. B. Abhärtung), endlich trophische Vorgänge durch 
wiederholte Reize (z. B. Bildung von Bindegewebsschwielen, Erstarkung empfind¬ 
licher Narben). Die Übungsbehandlung hat den Satz zu berücksichtigen, daß nur 
über das gewohnte Maß hinausgehende wiederholte Reize die Leistungsfähigkeit 
bzw. Widerstandsfähigkeit wirklich erhöhen. Da andererseits solche Reizungen 
sehr leicht die Überempfindlichkeit steigern, so muß die Übungsbehandlung mit 
großer Vorsicht ausgeführt werden, um nicht auf die dem Ziel benachbarte 
Klippe zu steuern; am besten wird sie ausgeführt, sobald die Überempfindlichkeit 
durch den Einfluß der Zeit oder Behandlung in das abklingende Stadium ge¬ 
langt ist. 

Da die Übungsbehandlung zum Teil mit der Methode der Reizanpassung 
zusammenfällt, so komme ich später auf dieselbe zurück. 

Die Ausschaltung und Vermeidung der exogenen Reize, welche die endogen 
bedingte Überempfindlichkeit zum Ausdruck bringen, ist eine selbstverständliche 
Forderung. Es handelt sich teils um allgemeine Reize (Körperanstrengungen, 
Beanspruchungen verschiedener Art, psychische Erregungen), teils um spezifische 
(bei Diathesen, Anaphylaxie), deren besondere Art durch die Vorgeschichte der 
Krankheit und die bisher gemachten Beobachtungen zur Kenntnis gelangt ist. 
Zur kausalen Therapie gehört auch die Behandlung des etwaigen der Über¬ 
empfindlichkeit zugrunde liegenden Krankkeitsprozesses, welche ja (ganz abge¬ 
sehen von der Überempfindlichkeit) der Indicatio morbi entspricht und daher hier 
nur gestreift wird (Entzündung, Infektion usw.), sowie diejenige chronischer, eine 
Überempfindlicbkeit bedingender Krankheitsreste. Diese Form der Behandlung 
fällt zum Teil mit der nunmehr zu besprechenden Behandlung der Überempfindlich¬ 
keit selbst zusammen, nämlich in den Fällen, wo die Krankheit eben in dieser 
besteht (Diathesen usw.). 

B. Behandlung der Überempfindlichkeit selbst. 

Dieselbe ist teils eine unmittelbare, durch Ruhe, Reizausschaltung, 
sedative Mittel u. &. m. die Erregbarkeit herabsetzende, teils eine mittelbare; 
letztere sucht durch Hemmungsreize, Ableitung, Reizanpassung die über¬ 
mäßig gesteigerte Erregbarkeit zu mildern, andererseits durch Kräftigung und 
Erhöhung der Widerstandsfähigkeit der Überempfindlichkeit entgegen zu 
arbeiten. Die in Anwendung kommenden Methoden sind ebensowohl physika- 


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1 


416 


Goldscheider 


lische and diätetische wie pharmakologische und psychologische. Die 
Behandlang der Überempfindlichkeit selbst läßt sich von der kausalen nicht fiberall 
scharf trennen. 


1. Behandlung mittels Ruhe und Reizausschaltuug (unmittelbare 
Methode). 

Die Fernhaltung von Reizen und funktionellen Beanspruchungen in möglichst 
weitgehendem Maße rechtfertigt sich schon im Hinblick auf die Entstehung der 
Überempfindlichkeit durch Überreizung und mit Rücksicht auf die Erfahrung, daß 
dieselbe durch Reize unterhalten bzw. weiter gesteigert wird. Die Ruhebehand¬ 
lung bezweckt, die Erhaltung und Steigerung der Überempfindlichkeit durch Be¬ 
schränkung der Reize zu verhindern und dem natürlichen Abklingen derselben 
Vorschub zu leisten. Es handelt sich bei der Ruhebehandlung je nach den vor¬ 
liegenden Umständen um längerdauernde ununterbrochene Ruhe oder um zeit¬ 
weilige Ruhepausen; außerdem ganz allgemein um Beförderung und Ausdehnung 
derjenigen biologischen Ruhepause, welcher die größte Bedeutung für die Aus¬ 
gleichung und Restitution organischer Dissimilationen zukommt, des Schlafes. Die 
Ruhebehandlung zeigt Berührungspunkte mit der kausalen Therapie, denn in 
erster Linie müssen diejenigen Reize ferngehalten werden, welche die unmittel¬ 
barsten Beziehungen zur Überempfindlichkeit besitzen, d. h. sie erzeugt haben. 
Die Verhinderung der einzelnen anfallsweisen Manifestierung der Überempfindlich¬ 
keit oder ihrer anfallsweisen Exazerbation hat nicht bloß für diesen Anfall, sondern 
für die zugrunde liegende Überempfindlichkeit überhaupt Bedeutung im Sinne einer 
Heilwirkung, weil jeder Anfall eine erhöhte Überempfindlichkeit hinterläßt. Ein 
erstes Erfordernis für das Abklingen der Überempfindlichkeit ist, daß die anfalls¬ 
weisen Steigerungen derselben vermieden oder stark gemildert werden. Jeder 
Ischiasanfall steigert die Disposition zu Ischias, indem er eine langdauernde latente 
Überempfindlichkeit hinterläßt. Je längere Zeit verstreicht, ohne daß es zu einem 
erneuten Ischiasanfall kommt, um so größer wird die Gewähr der endgültigen 
Heilung. Dieses Ziel wird neben gründlicher Behandlung des einzelnen Anfalles 
durch Fernhaltung der einen Anfall auslösenden Reize erreicht. 

Im weiteren Sinne gehört zur Ruhebehandlung die Einschränkung aller 
motorischen Leistungen, sensibler, vasomotorischer, vegetativer Reize und endlich 
auch die Fernhaltung von seelischen Erregungen, also die Herstellung einer wirk¬ 
lichen körperlichen und seelischen Ruhe. 

Im Schlaf ruht die reflektorische wie die Willenstätigkeit, die sensiblen usw. 
Reize sind auf ein Minimum reduziert: „Deshalb sind Schlaf und Ruhe die 
wichtigsten therapeutischen Agentien, die einzigen wirklichen Mittel der 
Restitution“ 1 ). Der Schlaf bedeutet im Zyklus des Lebens diejenige Periode, in 
welcher vorwiegend restitutive Vorgänge ablaufen. Ruhe und Schlaf sind durch 
alle jene Mittel, welche für die Behandlung der Schlaflosigkeit zur Anwendung 
kommen, eventuell auch durch dreist dosierte pharmakologische Mittel herbeizu¬ 
führen. Sehr häufig werden die verschiedenartigsten Formen von Überempfind¬ 
lichkeit schon durch die Beseitigung der Schlafstörung behoben. Es sei dabei 


•) O. Rosenbach, Ausgewählte Abhandlungen S. 50. (Energetik und Medizin.) 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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bemerkt, daß ein großer Unterschied zwischen leichtem, oft unterbrochenem und 
wirklich tiefem Schlaf besteht. Auf letzteren kommt es ganz besonders an. 

Die Wirksamkeit der Ruhebehandlung ist um so größer, je früher sie einsetzt, 
weil die Überempfindlichkeit hartnäckiger wird, wenn sie lange Zeit ohne rationelle 
Behandlung und unter Zufluß stets erneuerter Reize gleichsam gezüchtet wird. 

Sehr beklagenswert ist die therapeutische Vielgeschäftigkeit, welche so oft 
bei Fällen von krankhafter Überempfindlichkeit in gänzlicher Verkennung des Zu¬ 
sammenhanges und der Natur der Beschwerden angewendet wird. Ich könnte 
über eine ganze Anzahl von Fällen dieser Art berichten, wo anstatt der einzig 
angezeigten Ruhebehandlung der durch chronische Übermüdung überempfindliche 
Kranke die ganze Flut physikalischer Behandlungsprozeduren über sich ergehen 
lassen mußte. Man verschwende die physikalischen Methoden nicht, um sie nicht 
zu diskreditieren! Ein Weniger ist hier oft ein Mehr. 

Die körperliche Ruhe ist selbst ein Mittel zum Schlaf, besonders beim Über¬ 
empfindlichen und Übermüdeten. Sie wirkt nicht allein durch die Fernhaltung 
der Reize, sondern auch dadurch, daß sie die. Ermüdungsvorstellung induziert 
bzw. steigert. Sie unterstützt somit die psychologische Behandlung (s. unten). 

Auch die Ruhebehandlung will individuell angewendet und dosiert sein. Zu 
viel Ruhe kann sogar die Überempfindlichkeit steigern, teils auf dem Wege 
psychologischer Vorgänge, teils aus körperlichen Ursachen. Gesteigerte Selbst¬ 
beobachtung, unlustiger Gefühlston infolge zwangsmäßiger Unterdrückung eines 
mächtigen Bewegungsdranges, lästige körperliche DruckempfiDdungen, gestörte 
Verdauung mit Blähungen usw., das Gefühl der körperlichen Schwäche bei lang¬ 
dauernder Ruhelage, die Entbehrung von Beschäftigung können die Ruhe in eine 
ruhelose Untätigkeit verwandeln. Solche Dinge wollen beobachtet und beachtet 
sein. Bei Fettleibigen, Arteriosklerotikern, Tabikern, Greisen kann die zu sehr 
ausgedehnte Ruhe geradezu Schädigungen erzeugen, welche den etwaigen Nutzen 
für die Überempfindlichkeit mehr als aufwiegen. Auch die abnorm gesteigerte 
Ermüdungsempfindung der Neurastheniker, welche den Kranken so oft eine 
motorische Schwäche vortäuscht, verlangt neben Ruhe eine methodische Bewegungs¬ 
behandlung. Man sieht nach Bewegungen zunächst nicht selten eine Steigerung 
der Beschwerden, aber schließlich überwiegt der Erfolg der Übung. Überhaupt 
ist die Übungsbehandlung bei dem chronischen Ermüdungszustand, in richtiger 
und vorsichtiger Weise dosiert, von großer Bedeutung. Der Erfolg ist nicht 
allein durch die zweckmäßigere (Wegfall unnötiger Muskelspannungen) und mehr 
ökonomische Ausführung der Bewegungen (Zuntz) bedingt, sondern auch durch 
eine Anpassung der sensiblen Nerven. Denn die schmerzhaften Ermüdungs¬ 
empfindungen verschwinden unter dem Einfluß der Übung oft viel schneller als 
das Optimum des muskulären Arbeitsbetriebes erreicht ist. Diese Anpassung ist 
derjenigen ähnlich, welche wir bei der Gewöhnung der Hautnerven an Druck- 
und Temperaturreize wahrnehmen. 

Der Muskelerschlaffung bei der Ruhekur kann durch Massage und die zeit¬ 
weiligen Bewegungsübungen vorgebeugt werden. 

Die zeitliche Ausdehnung der Ruhebehandlung bestimmt sich nach dem Er¬ 
folge für die Überempfindlichkeit. Bleibt derselbe hinter den Erwartungen zurück, 
so sind andere Behandlungsmethoden heranzuziehen. 


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Daß die Ruhebehandlung nicht schroff abgesetzt werden darf, sondern all¬ 
mählich abgebant werden muß, ist selbstverständlich. 

Wie schon im n. Kapitel bemerkt, ist nicht immer eine absolnte Rahe nötig; 
vielmehr genügt oft schon die Einfügung gewisser Raheperioden wie überhaupt 
die Regelang von Rahe and Tätigkeit. 

Bei Asthenischen, Überarbeiteten und Übermüdeten reicht oft eine kurze 
Ruhebehandlung aus, um Neuralgien, Parästhesien, Kopfschmerz, Herzpalpitationen 
usw. za beseitigen. Ich verweise im übrigen auf die Bemerkungen am Schlösse 
des IE. Kapitels. Anämische, asthenische, muskelschwache oder mit Enteroptose 
behaftete weibliche Personen leiden häufig an Rücken- und anderen Schmerzen, 
welche lediglich durch längeres Stehen bedingt sind; hier genügt oft schon eine 
mehrfache Ruhelage am Tage, um die Beschwerden zu beseitigen. Auch die An¬ 
legung einer Bandage bei Enteroptose, welche so oft die Bedingung von viszeraler 
Überempfindlichkeit bildet, gehört hierher (Reizausschaltung). 

2. Behandlung mit Reizen (mittelbare Methode). 

Daß man die Überempfindlichkeit überhaupt mit Reizen behandeln soll, 
scheint dem vorher Gesagten zu widersprecheif. Es ist aber bekannt, daß 
Reizen unter gewissen Umständen auch eine beruhigende Wirkung zukommt. Es 
handelt sich um verschiedene Wege, auf denen dieser Erfolg erreicht wird, näm¬ 
lich in der Hauptsache.einmal um Hemmungen bzw. Ableitungen und anderer¬ 
seits um Reizanpassung (Gewöhnung). 

a) Hemmungswirkung. 

Die Bedeutung der Hemmung geht schon aus der physiologischen Erfahrung 
hervor, daß nach partiellen Durchschneidungen des Rückenmarks unterhalb der 
Verletzung Hyperästhesie auftritt, welche sehr wahrscheinlich auf die Ausschaltung 
hemmender bzw. überhaupt beeinflussender Erregungen zurückzuführen ist. Die 
gleiche Tatsache ist klinisch von der Brown-Sequardschen Lähmung her be¬ 
kannt (das Experiment rührt gleichfalls von Brown-S6quard her). Reize 
können ebensowohl bahnende wie hemmende Wirkungen entfalten. Ob es spezi¬ 
fische Hemmungsbahnen gibt, ist sehr zweifelhaft; wie es scheint, können Reize 
jeder Art und von jeder Nervenbahn aus Hemmungswirkungen entfalten. 

Das Wesen der Hemmung ist noch nicht hinreichend erklärt. Eine Form 
derselben dürfte darin bestehen, daß durch den hinzukommenden Reiz die 
Leitungswiderstände in kollateralen Nervenbahnen herabgesetzt werden, was zur 
Folge hat, daß der Zustand gesteigerter Erregbarkeit in diese abfließt. Dieser 
Vorgang muß den bei Schmerz und Hyperalgesie zu beobachtenden Erscheinungen 
zugrunde liegen. Ein Schmerzreiz, z. B. die zu derartigen Versuchen von mir 
verwendete Hautklemme, erzeugt eine irradiierende Hyperalgesie. Ja selbst ein 
taktiler Reiz läßt eine hyperästhesierende Wirkung auf einen gewissen Umkreis er¬ 
kennen. Diese Erscheinungen können nur so erklärt werden, daß die Erregung 
der nervösen Leitungsbahn nicht bloß gradlinig zum Zentrum fortschreitet, sondern 
im Netz der grauen Substanz des Rückenmarks sich ausbreitend benachbarte 
Neurone in Miterregung versetzt. In dieser wird zugleich die Reizschwelle herab¬ 
gesetzt, denn peripherische Reize, welche in dem Bereich der Irradiation an¬ 
greifen, werden abnorm stark bzw. schmerzhaft empfunden. Der Reiz lockert 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit and ihre Behandlung. 


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somit die Leitungswiderstände benachbarter Neurone und setzt die „Neuron¬ 
schwellenwerte“ herab. 

Diese Verbreiterung des Strombettes hat offenbar eine regulierende Bedeu¬ 
tung, indem durch die Verteilung der Erregung auf eine größere Zahl von 
Leitungsbahnen das Abklingen der erhöhten Erregbarkeit erleichtert wird. Be¬ 
steht nun irgendwo ein Herd gesteigerter Erregbarkeit, so werden künstliche in 
der Nachbarschaft gesetzte Beizungen zur Folge haben, daß um sie herum die 
interneuronalen Widerstände noch mehr herabgesetzt werden als es bereits durch 
den primären übererregten Herd geschah, und das somit das Abfließen der in 
demselben angehäuften Erregung noch mehr befördert wird. Die Reize wirken 
gleichsam durch „Bahnung“ entlastend und abgleichend auf die überempfindliche 
Stelle. Diese Form der Hemmung ist somit im wahren Sinne des Wortes eine 
„Ableitung“. , 

Der durch die Hautklemme bedingte Schmerz kann durch Hautreize ver¬ 
schiedener Art verdunkelt werden und zwar um so mehr, je näher an der Klemme 
dieselben einwirken. Am stärksten tritt diese Wirkung hervor, wenn die Reize 
im hyperalgetischen Gebiet selbst angebracht werden und bei proximaler Appli¬ 
kation mehr als bei distaler. Daß es sich nicht bloß um psychische Einwirkungen 
handelt, geht daraus hervor, daß eben die nachbarschaftlichen Verhältnisse eine 
so wichtige Rolle spielen. 

Die von mir gegebene Erklärung der Hemmungen soll nicht etwa die ge¬ 
samten Hemmungserscheinungen erschöpfen. Wahrscheinlich kommen noch andere 
Vorgänge wie etwa der Verbrauch von chemischen Spannkräften, welche nunmehr 
der Fortleitung des primären Reizes entzogen werden, u. a. m. in Betracht. 

Die durch den Schmerzreiz erzeugte Hypästhesie für Berührungen, welche 
gleichzeitig mit der Hyperalgesie besteht, ist gleichfalls auf Hemmung zu beziehen 1 ). 

b) Reizanpassung. 

Schon im I. Kapitel wurde am Schluß darauf hingewiesen, daß die Reiz¬ 
anpassung auch bei der krankhaften Überempfindlichkeit insofern eine Rolle spielt, 
als eine Anpassung an schwächere Reize stattfindet, deren Wirkung sich darin 
zeigt, daß die Überempfindlichkeit durch häufige Einwirkung schwacher Reizungen 
gemildert werden kann. Die Reizanpassung liegt der bekannten Tatsache der 
Reizgewöhnung zugrunde, über welche im I. Kapitel ausführlicher gesprochen 
worden ist (S. 138 ff.). Ich wiederhole, was ich dort (S. 147) gesagt habe: 
„Wirken Reize, welche unter der Schwelle der hochempfindlichen Rezeptoren 
liegen, oft wiederholt ein, so werden sich reizangepaßte Atomgruppen bilden, 
deren Zerfall nicht jene hohe Wirkung hervorbringt wie derjenige der krankhaften 
Reizmassen. Es ist wohl denkbar, daß die Bildung dieser schwächeren Rezeptoren 
sich auf Kosten der krankhaften hochempfindlichen vollzieht.“ Die Wirkung der 
Massage, der Bewegungen, der Elektrizität usw. auf Neuralgien, Myalgien und 
andere schmerzhafte Zustände erklärt sich zum Teil in dieser Weise. Es 
werden durch zweckmäßig abgestufte und regelmäßig wiederholte Reize wahr- 

') Vgl. im Übrigen meine Arbeit „Über Schmerz and Schmerzbebandlung“, Ztschr. f. phys. 
u. diät. Ther. 1915, Bd. 19, and die dort gemachten Ausführungen über Hemmungs-, Ableitungs¬ 
and Anpassangsbehandlang des Schmerzes. 


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scheinlich hyperalgetische Atomgruppen abgebaut und reizangepaßte von normaler 
Erregbarkeit gebildet. Nach allgemeinen Erfahrungen über Anpassung sind wir 
durchaus berechtigt, einen solchen Vorgang anznnehmen. 

Bei der ßewegungsbehandlung der Ischias und der Arthritiden (z. B. Omar¬ 
thritis) kommt noch etwas weiteres in Betracht. Der gegen Dehnungen empfind¬ 
liche Nerv, die schmerzhaft kontrakturierten Muskeln, das gegen Lageverschiebungen 
empfindliche Gelenk paßt sich durch die wiederholten passiven Bewegungen an 
die mit denselben verbundenen Reizungen an. Es hat dies neben der vorher 
erwähnten Wirkung noch die, daß, wenn der Patient in der Folge solche Be¬ 
wegungen spontan ausführt, dieselben nicht mehr wie vordem heftige Schmerz¬ 
reaktionen auslösen, welche die Überempfindlichkeit steigern. Es werden also 
mit einem Wort die Gelegenheiten zur Auslösung von Überempfindlichkeitsreaktionen 
verringert. t 

Auch die Lösung von schmerzhaften Verklebungen und Verwachsungen spielt 
sicherlich hier und da eine Rolle. 

Endlich ist an die hyperämisierende und dadurch die Heilung anregende 
Wirkung der Reize zu denken, welche sicherlich von großer Bedeutung ist. 

In dieser verschiedenen Weise dürfte sich die Wirkung peripherischer Reiz¬ 
behandlung mittels Massage, Elektrizität, thermischer Reize, Bewegungen usw. 
auf gewisse Formen der Überempfindlichkeit erklären, wobei nicht zu verkennen 
ist, daß psychische Beeinflussungen mehr oder weniger ausgesprochen mitspielen. 
Da die Reize auch verschlimmernd wirken können (s. oben), so ist eine sorg¬ 
fältige Dosierung erforderlich. Man muß mit schwächsten Reizen beginnen, 
tastend Vorgehen, die jedesmalige Reaktion abklingeu lassen, ehe man die Pro¬ 
zedur wiederholt und die Reizbehandlung mit einer ausgiebigen Ruhebehandlung 
vereinigen. Gegen die letztere Forderung wird nicht selten gefehlt. Der Erfolg 
der Reizbehandlung kann nicht allein in Frage gestellt, sondern in das Gegen¬ 
teil verkehrt werden, wenn dem Patienten nicht nebenher ruhiges Verhalten ver¬ 
ordnet wird, bzw. wenn er ein solches nicht beobachtet. Oft genügt es schon, 
daß der Kranke unmittelbar nach der Reizanwendung einen längeren Weg nach 
seiner Wohnung zurücklegen muß, um die Behandlung mißlingen zu lassen. 

In das Gebiet der Reizgewöhnung gehört auch das Verfahren, der Anaphy¬ 
laxie durch die Applikation sehr kleiner Mengen des Antigens vorzubeugen. 

Die Reizbehandlung wird teils als örtliche, teils als allgemeine aus¬ 
geführt. Eine besondere Wirkung der letzteren besteht darin, daß sie Ermü¬ 
dung erzeugt und demzufolge zur Ruhe überleitet. Es kommt oft genug vor, daß 
sie besser als ein Sedativum schlafmachend wirkt oder wenigstens einen wohl¬ 
tätigen Ruhe- und .Erschlaffungszustand bedingt .(Massage, Bäder, Abwaschungen, 
Bewegungsübungen, Elektrizität usw.). Aber auch das umgekehrte kann sich 
ereignen: Erregung, Schlaflosigkeit. Diese Zwiespältigkeit des Erfolges kann 
nicht wnndernehmen, wenn man sich vergegenwärtigt, was im II. Kapitel über 
Reiz- und Ermüdungswirkung gesagt worden ist. Man wird in jedem Falle die 
Wirkung erproben müssen. 

Die beruhigende Wirkung der allgemeinen Reizbehandlung kann günstig auf 
eine örtliche Überempfindlichkeit einwirken, welche auf den ganzen Organismus 
ihre Wellen ausbreitet und andererseits wieder durch Beruhigung des ganzen 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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Organismus beeinflußt wird. Bei nenropathiscben, asthenischen, anämischen, ent¬ 
kräfteten Personen ist die ErmüdnngsWirkung eines einfachen warmen Bades oder 
eines 0- oder C0 2 -Bades oder einer Massage nsw. zuweilen eine hervorragende. 
Andererseits begegnen wir gerade bei Neuropathen und Übermüdeten überraschenden 
Erregungs Wirkungen. 

* * 

* 

Die Reizbehandlung umfaßt die physikalische Therapie, über welche 
jedoch noch einiges besondere zu sagen ist. 

So kommt der Massage eine hervorragende Bedeutung für die Behandlung 
gewisser Überempfindlichkeiten der Muskeln und Nerven zu. Bei Übermüdung 
dürfte dieselbe nicht bloß als Reizung, sondern auch dadurch wirken, daß Er- 
müdungs- und Reizstoffe aus den Muskeln mechanisch entfernt werden. Die 
Corneliussche Punktmassage wirkt durch Hemmung und Ableitung. 

E. Weber 1 ) hat, um Übermüdung vorzubeugen, einen gewissen Bewegungs¬ 
wechsel empfehlen. Bei Ermüdung einer Muskelgruppe tritt die sog. Umkehrung 
der Gefäßreaktioü, d. h. eine Verengerung der Blutgefäße ein, wobei begreif¬ 
licherweise die betreffende Muskulatur unter sehr unvorteilhaften Bedingungen 
arbeitet. Läßt man nun eine andere noch frische Muskelgruppe arbeiten, so er¬ 
weitern sich, da jede lokalisierte Muskeltätigkeit zu einer Gefäßerweiterung in 
den übrigen Muskeln führt, in der ermüdeten Muskelgruppe die verengten Gefäße, 
was eine schnellere Ausspülung der dort aufgespeicherten Ermüdungsstoffe und 
Zufuhr von Sauerstoff zur Folge hat. Dies sinnreiche Verfahren hat sich praktisch 
bewährt. 

Der Wärme kommt eine besonders beruhigende Wirkung zu; nicht immer 
in gleicher Art der Hitze, welche durch Reizung sensibler Nerven ein stärker 
erregendes Moment besitzt. Es wird oft in der Praxis nicht hinreichend zwischen 
Wärme und Hitze unterschieden. Insonderheit werden Reizzustände, welche mit 
krampfhaften Zusammenziehungen von glatter oder quergestreifter Muskulatur ver¬ 
bunden sind, durch die lösende und erschlaffende Wirkung der Wärme günstig 
beeinflußt (Hemmung). Bei manchen Reizzuständen jedoch wirkt Wärme erregend 
bzw. erregungssteigernd (z. B. bei einfach sensiblen Erregungen). Andererseits 
kann Hitze beruhigend wirken (wohl durch gleichzeitige Hemmung mittels sensibler 
Erregung). Es dürfte zu weit führen, auf die theoretischen Erklärungsmöglich¬ 
keiten dieser Wirkungsdifferenzen näher einzugehen. 

Kühle bzw. Kälte wirken beruhigend (hemmend) auf nervöse Reizzustände 
und auf solche, welche mit Gefäßerweiterung verbunden sind. Höheren Kältegraden 
kommt wie der Hitze eine erregende Wirkung auf sensible Nerven zu, weshalb 
Kühle und größere Kälte nicht als gleichartige therapeutische Faktoren anzu¬ 
sehen sind. 

Sehr lehrreich für das Verständnis der Kälteeinwirkung sind auch hier wieder 
die Feststellungen E. Webers. Bei Erschöpfung oder Überreizung der Gefä߬ 
zentren im Gehirn tritt allgemein die „Umkehrung“ der Gefäßreaktion bei Muskel¬ 
arbeit ein; durch Kältereize wird dieselbe nun in die normale Reaktion verwandelt. 

J ) Über eine neue Untersuchnngsmethode bei Herzkranken. 1916. Als Sonderabdruck 
aus der Ztscbr. f. exper. Path. u. Ther. erschienen. 


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Von Interesse ist auch der Nachweis, daß eine örtliche Hitzeapplikation, z. B. die 
Heißluftbehandlung eines Arms, eine allgemein verbreitete Umkehrung der Gefä߬ 
reaktion bei Muskelarbeit (z. B. am arbeitenden Fuß) zur Folge hat, welche durch 
Eälteanwendung an dem arbeitenden Teil gleichfalls in die normale Reaktion 
(Gefäßerweiterung) zurückverwandelt wird 1 ). 

Kälte und Wärme wirken auch auf die gewebliche Überempfindlichkeit, erstere 
auf dem Wege der Anästhesierung und durch Gefäßkontraktion 2 ), letztere durch 
Herabsetzung des Reizzustandes und Gefäßerweiterung (Hyperämiebehandlung). 
Auch der Arsonvalisation und Diathermie dürfte ein Einfluß auf die gewebliche 
Überempfindlichkeit zukommen, nicht bloß auf die nervöse. Vielleicht ist auch 
die Lichtbehandlung in ihren verschiedenen Anwendungsformen in diesem Zu¬ 
sammenhänge zu nennen. 

Die Einwirkung der Bierschen Hyperämiebehandlung auf die Über¬ 
empfindlichkeit geht schon aus ihrer schmerzlindernden Wirkung hervor. Diese 
Behandlungsmethode befördert die Bedingungen der natürlichen Abwehrreaktion 
und setzt die schädigenden Einflüsse der krankmachenden Ursache herab (bessere 
Durchblutung, Abschwächung der Mikroorganismen, Beförderung der Resorption, 
der fermentativen lösenden und der Ernährungsvorgänge). Erinnern wir uns, daß 
die Überempfindlichkeit durch die stärkere Zersetzung und Schädigung der Zellen 
gesteigert wird, so können wir verstehen, daß die Unterstützung der durch die 
natürliche Abwehrreaktion ausgelösten Vorgänge gerade die schädliche Über¬ 
spannung derselben hemmen wird. 

Da Sauerstoffarmut erregend wirkt und andererseits die Sauerstofizufuhr für 
die Vorgänge der Assimilation und Restitution die wesentlichste Bedingung bildet, 
so werden alle Maßnahmen, welche zu einer möglichst guten Sauerstoffversorgung 
der Gewebe führen, auch für die Behandlung der Überempfindlichkeit Bedeutung 
haben. Hierher gehört vor allem die Atemgymnastik, deren Wichtigkeit auch 
im übrigen zu steigender Anerkennung gelangt. 

Ein Teil der erwähnten Mittel trifft die endogenen Bedingungen der Über¬ 
empfindlichkeit, ist also als gleichzeitig kausal wirkend zu bezeichnen. 

Der beruhigende Einfluß kühlender partieller oder allgemeiner Luftbäder auf 
Reizzustände der Hautnerven (Parästhesien, Pruritus) wie auf allgemeine nervö>« 
Überempfindlichkeit, so auch als Schlafmittel, ist bekannt. Nicht minder wirksam 
sind bei diesen und ähnlichen Zuständen kühle Teil- und Ganzwaschungen, Güsse, 
Packungen, während die Dusche schon übermäßige Reizwirkungen entfalten kann. 

Auch klimatische Faktoren sind nicht bedeutungslos. Höhenluft kann 
durch verminderte Sauerstoffspannung und erhöhte Reizung durch Licht, Tempe- 
ratQrschwankungen usw. Überempfindlichkeit steigern. Ähnliches sieht man zu¬ 
weilen vom Seeklima. 

Die physikalische Therapie findet ferner ihre Betätigung bei der Behand¬ 
lung des der Überempfindlicbkeit zugrunde liegenden Krankheitsprozesses oder 

‘) Med. Klin. 1915. Nr. 22. 

2 ) Bezüglich der Kälte ist zn erwägen, daß durch die Anwendung derselben nicht bloß 
die Übermäßige, sondern die Abwehrreaktion Überhaupt gehemmt werden kann. Mit Recht weist 
Bier auf diese Folge des „antiphlogistischen“ Verfahrens hin („Hyperämie als Heilmittel.“ 
6. Aufl. S. 156). 


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Ober die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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der Residuen von solchen, worüber Ausführungen zu machen hier zu weit führen 
würde. 

Die Bewegungsbehandlung kommt für die Überempfindlichkeit nach ver¬ 
schiedenen Richtungen bin in Betracht. So bewirkt die Muskeltätigkeit besonders 
bei Personen, welche eine vorwiegend geistige Betätigung auszuüben gewohnt 
sind, eine wohltätige Ermüdung, welche auch auf die geistigen Prozesse einen 
Einfluß ausübt. Der Schlaf wird vertieft, die übertriebene geistige Anspannung 
läßt nach; die Nervenfunktionen werden dem wohltuenden Wechsel von natürlicher, 
physiologisch herbeigeführter Ruhe und Tätigkeit unterworfen. Erhöhte Spannungen 
im Nervensystem werden dadurch abgeglichen. Hierzu kommt der günstige Ein¬ 
fluß gehobener Stimmung auf bestehende Überempfindlichkeiten. 

Ferner ist auf die Kräftigung der Funktion des Herzens und der Blut¬ 
gefäße durch Bewegungen hinzuweisen. Die Tätigkeit der Gefäße, vor allem der 
Arterien ist für die Blutbewegung von erheblicher Bedeutung; die Innervation der 
einzelnen Gefäßgebiete besitzt eine weitgehende Selbständigkeit. Diese Gefä߬ 
funktion wird außer durch Temperaturreize durch sensible und psychische Reize, 
vor allem aber durch Bewegung ausgelöst und geübt. Das gleiche gilt für das 
Herz und für die Atmung. 

Die Übung hat zur Folge, daß Ermüdung weniger leicht eintritt und daß 
die Bewegungen mit einem geringeren Aufwand an Impuls und somit an Herzkraft 
ausgeführt werden, wie ja auch der Blutdruck weniger bzw. überhaupt nicht an¬ 
steigt. Eine Folge der erhöhten Anpassung des Herzens — sei es des gesunden, 
sei es des kranken — ist ferner, daß die Erregbarkeitsschwankungen desselben 
sich vermindern, die „Labilität“ abuimmt. Die Einwirkung der willkürlichen Be¬ 
wegungen auf das Herz kommt zum Teil auf dem Wege der Atmung zustande. 
Die Atmungsgymnastik soll aber auch zu diesem Zwecke noch besonders gepflegt 
werden. Letztere hat zudem auf gewisse Reizzustände und Blutstauungen (sowie 
Lympbstauungen) in der Bauch- und Beckenhöhle und demgemäß mittelbar auf 
die hiermit in Zusammenhang stehenden Überempfindlichkeiten einen wohltätigen 
Einfluß. 

3. Diätetische Behandlung (kausal wie unmittelbar wirkend). 

Bei Zuständen von nervöser Überempfindlichkeit empfiehlt sich ganz allge¬ 
mein eine reizarme (gewürz- und purinarme) Diät. Insonderheit kommt eine 
blande Diät bei den durch uratische Diathese bzw. Gicht bedingten Formen der 
Überempfindlichkeit in Frage. Stoffwechselanomalien überhaupt müssen, wo sie 
als Ursache von Überempfindlichkeit erscheinen, diätetisch behandelt werden. 
Auch bei thyreotoxischer Erkrankung und den vagotonischen Formen empfiehlt sich 
eine laktovegetabilische Diät 1 ). Ferner erfordern Überempfindlichkeiten des Magen¬ 
darmkanals eine dem Fall angepaßte Schonungsdiät (schlackenarm, kleine Einzel¬ 
mengen, sorgfältiges Kauen usw.). Diathesen benötigen bestimmter Diätformen, 
welche der nicht verträglichen Nahrungsstoffe entbehren. Die Konstitution ist zu 
berücksichtigen; plethorische Beschaffenheit erfordert knappe, asthenisch-anämische 

') Ich habe bei zwei sehr hartnäckigen Fällen von Urtikaria Heilung nach streng durch¬ 
geführter lakto-vegetabiler Diät und Salzentziehung gesehen; Dr. Susanne Rosenfeld berichtet 
über einen entsprechenden Erfolg bei Quinckeschein ödem (Ther. d. Gegenwart. 1917). 


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sowie Unterernährung reichliche Nahrungszufuhr. Alkohol kann ebensowohl reizend 
wie beruhigend wirken und muß individuell verwendet werden. Dasselbe gilt von 
Kaffee und Tee. 

4. Pharmakologische Behandlung (vorwiegend unmittelbar wirkend). 

Dieselbe betrifft, wie auch die Ruhe- und die Reizbehandlung, vorwiegend 
die nervöse, weniger die gewebliche Überempfindlichkeit unmittelbar. Auf den 
Unterschied und die Zusammenhänge dieser beiden Foimen ist in den vorigen 
Kapiteln, so am Anfang des IH. Kapitels, mehrfach hingewiesen worden. Die 
gewebliche Überempfindlichkeit erzeugt häufig (so besonders bei Entzündungen 
und Entzündungsresten) eine nervöse, mittels deren fortgeleitete Wirkungen atif 
weitere Gebiete des Organismus zustande kommen. Auf diese Irradiationen wurde 
in den vorigen Kapiteln mehrfach hingewiesen. Bei Infektionen entstehen außer¬ 
dem häufig neurotrope Gifte, welche das Hinzutreten nervöser Überempfindlichkeit 
zur geweblichen erklären. Andererseits spielen die zentripetalen und vasomoto¬ 
rischen Nerven eine wichtige Rolle bei der Regulierung geweblicher Reaktionen 
und Überreaktionen. Die Entzündung gefäßhaltiger Gewebe ist mit einem vaso¬ 
motorischen Reizzustand verbunden, an welchem die Gefäßnerven beteiligt sind 
(s. unten). Die Rückwirkung anästhesierender Mittel auf den geweblichen Reiz¬ 
zustand durch Vermittlung der Gefäße wird unten erörtert werden. 

Die Irradiation vasomotorischer Vorgänge ist schon bei Hautreizen erkenn¬ 
bar; bei vasomotorisch Überempfindlichen zeigt sie sehr bedeutende Grade. Auf 
die weite Verbreitung künstlich erzeugter Hyperämie in die Tiefe weist Bier 
hin. Klapp fand, daß sie sich beim Kaninchen sogar bis auf die Eingeweide 
fortpfianzt: brachte er den Bauch eines Kaninchens in einen Heißluftapparat, 
setzte ihn längere Zeit einer sehr starken Hitze aus und eröffnete dann sehr 
schnell dem lebenden aus dem Kasten entnommenen Tiere die Bauchhöhle, so 
fand er regelmäßig eine Hyperämie der ganzen Bauchwand, der Serosa, des Darms 
und des Centrum tendineum des Zwerchfells 1 ). 

Einen unmittelbaren Einfluß auf die gewebliche Überempfindlichkeit dürfte 
das Kalzium besitzen. Die Reizbarkeit der tierischen Gewebe ist von der Gegen¬ 
wart von Na-, K-, Ca- und vielleicht Mg-Ionen in bestimmten Verhältnissen 2 ) ab¬ 
hängig. Ganz besonders scheint nach Loeb dem Kalzium eine Bedeutung für die 
Reizbai'keit zuzukommen. Von einer Reihe von Autoren ist bestätigt worden, 
daß die Entziehung <Jps Kalks steigernd auf die Erregbarkeit der Nerven und 
Muskeln, die Zufuhr desselben herabsetzend einwirkt. Bei Vergiftung mit kalk¬ 
fällenden bzw. kalkausschwemmenden Substanzen (z. B. Oxalsäure) tritt ge¬ 
steigerte Nervenerregbarkeit auf. Nach der Entfernung der Nebenschilddrüse 
nimmt die Kalkmenge des Blutes und des Gehirns ab, die auftretende Tetanie 
kann durch Kalkbehandlung bekämpft werden (Mac Callum und Voegtlin). 
Bei Spasmophilie und Tetanie der Kinder, bei der Tetanie der Erwachsenen er¬ 
gibt die Kalkbehandlung befriedigende Resultate (Hans Curschmann u. a.). 

Kalzium entfaltet ferner eine Hemmungswirkung gegenüber exsudation¬ 
erzeugenden Reizen. Chiari und Jannuschke zeigten, daß seröse Pleura-Ex- 

! ) Bier, Hyperämie als Heilmittel. 6. Aufl. S. 22. Klapp, M. m. W. 1900. Nr. 23. 

*) Loeb, Vorlesungen über Dynamik der Lebenserscheinungen 1916. 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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sudationen, welche man bei Tieren durch Thiosinamin und andere Gifte hervor- 
rufen kann, durch Kalzium gehemmt werden. Dasselbe gilt für konjunktivitis- 
erzeugende Reizungen. Kalk hat somit eine entzündungswidrige Wirkung (Ab¬ 
dichtung der Gefäßwände?). 

Wright zeigte, daß die Entstehung von Urticaria nach Injektionen von 
Tetanus- und Diphtherieserum und der lokalen Ödeme, welche nach subkutanen In¬ 
jektionen von abgetöteten Typhus-Kulturen auftreten, beim Menschen durch Kalzium¬ 
chlorid gehemmt wird. Anaphylaktische Hautsymptome (nach Serum-Injektion oder 
infolge von Idiosynkrasie gegen gewisse Nahrungsmittel) wie auch gewöhnliche 
Urticaria werden durch Kalk günstig beeinflußt. Bei Jodschnupfen wirkt Kalk 
sekretionsbeschränkend. Gegen Heuschnupfen bewährt er sich, falls einige Monate 
lang vor dem Ausbruch desselben prophylaktisch verabreicht (Emmerich und 
Loew). Auch bei gewissen Fällen von Asthma bronchiale wird eine günstige 
Wirkung beobachtet. Ferner scheint eine solche bei orthostatischer Albuminurie 
vorzukommen*). 

Bei Überempfindlichkeiten, welche auf Funktionsanomalien endokriner Drüsen 
beruhen, kommt die Substitutionstherapie in Betracht. Auch sonst dürfte der 
Hormonanwendung das Gebiet der geweblichen und nervösen Überempfindlichkeit 
offen stehen (Adrenalin, Hypophysin bei Vagotonie usw.). 

Auf die Heilserum- und Vakzinebehandlung bei Infektionskrankheiten ist hier 
nicht näher einzugehen. 

Die Ermüdungsstoffe setzen die Empfindlichkeit des Gewebes herab. 
Wie Weicbardt gezeigt hat, löst Kenotoxin einerseits die Bildung von Anti¬ 
kenotoxin aus, so daß man bei zweckmäßiger Darreichung von Kenotoxin gegen 
Ermüdung immunisieren, also die Leistungsfähigkeit erhöhen kann; andererseits 
wirken größere Dosen von Kenotoxin narkotisierend und schützen nach Weichardt 
geradezu gegen Anaphylaxie. Vielleicht gelingt es, diese Beziehung therapeutisch 
auszunutzen. 

Die moderne Chemotherapie wird uns voraussichtlich mit weiteren proto¬ 
plasmalähmenden, gegen gewebliche Überempfindlichkeit gerichteten Mitteln be¬ 
kannt machen (Methylenblau, Farbstoffe usw.). 

Von großem Interesse ist in diesem Zusammenhang, daß, wie Besredka 
experimentell fänd, die tiefe Äthernarkose den tödlichen Ausgang des anaphylak¬ 
tischen Anfalls — durch Narkose der Zelltätigkeit — zu verhindern vermochte. 

Was die nervöse Überempfindlichkeit betrifft, so wurde die Verwendung 
narkotischer Stoffe zur Behandlung der Überempfindlichkeit bekanntlich von 
0. Rosenbach mit großer Wärme empfohlen. Dieser gedankenreiche Kliniker 
führt aus, daß durch Morphium die „außerwesentliche Arbeit“ herabgesetzt und 
dadurch Energie gespart wird. Wie der Schlaf für Rosenbach „nicht eine 
Periode der absoluten Ruhe, sondern nur der Ruhe von außerwesentlicher 
Arbeit repräsentiert“ und daher „die Periode der stärksten wesentlichen 
(inneren) Arbeit und somit das mächtigste Tonikum für den Betrieb“ ist, so ist 
auch Morphium ein Tonikum, denn „die bisher bei der Bildung und Abgabe hoch- 

*) Vgl. Übrigens den lesenswerten Vortrag von Hans Curscbmann, „Über Grundlagen 
und Indikationen der Kalziumtherapie“. Sitzungsbericht der Naturforschenden Gesellschaft zu 
Rostock. Neue Folge. VII. 1917. 


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Goldscheider 


gespannter Energie für außerwesentliche Betätigung der Organe verbrauchte 
lebendige Energie kommt dem inneren Betriebe, der Erhaltung der Spannungen 
und der Bildung der Vorräte von parater Energie zugute“ usw. Es sind etwas 
andere Gedankengänge wie die unsrigen, welche Rosenbach leiten und zu deren 
Erfassung wir auf das ganze etwas komplizierte System des Autors eingehen 
müßten, aber die Schlußfolgerungen sind sehr ähnlich denen, zu welchen wir, 
von der Überempfindlichkeit ausgehend, gelangen. So sagt Rosenbach: „Morphium 
und narkotische Mittel scheinen also a priori nnter gewissen Verhältnissen indiziert, 
nämlich bei Kranken, die auf einen starken physischen oder psychischen Reiz hin 
oder wegen einer besonderen Steigerung der Erregbarkeit mit dem Aufge¬ 
bot aller ihrer Mittel arbeiten (Exzeß der Reaktion). Hier ist vor allem eine 
Hemmung für die außerwesentliche, aber zwecklose Betätigung angebracht, und 
deshalb ist zu erwarten, daß durch Narkotika wieder eine richtige Regulierung 
der Bestrebungen zur Herstellung des Gleichgewichts, eine andere Verteilung der 
Arbeit angebahnt wird“ (S. 240). „Die therapeutische Anwendung von Morphium 
kann und soll zwei Zwecke erfüllen: Einmal das Übermaß der außerwesentlichen 
Empfindung und der willkürlichen oder automatischen motorischen Reaktion aus¬ 
schalten, das von abnorm gesteigerter Erregbarkeit in der Sphäre der Vorstellung 
oder in gewissen kortikalen oder subkortikalen Zentren und Nervenbahnen, respek¬ 
tive von abnorm großer Stärke der außerwesentlichen Reize herrührt. Zweitens 
soll es die besondere Erregbarkeit der protoplasmatischen Apparate, die von einer 
Veränderung der inneren Arbeit ausgeht, so beeinflussen, daß die wesentliche 
Arbeit in ihrem diastolischen Teile verstärkt wird“ (S. 263). 

So empfiehlt Rosenbach das Morphium u. a. beim akut kongestiven 
Lungenödem (Pneumonie, Schrumpfniere, Koronarsklerose). 

•G. Spieß hat in mehreren wichtigen Arbeiten auf die Bedeutung der 
Anästhesie in der Behandlung der Entzündung hingewiesen 1 ). Er erblickt 
in der Schmerzhemmung das wesentliche Moment. „Eine Entzündung wird nicht 
zum Ausbruch kommen, wenn es gelingt, durch Anästhesierung die vom Ent¬ 
zündungsherd ausgehenden, in den zentripetalen sensiblen Nerven verlaufenden 
Reflexe auszuschalten. Eine schon bestehende Entzündung wird durch Anästhe¬ 
sierung des Entzündungsherdes rasch der Heilung entgegengeführt. Die Anästhe¬ 
sierung hat allein die sensiblen Nerven zu beeinflussen und darf das normale 
Spiel der sympathischen Nerven (Vasomotoren) nicht stören.“ Verfasser bezieht 
sich hierbei auf die bekannten Versuche Samuhls am Kaninchenohr, nach welchen 
die Entzündung nach Verbrühung ausbleibt, wenn die sensiblen Nerven durch¬ 
schnitten sind, während die Durchschneidung der sympathischen Fasern die Ent¬ 
zündung steigert. 

Spieß stüzt seine Lehre auf seine Erfahrungen über die günstige Ein¬ 
wirkung der lokal anästhesierenden Behandlung auf die Verhinderung bzw. 
Milderung von Schleimhautentzündungen der Mund- und Rachenhöhle und der 
oberen Luftwege. 

Rosenbach stimmte den Ausführungen von Spieß zu, dessen Arbeit er als 
eine Bestätigung seiner eigenen vieljährigen' praktischen Erfahrungen über die 

>) Archiv f. Laryng. 1902. S. 56. — M. m. W. 1902. Nr. 39. — M. m. W. 1906. Nr. 8. — 
Arch. f. Laryng. Bd. 21. 


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Über die krankhafte Überempfindlfehkeit nnd ihre Behandlung. 


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günstige Wirkung narkotischer bzw. anästhesierender Mittel bei entzündlichen 
nnd anderen Prozessen bezeichnete. Aber er bringt zum Ausdruck, daß nicht die 
Beseitigung des Schmerzes die Hauptsache sei, sondern die Reduktion der ab¬ 
normen Erregbarkeit der entzündeten Teile. Rosenbach will die lokale 
Übererregbarkeit beseitigen 1 ). 

Die Spieß sehe Behandlungsmethode ist tatsächlich wirksam. Ich möchte 
ihre Wirkung gleichfalls wie Rosenbach durch die depressorische Beeinflussung 
der Überempfindlichkeit erklären. ‘In einer sehr bemerkenswerten Abhandlung: 
„Über die Bedeutung der Bekämpfung des Schmerzes bei der Behandlung innerer 
Krankheiten“ 2 ) beschäftigt sich Wein trau d mit dieser Frage. Er führt aus, daß 
bei dem Spießschen Verfahren nicht die Ausschaltung der vom Entzündungsherd 
nusgehenden Reflexe das wesentliche sei, sondern die Bekämpfung des Schmerzes. 
Er stützt sich dabei zum Teil auf Angaben von Spieß selbst. Spieß hebt her¬ 
vor, daß der Schlaf die entzündlichen Erscheinungen der Schleimhaut bei dem 
gewöhnlichen katarrhalischen Schnupfen günstig beeinflußt, so daß die Sekretion 
oft während der ganzen Nacht sistiert, um nach dem Erwachen am anderen 
Morgen von neuem zu beginnen. Er teilt seine Beobachtung mit, daß eine zeitig 
vorgenommene Morphium-Injektion nicht selten bei einem beginnenden Schnupfen 
ebenso entzündungswidrig wirkt wie die lokale Anästhesierung der Nasenschleim¬ 
haut mit Orthoform, mit der man die Erkrankung, kupieren kann.“ Weintraud 
bemerkt hierzu, daß dem Morphium und seinen Derivaten nicht eine peripherische, 
sondern eine zentrale Wirkung zukomme. Er fügt hinzu, daß die sog. Anti- 
pyretica, „deren günstige Wirkung auf schmerzhafte entzündliche Schleimhaut¬ 
prozesse praktisch vielfach erprobt ist“, gleichfalls nur eine zentrale anästhe¬ 
sierende Wirkung, nicht eine solche auf die peripherischen Nervenendigungen 
besitzen. Wenn nun Weintraud demzufolge zu dem Schluß gelangt, daß es 
auf die Bekämpfung der Schmerzempfindung ankomme, so möchte ich mich 
dem nur bedingt anschließen. Die Ausschaltung des Schmerzes und dadurch be¬ 
dingte Ruhe des gesamten Organismus muß eine Verminderung der Reizungen 
der entzündeten Stelle nach sich ziehen, aber dieses darf .kaum als der einzige 
oder wesentlichste Effekt angesehen werden. Vielmehr wird jedenfalls durch die 
erwähnten Mittel die örtliche Hyperergie selbst getroffen. 

Von Wichtigkeit sind in dieser Hinsicht die Versnche von Bruce ans dem Wiener 
pharmakologischen Institut 3 ). Die Entzündung (Vasodilatation nnd abnorme Durchlässig¬ 
keit der Gefäße) wird gehemmt: 

1. nach Durchtrennung eines sensiblen Nerven distal vom Wurzelganglion und Ab¬ 
lauf der zur Degeneration der Nervenendigung erforderlichen Zeit; 

2. während der Dauer der Ausschaltung sensibler Nervenendigungen durch lokale 
Anästhetika. 

Sie wird dagegen nicht verhindert durch Röckenmarksquerdurchschneidung, durch 
Durchtrennung der hinteren Wurzeln und durch einfache Durchschneidung eines sensiblen 
Nerven peripher vom Wurzelganglion ohne Degeneration der Nervenendigungen. Diese 


») *L. c. S. 586. Münch, med. W. 1906. Nr. 18. 

*) Ärztliche Festschrift zur Eröffnung des Kaiser Friedrich-Bades in Wiesbaden. I. F. Berg¬ 
mann. Bereits im III. Kapitel zitiert 

*) Über die Beziehung der sensiblen Nervenendigungen zum Entzündungsvorgang. Arcb. f. 
exp. Path. u. Pharmak. Bd. 63. 1910. 

Zeltacbr. f. physik. n. diät. Therapie Bd. XXn. lieft 11. 29 


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Untersuchungen beweisen zunächst schon, daß es auf die bewußte Empfindung des 
Schmerzes, d. h. auf die Fortleitung des Reizes zum empfindenden Zentralorgan gar nicht 
ankommt. Vielmehr ist das wesentliche die Zerstörung bzw. funktionelle Ausschaltung 
der peripherischen Nervenendigungen. Bruce schließt aus seinen Versuchen, daß „die 
initiale Vasodilatation in den ersten Stadien einer Entzündung wahrscheinlich ein 
Axonreflex“ sei; „dieser Reflex ist anscheinend beschränkt auf die Bifurkation der 
sensiblen Fasern, derart, daß der Entzfindungsreiz seinen Weg den einen Schenkel der 
Bifurkation hinauf und den anderen Schenkel hinab nimmt.“ Er bezieht sich auf die 
Untersuchungen von Bayliß 1 ): Reizung der peripherischen Enden der durchschnittenen 
hinteren Rückenmarkswurzeln ruft eine Gefäßerweiterung in den von diesen Wurzeln 
versorgten Gebieten hervor. Die Fasern, in welchen diese efferenten Impulse verlaufen, 
sind identisch mit den gewöhnlichen sensiblen hinteren Wurzelfasern, die demnach Impulse 
in beiden Richtungen zu leiten fähig sein müssen. Die Reize brauchen das Wurzel¬ 
ganglion nicht zu erreichen. „Es muß also die sensible Nervenfaser sich in ihrem 
distalen Anteile (peripher vom Ganglion) gabeln“ (Brnce). Der eine Schenkel geht zur 
Haut, der andere zu den Blutgefäßen. Bruce macht jedoch selbst die Einschränkung, 
daß seine Erklärung durch „Axonreflex“ durch seine Versuche nicht zwingend erwiesen 
sei, da durch seine Eingriffe möglicherweise „sowohl die sensiblen wie auch die vasodi- 
latatorischen Nervenendigungen gleichzeitig und in gleichem Maße betroffen wurden.“ 
Wir werden dies vorläufig dahingestellt lassen müssen; auch die Wirkung der lokalen 
AnäBthetika könnten die vasomotorischen Nervenendigungen direkt betreffen, so daß die 
Beeinträchtigung der Hautsensibilität nur eine nebenher laufende für die Entzündungs- 
hemmung nicht wesentliche Erscheinung wäre. Auf jeden Fall handelt es sich dabei um 
eine peripherische Herabsetzung der Erregbarkeit des Gefäßapparates. 

Es kann nun unmöglich vorteilhaft sein, die natürliche Abwehrreaktion des 
Organismus, wie sie sich in der Gefäßerweiterung, Exsudation, kurz in der Ent¬ 
zündung ausspricht, durch funktionelle Ausschaltung der in Betracht kommenden 
peripherischen Apparate zu hemmen. Vielmehr ist der günstige Einfluß der 
Anästhesierung nur dahin zu verstehen, daß das Überschießen der Reaktion ver¬ 
hindert wird. 

Die Herabsetzung der örtlichen übermäßigen Erregbarkeit wird auch durch 
die zentral angreifenden Narkotika bewirkt. Die Beeinflussung der Über¬ 
empfindlichkeit durch Morphium geschieht nicht auf dem Wege der Aufhebung 
der Schmerzempfindung, sondern so, daß Morphium die Erregbarkeit des gesamten 
Nervensystems in allen seinen Teilen herabstimmt (Reflexe, Drüsentätigkeit usw.; 
auch eine schwache lokalanästhesierende Wirkung kommt 'übrigens dem Opium 
und Morphium zu). Es wirkt daher auf örtliche Reizzustände, wie z. B. lokalisierte 
Muskelkrämpfe (Koliken des Darms, Gallen-, Nierenkoliken usw.) beruhigend, 
wirkt durch Ruhigstellung des Darms günstig auf Entzündungen am Magen¬ 
darmkanal und seinem Bauchfellüberzug. Krankhaft erhöhte Reflexe, wie z. B. über¬ 
mäßiger Husten, Erbrechen usw., werden durch Morphium herabgesetzt. Die Ent¬ 
leerung des Magens wird durch Opium bzw. Morphium verzögert (Magnus, Katze); 
vorzugsweise wird der Dickdarm betroffen. 

In ähnlicher Weise wirkt Atropin durch Ruhigstellung der Iris und des 
Ciliarmuskels entzündungswidrig bei Iritis nnd Cyclitis. 

Vielleicht wirken die Narkotika auch zum Teil dadurch auf den peripherischen 
Prozeß günstig ein, daß sie die zentrale Ausbreitung der nervösen Erregung 
hemmen und so den Reizzustand lokalisieren. Die Mitbeteiligung anderer Teile 

') Joum. of Physiol. Vol. 26. 1900/01. 


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Ober die krankhafte Oberempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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des Organismus anf dem Nervenwege und durch Ausdehnung des vasomotorischen 
Beizzustandes kann dadurch ausgeschaltet oder verringert werden. 

Es ist auf keinen Fall zweifelhaft, daß narkotische Mittel auf dem Nerven¬ 
wege einen Einfluß auf die gewebliche Überempfindlichkeit zu gewinnen vermögen. 
Die Wirkung ist eine doppelte: Herabsetzung des örtlichen geweblichen Beiz¬ 
zustandes und Abschwächung der ausstrahlenden Wirkungen desselben. 

Winterstein hat bei Verworn nachgewiesen, daß die Narkotika imstande 
sind, die restitutiven Prozesse zu verzögern bzw. zu lähmen 1 ). Dies läßt ver¬ 
muten, daß sie bei therapeutischer Anwendung eine unerwünscht zu weit gehende 
Wirkung entfalten können, indem sie nicht blos das Übermaß der Beaktion, sondern 
diese selbst treffen. 

Weintraud weist im Verfolg seiner Erörterungen anf die schmerzlindernde 
Wirkung der warmen Bäder bei Gelenkentzündungen, wie der Wärme überhaupt 
bei rheumatischen und gichtischen Gelenkerkrankungen hin. Er deutet die Möglich¬ 
keit an, daß die Heilwirkung des Aspirins nnd Atophans zum Teil auf der Schmerz¬ 
linderung beruhe. Er zählt hier auch die Langesche anästhesierende Injektion 
in den Nervenstamm bei Ischias mit anf; weist auf die günstige Wirkung von 
Codein oder Heroin bei dem durch Gehen verursachten retrosternalen Schmerz 
der Arteriosklerotiker, bei Superazidität, nervöser Dyspepsie usw. hin. „Werden 
die Beschwerden dadurch eine Zeitlang ausgeschaltet, so ist damit oft auch der 
Beizzustand beseitigt, auf dessen Boden sie entstanden waren.“ Diese Er¬ 
fahrungen, welche ich bestätigen kann, sprechen durchaus für den Nutzen der 
Behandlung der Überempfindlichkeit in meinem Sinne. 

Außer dem Opium und seinen Alkaloiden kommt zur Herabsetzung krank¬ 
haft erhöhter nervöser Erregbarkeit die gesamte Gruppe sedativer Mittel 
in Betracht, wie Borneol, Menthol, Lupulin, ferner Cannabis indica, Hyoscyamus, 
Strammonium. 

Die hypnagogen Mittel, wie Chloral, die Barbitursäure-Verbindungen usw. 
haben in geringer Dosierung sedative Wirkungen. Vielfältige Verwendung finden 
die zentralwirkenden Bromsalze. Endlich sind die örtlich anästhesierenden Mittel 
wie Kokain und seine Derivate, Alypin, Anästhesin, Orthoform usw., Karbol¬ 
säure, Kohlensäure zu nennen. 

Bei der nervösen Überempfindlichkeit äußern also sowohl die peripherisch 
wie die zentral angreifenden Mittel Einfluß. Dies ist begreiflich, wenn man sich 
erinnert, daß die peripherisch ausgelöste Beizung zn einer zentral sich fest¬ 
setzenden und weiter um sich greifenden Überempfindlichkeit führt. 

Daß die Anwendung dieser Gruppe von Mitteln ohne Übertreibung nnd 
mit der gebotenen Vorsicht stattfinden muß, ist besonders zu betonen. 

Auch bakterielle neurotrope Stoffe (Doellkens Vaccineurin) hat man zur 
Behandlung nervöser Überempfindlichkeit herangezogen. 

Die Antipyretica und Antineuralgica (Antipyrin usw.) wirken, ohne die 
Sensibililät zu beteiligen, zentral herabsetzend auf gesteigerte Erregbarkeit. Die 
gefäßerweiternden Mittel (Nitrokörper, Diuretin) können die in Angiospasmen sich 
offenbarende Überempfindlichkeit beeinflussen. Gewisse Stoffe besitzen spezifisch 


*) Zur Kenntnis der Narkose. Ztschr. f. allg. Physiol. Bd. I. 1902. 


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vago- bzw. sympathikotrope Eigenschaften (Atropin, Lobelin, Physostigmin, Pilo¬ 
karpin, Adrenalin). 

Bezüglich der antipyretischen Behandlung des Fiebers bestehen noch immer 
grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. Die früher geübte strenge Antipyrese 
ist größtenteils verlassen, teils infolge der Erkenntnis, daß die künstliche Be¬ 
seitigung des Fiebers den krankhaften Prozeß nicht in dem Maße, wie man es 
erwartete, beeinflußt, teils wegen der schädlichen Wirkungen großer Dosen der 
antipyretischen Mittel. Auch die physikalische Herabsetzung des Fiebers, wie 
sie in der rigorosen Kaltwasserbehandlung des Typhus zur Anwendung kam, 
wurde verlassen; die Erfolge enttäuschten und zudem kam man zu der Erkennt¬ 
nis, daß es weniger die Herabsetzung des Fiebers war, was den Vorteil dieser 
Methode ausmachte, als vielmehr eine allgemein erfrischende und tonisierende 
Wirkung auf das Nervensystem. Hinzu kam, daß mehr und mehr die alte Lehre 
von dem „zweckmäßigen“ Charakter der Fieberreaktion zum Durchbruch gelangte. 
Andererseits lehrt die Erfahrung der Praxis, daß eine Milderung des Fiebers 
durch geringe oder mäßige Graben von antipyretischen Mitteln vielfach auf das 
Allgemeinbefinden, das Krankheitsgefühl, die Benommenheit oder die fieberhafte 
Unruhe, den Appetit usw. wohltätig wirkt. So kommt es, daß die Antipyrese, 
sowohl die chemische wie die physikalische (Umschläge, Abwaschungen, Packungen, 
lauliche Bäder) in gemilderter Form allgemein ausgeübt wird, in Sonderheit bei 
länger dauernden fieberhaften Erkrankungen, auch von denjenigen, welche in dem 
Fieber eine Abwehrreaktion des Organismus erblicken, wenn es auch einzelne 
Kliniker und Ärzte gibt, welche einen absolut strengen Standpunkt einnehmen 
und das Fieber grundsätzlich nicht bekämpfen. 

Wir kommen’ m: E. auch hier zur Klarheit, wenn wir innerhalb der zweck¬ 
mäßigen fieberhaften Reaktion die übermäßige nutzlose bzw. schädliche Form 
derselben absondern. Schon Rosenbach sagt: Die Antithermika sind Narkotika 
für den fieberhaften Prozeß, „weil sie die abnorme Erregbarkeit der wärme¬ 
bildenden Faktoren herabsetzen und so den Exzeß der Wärmebildung hemmen“ 
(Schmiedeberg: „Fiebernarkotika“). 

Liebermeister fand, daß es nicht auf die Bekämpfung des Fiebers als 
solchen ankomme, sondern auf die zeitweilige Unterbrechung desselben, namentlich 
bei kontinuierlichem Fieber. Thierfelder und besonders Griesinger wiesen 
darauf hin, daß niedrigere kontinuierliche Temperaturen schlechter vertragen 
werden als höhere, aber stärker remittierende. 

So erscheint vom Standpunkte der Behandlung der Überempfindlichkeit 
eine milde Antipyrese durchaus gerechtfertigt, freilich nicht in schematischer 
Weise, sondern nur bei besonders hohen und besonders anhaltenden Temperaturen; 
auch soll hiermit dem Mißbrauch, von Anfang an Antipyretica zu reichen und da¬ 
durch das Krankheitsbild zu verschleiern und die Fieberkurve zu verwirren, nicht 
das Wort geredet werden. 

Die physikalische Antipyrese wirkt wärmeentziehend und somit nicht auf 
die Überempfindlichkeit als solche, sondern auf ihren Folgeznstand. Aber immer¬ 
hin wird dadurch eine schädliche Wirkung der überspannten Reizbarkeit getroffen 
und zudem üben wahrscheinlich die Kälteanwendungen auch einen unmittelbar 
i hemmenden Einfluß auf die gesteigerte Erregbarkeit des temperaturregulierenden 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit und ihre Behandlung. 


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Zentrums aus. Im übrigen geschieht die Reduktion der erhöhten Temperatur 
bei der chemischen Antipyrese gleichfalls auf dem Wege der erhöhten Wärme¬ 
abgabe; nur Chinin wirkt bekanntlich auf die Wärme Produktion herabsetzend. 

Der günstige Einfluß der Antipyretica auf die das Fieber begleitenden Kopf- 
und Gliederschmerzen, Delirien, Unruhe, Benommenheit beruht nicht allein auf 
der Temperaturherabsetzung, sondern auch darauf, daß diese Stoffe zugleich 
zentral-anästhesierende Wirkungen besitzen. Diese letzteren treten zuweilen in 
viel stärkerem Grade hervor als die Temperaturherabsetzung, wie man es z. B. 
bei der Behandlung des Typhus mit kleinen verteilten Pyramidongaben sieht. 

Die schmerzstillende, beruhigende, unter Umständen auch den Schlaf vor¬ 
bereitende Wiikung dieser Mittel beweist, daß sie die Erregbarkeit in weiterem 
Sinne herabsetzen. 

Das Chinin nimmt zwischen den auf die Nerven und auf das Gewebe 
selbst wirkenden Mitteln eine Mittelstellung ein. Diesem Stoff kommt eine 
das Protoplasma lähmende Wirkung zu, welche beim Antipyrin usw. nur sehr 
wenig ausgesprochen ist. Chinin lähmt die Bewegungen einzelliger Organismen 
(Infusorien) und tötet letztere; auch auf Leukozyten übt es diese Wirkung aus 
(Binz). Es hemmt chemische Umsetzungen im Körper (Oxydationen, Synthesen, 
Spaltungen), z. B. die Umwandlung der Benzoesäure in Hippursäure in der Niere, 
wahrscheinlich durch Fermentlähmung; hemmt auch den Eiweißzerfall, setzt die 
Tätigkeit der quergestreiften und Herzmuskulatur herab (während es die Uterus¬ 
muskulatur reizt). Es ist somit besonders geeignet, um auf gewebliche Über¬ 
empfindlichkeit zu wirken. Es wird in neuerer Zeit mit Erfolg gegen die 
Überempfindlichkeit der Herzmuskulatur, wie sie sich im Vorhofsflimmern ausspricht, 
verwendet. 

Sowohl dem Chinin wie den anderen Antipyreticis ist es eigen, daß sie in 
schwachen Dosen erregend wirken, wie dies bekanntlich der Mehrzahl der nar¬ 
kotischen Mittel zukommt. 

5. Psychologische Behandlung (unmittelbar und mittelbar wirkend). 

Daß auch die psychologische Behandlung von Bedeutung ist, lehrt schon 
die neurasthenische Überempfindlichkeit. Ihre Anwendung geht aber weit über 
die Neurasthenie hinaus. Es wurde schon im H. Kapitel darauf hingewiesen, 
daß die subjektiven Symptome der Übermüdung in der Psyche des Leidenden 
sehr leicht Krankheitsvorstellungen hervorrufen können, welche der Arzt bannen 
kann, indem er den Kranken über den wahren Charakter der Symptome aufklärt 
und ihn von seiner fehlerhaften Deutung überzeugt. Dies gilt ganz allgemein 
oder wenigstens für einen großen Teil der vorkommenden Überempfindlichkeiten. 
Der Kranke hat ganz überwiegend die Neigung, die ihm zum Bewußtsein 
kommenden Symptome derselben auf Organkrankheiten zu beziehen. Die Sensa¬ 
tionen, welche vom überempfindlichen Herznervenapparat ausgehen, werden ihm zum 
Ausdruck einer Herzerkranknng; Schmerzen werden von ihm ohne weiteres auf 
eine Organschädigung bezogen usw. Die aufklärende ärztliche Belehrung bringt 
in solchen Fällen einen Umschlag in dem Sichfühlen des Kranken hervor, welcher 
viel mehr bedeutet als eine bloße Aufbesserung der Stimmung, nämlich der Be¬ 
ruhigung und Ruhebehandlung dient, deren Wichtigkeit für die objektive Besserung 


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der Überempfindlichkeit besprochen worden ist. Aach die im UL Kapitel 
erwähnte Überempfindlichkeit des Gefühls bietet der Suggestivbehandlung (evtl. 
Hypnose) eine breite Angriffsfläche. 

In anderer Weise gelangt die psychologische Beeinflussung zur Wirksamkeit, 
wenn es sich darum handelt, durch lebenspädagogische Vorschriften die Vermeidung 
von Übermüdung und Überreizung zu erzielen. Die Lebensführung muß in das 
richtige Verhältnis zur Leistungsfähigkeit gebracht werden. Gewohnheiten und 
Neigungen, welche durch übermäßige Beanspruchung zur Überempfindlichkeit 
führen, müssen dem Kranken aberzogen werden usw. 


Behandlung der latenten Überempfindlichkeit. 

Nicht selten sind die Überempfindlichkeitssymptome latent und treten nur 
unter Bedingungen hervor, welche die allgemeine Empfindlichkeit steigern, wie 
z. B. bei Ermüdung bzw. Übermüdung, bei nervösen oder psychischen Erregungen, 
bei irgendwelchen Neuerkrankungen. So können infolge von Erschöpfung lokale 
Beschwerben auftreten, welche nicht lediglich nervöser bzw. neurasthenischer 
Natur sind, wie man im allgemeinen anzunehmen geneigt ist, sondern welche auf 
ein latentes organisches Leiden hinweisen, z. B. auf Arteriosklerose beruhen. Es 
ist praktisch wichtig, diesen Gesichtspunkt zu beachten. Ich habe solche Bei¬ 
spiele häufig gesehen. Die Auffassung dieses Zusammenhanges setzt uns in die 
Lage, latente Leiden aufzuspüren und frühzeitig therapeutisch anzugreifen. 

Schon im III. Kapitel (S. 380 f.) wurde auf diese Erscheinung hingewiesen. 
Mosler 1 ) berichtet, daß beim Wolhynischen Fieber starke Schmerzen besonders 
an denjenigen Körperteilen auftreten, welche früher einmal Sitz einer Erkrankung 
oder Verletzung gewesen waren; auch Rötung und Schwellung früher erkrankt 
gewesener Gelenke wurde von ihm beobachtet. 

Die Behandlung der latenten Überempfindlichkeit stellt eine wichtige und 
dankbare prophylaktisch-therapeutische Aufgabe dar. Diese bildet unbedingt eine 
Anzeige für die Behandlung. Denn so lange latente Überempfindlichkeit besteht, 
so lange kann und wird wahrscheinlich das Leiden wiederkehren. Bemerken wir 
doch eben das Vorhandensein der latenten Überempfindlichkeit an der vorüber¬ 
gehenden Reaktion auf geringe Anlässe. Stärkere werden das Leiden in größerer 
Dauer und Intensität zur Manifestation bringen. Durch die Beachtung der latenten 
Überempfindlichkeit erhalten wir wertvolle Hinweise auf die vorhandene Krank¬ 
heitsanlage, sei es, daß es sich um eine rein gewebliche, sei es, daß es sich um 
eine nervöse Überempfindlichkeit handelt. Die Behandlung der latenten Über¬ 
empfindlichkeit ist gleichbedeutend mit derjenigen des zugrunde liegenden 
Leidens und geschieht, wie oben ansgeführt, zum Teil durch die Ausschaltung 
nnd Vermeidung der auslösenden exogenen Bedingungen, zum Teil durch die Um¬ 
stimmung des Organismus im Sinne der Erhöhung seiner Widerstandskraft (vgl. 
oben) im ganzen wie speziell der passiven bzw. aktiven Widerstandsfähigkeit des 
Locus minoris resistentiae durch Abhärtung, Übung, Reizgewöhnung usw. Die 
Bereitschaft zur Überempfindlichkeit steht im umgekehrten Verhältnis zur Wider¬ 
standskraft. Zu weit gehende Schonung ist hier nicht angebracht. Freilich 


l ) Ztschr. f. phys. und diät. Ther. August/September 1918. S. 862. 


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Über die krankhafte Überempfindlichkeit nnd ihre Behandlung. 


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sollen die Anlässe, welche die latente Überempfindlichkeit manifest machen, ver¬ 
mieden werden nnd es tritt häufig der Fall ein, daß mit der Zeit, wenn sehr 
lange so verfahren wird, die überempfindlichen „Rezeptoren“ verschwinden, aber 
einesteils trifft dies nicht immer za, anderenteils ist die Schonung nicht immer 
auf längere Zeiträume hin durchführbar. Deshalb muß neben der Schonung die 
Übung Platz greifen. Je mehr die Überempfindlichkeit abnimmt und in das 
latente Stadium tritt, um so mehr wird es Zeit, die methodische Kräftigung durch 
Übung', Abhärtung usw. aufzunehmen. 

Bestehende latente Überempfindlichkeiten bilden oft die Ursache von uner¬ 
warteten paradoxen Reaktionen bei der Anwendung physikalischer Heilmethoden, 
insofern als an dem überempfindlichen Teil abnorm starke Reizwirkungen auf- 
treten, welche durch Irradiation eine allgemeinere Erregung hervorrufen und z. B. 
ein sonst beruhigendes Heilverfahren in sein Gegenteil verkehren können. 

Das Manifestwerden der latenten Überempfindlichkeit bei einem relativ zu 
großen Maß von Beanspruchung zeigt an, daß jene als eine Schutzvorrichtung 
aufzufassen ist Ähnlich dem Warnungssignal des Schmerzes hat die Überempfind¬ 
lichkeit zur Folge, daß der erkrankte Teil „zwangsläufig“ geschont wird. 

Schlußbemerkung. Wohl bei jeder Erkrankung kann die natürliche Ab¬ 
wehrreaktion die „zweckmäßigen“ Grenzen überschreiten und so zu Erscheinungen 
der Überempfindlichkeit führen. Wir müssen uns bemühen, dieselben im Krank¬ 
heitsbilde heraus zu erkennen (vgl. oben). Ihre Bekämpfung ist ebenso richtig, 
wie die Bekämpfung der natürlichen Abwehrreaktion an sich falsch ist. Die 
Krankheitssymptome enthalten sowohl die Erscheinungen der letzteren wie der 
exzessiven Reaktion. Die Grenze mit Schärfe zu ziehen, ist oft sehr schwierig. 
Je mehr die Symptome einen den Kranken gefährdenden Grad und Charakter an¬ 
nehmen, desto mehr ist an Überempfindlichkeit zu denken. Ein- oder mehrmaliges 
Erbrechen nach Genuß einer schädigenden Substanz ist eine nützliche Abwehr¬ 
reaktion, Fortdauer des Erbrechens oder Erbrechen ohne Vorliegen der genannten 
Ursache ist Ausdruck einer übermäßigen und schädigenden Überreizung. Husten 
mit Entleerung vorhandener Absonderungsstoffe ist nützlich, gehäufter „Reizhusten“ 
ohne Expektoration oder beim Fehlen solcher zu entleerender Stoffe ein über¬ 
flüssiges störendes, unter Umständen schädigendes Überreizungssymptom usw. Das 
gründlichste Mittel gegen die Überempfindlichkeit würde ohne Zweifel darin be¬ 
stehen, das dieselbe verursachende Leiden zu heilen oder die sie auslösenden 
exogenen Bedingungen aus der Welt zu schaffen bzw. vom Kranken fernzuhalten. 
Beides ist aber nur in begrenztem Umfange, häufig gar nicht möglich. Daß die 
Überempfindlichkeit als solche der Behandlung bedarf, ist oben bewiesen worden. 
Auch ist gezeigt worden, daß die Überempfindlichkeit für sich, auch ohne Heilung 
des zugrunde liegenden Leidens behandelt und gebessert werden kann. Diese 
Behandlung ist nicht bloß eine solche eines Symptoms; es wäre ganz verkehrt, 
ihr als einer „bloß“ symptomatischen Behandlung eine nebensächliche Bedeutung 
zuzuerkennen. Vielmehr steht sie obenan und schließt sich unmittelbar der In- 
dicatio morbi an (vgl. oben). Ist sie doch sehr häufig die Krankheit selbst, z. B. 
die Überempfindlichkeit bei Diathesen, bei Übermüdung und Überreizung. In 
anderen Fällen spielt sie bei der Pathogenese eine ausschlaggebende Rolle (Ana- 


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phylaxie bei Infektionen und Intoxikationen). Und auch dort, wo sie nur als eine 
krankhafte Steigerung einer physiologischen Reaktion und als Symptom neben 
anderen Symptomen auftritt (Fieber, Schmerzen, Erbrechen usw.), hat ihre Be¬ 
handlung häufig eine Rückwirkung auf den sie bedingenden Krankheitsvorgang, 
denn man vergesse nicht: die Überempfindlichkeit bekämpfen heißt die exzessive 
und damit schädigende Höhe der Reaktion des Organismus auf die krankmachende 
Ursache abschneiden und dieselbe auf den nützlichen Wert zurückführen. 


II. 

Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 

Aus dem Landesbad der Rheinprovinz (Chefarzt Dr. Krebs). 

Von 

Walter Krebs 

in Aachen. 

Die Behandlung der chronischen Arthritiden gilt gemeinhin als eine nicht 
sehr dankbare Aufgabe der ärztlichen Kunst. Und doch gelingt es bei genügender 
Beharrlichkeit von seiten des Patienten und des Arztes und bei ausreichend ab¬ 
wechselnder Anwendung der unten näher beschriebenen Methoden, in vielen Fällen 
Besserungen bzw. Heilungen zu erzielen, während in anderen Fällen wenigstens 
ein Stillstand des Leidens schon einen nicht kleinen Erfolg der Therapie bedeutet. 
Wenn in nachstehenden Zeilen nicht auch auf die Gelenkentzündungen nach 
Scharlach, Sepsis, Tripper, Typhus, Ruhr und anderen Infektionskrankheiten mehr 
eingegangen wird, so hat es darin seinen Grund, weil ihre Behandlung grund¬ 
sätzlich und im allgemeinen die gleiche ist — abgesehen von einer etwa spezi¬ 
fischen kausalen Therapie der gonorrhöischen und tuberkulösen Gelenkent¬ 
zündungen usw. 

Die arzneiliche Behandlung erzielt im < allgemeinen keine sehr glänzenden Resul- 
tate hinsichtlich der Beeinflussung des Krankheitsablaufs, dagegen ist sie vielfach von 
nicht zu unterschätzendem Wert für die Beseitigung symptomatischer Beschwerden und 
von Rückfällen, die oft eintreten und besonders oft durch die Reaktion auf physikalisch- 
therapeutische Eingriffe bedingt sind. An erster Stelle stehen die altbewährten Mittel 
der Salizylpräparate, unter denen das Aspirin bzw. Acetylin (Heiden) nach mehr wie 
einer Richtung den Vorzug verdient. Ihre Wirkungsweise dürfte so zu erklären sein, 
daß sie, deren relative Speicherung in den Gelenken wiederholt nacbgewiesen ist, am 
Ort der Entztindungsvorgänge, also hier die Gelenke, die sensiblen Reize herabmindern 
oder beseitigen und damit gleichzeitig die Entzündung selbst schwächen. Nach Spieß 
u. a. m. erklärt sich der Einfluß der Herabsetzung der Schmerzen auf den Entzündungs¬ 
vorgang folgendermaßen: Jeder schmerzhafte Reiz bedingt fast unmittelbar eine örtliche, 
aktive Hyperämie und somit die ersten Anfänge einer Entzündung; wenn nun die Schmerz¬ 
reize beseitigt werden, so werden auch die Hyperämie ausbleiben oder verringert werden 


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Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 


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und mit ihr in vielen Fällen auch weitere Entzündungserscheinungen. Auch die erfahrungs¬ 
gemäß gute Wirkung der künstlich erzeugten — aktiven und passiven — Hyperämie 
auf chronische und akute Gelenkentzündungen ist nach Spieß in erster Linie der Herab¬ 
minderung der Schmerzen und in zweiter erst der daraus resultierenden Verringerung 
der entzündlichen Erscheinungen zuzuschreiben. 

Eine ähnliche Auffassung hatte Rosenbach, der schon vor Jahren darauf hinwies, 
wie der Gebrauch des Morphiums auf den Ablauf von Entzündungen allein durch Herab¬ 
setzung der Erregbarkeit vielfach günstig wirkt. Da bei vielen Menschen nach den 
Salizylpräparaten Magendruck und Sodbrennen auftreten, empfehle ich angelegentlich, sie 
in Gelodnratkapseln, die sich nicht durch den Magensaft, sondern erst im Darm infolge 
seines alkalischen Saftes auflösen und bei denen in der Tat die obigen unangenehmen 
Nebenwirkungen ganz fortfallen, zu verabreichen. Auch Gaben von 1 bis 2 g Na. bicarb. 
unmittelbar nach der Einnahme derartiger, Sodbrennen usw. erzeugender Mittel sind 
meist imstande, diese unangenehmen Nebenwirkungen zu verhüten. 

Je nachdem die Schmerzen des Morgens oder des Abends am stärksten auftreten, 
müssen die Kranken vor allem in dieser Zeit einnehmen und zwar jede Stunde 1 bis 
2 Tabletten bis zur Höchstdosis von 5—6—8, je nach Bedarf, aber evtl, auch noch mehr, 
am Tage. Ist die Nachtruhe durch Schmerz gestört, so haben sich Pulver von der 
Mischung 0,5 Acetylin mit 0,1 bis 0,015 Dionin kurz vor dem Schlafen als besonders 
zweckmäßig erwiesen. 

Es ist ja bekannt, daß in letzter Zeit die gleichzeitige Darreichung von ungleich 
wirkenden Mitteln besonders bevorzugt wird, die sich nach Bürgis — freilich noch 
strittigen — Auffassung, in ihren gleichgerichteten Wirkungsfolgen potenzieren, während 
gleichartig wirkende sich einfach summieren. So werden auch die Tabletten nach 
Treupel — enthaltend: Acetylin, Phenazetin, Codein und Natriumsulfat — oft mit 
gutem Erfolg angewendet, desgleichen das unter dem Publikum sehr verbreitete und durch 
die Tageszeitungen reichlich angepriesene Togal, das in der Hauptsache Chinin, Lithium 
und Acetylin enthält, sowie Alberts Remedy — eine Mischung von Colchizin, Opium¬ 
tinktur und Jodkali in spirituösem Zuckerwasser. Von anderen „Antirheumatizis“ nenne 
ich nur noch das Ervasin, ein Acetylester der Parakresotinsäure — einer homologen 
Salizylsäure — und das lösliche Ervasinkalzium, sowie das Apyron, ein acetyl- 
salizylsaures Lithium —, das auch subkutan angewendet wird. Auch das Mittel der 
Antipyringruppe, darunter das Antipyrin selbst, ein Phenyldimethylpyrazolon, und das 
ihm verwandte Dimethylamidoantipyrin-Pyramidon —, das in kleineren Dosen, da fast 
dreimal wirksamer als das Antipyrin, meist in Tablettenform gegeben wird, und das 
Phenazitin — ein Oxyäthylacetanilid — mögen hierbei genannt sein. Das besonders 
durch die Arbeiten von Weintraud in die Gichttherapie eingeführte Atophan, eine 
Phenylcinchoninkarbonsäure — das ebenfalls in Geloduratkapseln in den Apotheken vor¬ 
rätig ist —, hat auch bei den nicht durch Gicht bedingten Arthritiden in vielen Fällen 
einen unverkennbaren Einfluß auf Schmerzen und Schwellungen, weshalb seine Anwendung, 
falls etwa die Salizylpräparate ohne Erfolg gegeben sind, wohl zu empfehlen ist. Über 
die Art der Wirkung dieses vielfach als spezifisches Gichtmittel angesehenen Arznei¬ 
mittels auf die gichtischen Gelenkaffektionen besteht noch keine Einhelligkeit. Während 
Weintraud sie in erster Linie als elektive, die Harnsäureausscheidung fördernde ansiebt, 
glaubt Brugsch in Übereinstimmung mit anderen (Schittenhelm), daß das Atophan 
vor allem die Harnsäure mobilisiert. Nicht die gesamte Menge des abgebauten Nucleins 
wird nach ihm in Umsatz gebracht, sondern ein Teil bleibt als Reserve im Körper und 
zwar hauptsächlich in der Leber zurück — eine Aufspeicherung, die derjenigen von 
Glykogen, Fett und Eiweiß entspricht. Atophan wirkt nun speziell auf den Umsatz 
dieses Teils des intermediären Nucleinstoffwechsels in dem Sinne, daß es diesen Umsatz 
verstärkt bzw. die Depots mobilisiert und die Nieren zur Ausscheidung der zirkulierenden 
Harnsäure reizt. — Die Anwendung des Jods bei der Behandlung der chronischen Gelenk¬ 
entzündungen ist seit langen Jahren in Gebrauch. Da er erfahrungsgemäß auf die 
Sklerose der Gefäße günstig einwirkt — besonders bei früherer syphilitischer Infektion — 
und von manchen Autoren ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Arteriosklerose und 


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0. arthr. def. angenommen wird, so wäre ja (auf diese Weise) die günstige Einwirkung 
des Jod wenigstens auf die 0. arthr. def. soweit wohl erklärlich. 

In neuerer Zeit ist die subkutane Einverleibung des Adrenalins warm befürwortet 
worden. Schmidt-Prag erklärt geradezu, daß es in vielen Fällen das Salizyl über¬ 
flüssig mache und dies nicht nur symptomatisch gegen die Schmerzempfindung, sondern 
auch auf die Gelenkschwellungen selbst wirkt. In den von mir beobachteten Fällen 
chronischer Arthritis habe ich einen besonders günstigen Einfluß der Adrenalinein- 
spritzungen nicht konstatieren können; weitere Versuche damit werden aber zeigen, ob 
das Adrenalin nur etwa bei akuten Arthritiden wirkt und bei chronischen ohne Erfolg 
bleibt. Während bei den akuten Arthritiden mit mehr oder weniger septischem Charakter 
die Anwendung der Silbersalze — Collargol, Elektrargol usw. — intravenös, per anum oder 
per os sowie in Form von Salben auf die Haut gerieben —, mit vielfach gutem Frfolg 
geübt wird, zeigten sich diese Mittel bei chronischen Arthritiden nur dann wirksam, 
wenn sie zu Zeiten der Rezidiven, die mit fieberhaften und sonstigen ernsten Störungen 
des Allgemeinbefindens einhergingen, gegeben wurden. 

Schließlich möchte ich nicht verfehlen, des Arsens Erwähnung zu tun, das mir 
besonders in Form des subkutan einverleibten Solarsons recht gute Dienste geleistet hat. 
Nicht nur wird das bei den chronischen Arthritikern oft stark beeinträchtigte Allgemein¬ 
befinden dadurch fast stets wesentlich gehoben, sondern ich habe auch den sichern Ein¬ 
druck erhalten, daß die Gelenkentzündungen selbst günstig beeinflußt wurden. Die Er¬ 
klärung dieser Wirkung ist nicht ganz einfach, jedenfalls nicht sicher. Aber man geht 
wohl nicht fehl, wenn man einerseits die bekannte Förderung der Ernährung und des 
Wachstums bzw. der Regeneration durch das Arsen, andererseits die Vernichtung bzw. 
Einschmelzungen pathologischer Bildungen — Wirkungen, die erfahrungsgemäß oft 
nebeneinander bei der Arsenmedikation hergehen —, als Grund für die gute Wirkung 
bei den chronischen Arthritiden ansieht, bei denen ja fast durchweg auch atrophische 
Prozesse neben hypertrophischen Wucherungen der Kapseln usw. bestehen. 

Diese Einschmelzung von Adhäsionen und Bindegewebswucherungen und die Er¬ 
weichung von Kapselschrumpfungen und narbigen Kontrakturen, wie sie häufig bei den 
chronischen Arthritiden anzutreffen sind, kann man auch durch das Thiosinamin (Allylthio- 
Harnstoff) in Verbindung mit Natriumsalizylat — Fibrolysin genannt — erzeugen, dessen 
Wirkung wahrscheinlich in der Verwandlung des Collagens in den löslichen Leim besteht. 
Das für die gleichen Zwecke von Fränkel warm empfohlene Cholin scheint eine ähnliche 
Wirkung zu besitzen, wenn sie auch von anderer Seite nicht in dem Umfange bestätigt 
wird, wie sie von Fränkel angegeben wurde. 

Kürzlich hat Heilner-München eine von den bisherigen therapeutischen Eingriffen 
völlig abweichende Behandlungsart vorgeschlagen und auch bei zahlreichen Patienten mit 
überwiegend sehr guten Ergebnissen durcbgeführt. Heilner geht von der Auffassung 
aus, daß die Affinität, d. h. die natürliche Reaktionsfähigkeit gewisser Stoffwechselprodukte 
gegenüber bestimmten Gewebsformationen sich während des geordneten Ablaufs der 
Lebensvorgänge in der Zelle niemals durchsetzen darf, da sonst Reibungen, Hemmungen, 
ja selbst Außerbetriebsetzungen im Zellgetrieb die Folge sein müßten. Da nun diese 
Affinität nicht ohne weiteres aufgehoben werden kann, so muß der Organismus besondere 
Schutzvorrichtungen gegen die pathologische Auswirkung der chemischen Anziehung treffen: 
es muß deshalb in den Gelenken ein besonderer eingeborener Schutz gegen die Affinität, 
z. B. der Harnsäure, angenommen werden, der als Ergebnis eines streng örtlichen Pro¬ 
zesses in den Gelenken anzusehen ist. Und der Erfolg seiner Therapie, die in der 
intravenösen Einspritzung von Knorpelextrakten besteht, hat Heilner 1 ) belehrt, daß für 
die Gicht weder eine spezifische Noxe noch abnorme Stoffwechselprodukte als ursächliche 
Momente obiger Krankheiten in Frage kommen. Diese Theorie scheint voller Beachtung 
wert und die Zukunft wird lehren, ob in der Tat, wie zu hoffen, die Behandlung der 
chronischen Arthritiden einen ausschlaggebenden Nutzen daraus ziehen und völlig andere 
Bahnen wandeln wird. Außer der innerlichen und subkutanen Einverleibung arzneilicher 


') M. m. W. 1917. Nr. 29, 1916. Nr. 28. 


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Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 


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Mittel wird auch äußerlich eine große Reihe von Medikamenten gebraucht, die teils in 
Salben, teils in flflssiger Form znr Anwendung gelangen. Anch hier wieder stehen in 
letzter Zeit die Salizylpräparate obenan: ich nenne hier nur das Salit, Salizylsäureester, 
des Borneols, das eine branne ölige Flüssigkeit darstellt, die entweder mit Olivenöl za 
gleichen' Teilen verdünnt oder als Salitnm solnt., aufgepinselt oder eingerieben wird, 
worauf die betreffenden Hautstellen mit Watte usw. zu bedecken sind. Auch das 
Rheumasan, ein freie Salizylsäure enthaltender Seifencreme, sowie das Dermasan 
— eine Salizylseife — werden in ähnlicher Weise verwendet. Ich muß gestehen, daß 
ich kein großer Verehrer dieser Salizylmedikation bin, da die Erfolge nur sehr selten 
einwandfrei festzustellen sind und naturgemäß die auf die Einreibung ( oder Aufpinselung 
folgende Einpackung mit Watte usw. für die gute Wirkung nicht ohne Bedeutung 
sein dürfte. 

Bessere Erfolge haben m. E. die althergebrachten Einpinselungen chronisch ent¬ 
zündeter Gelenke mit Jodtinktur, die eine starke Hyperämie herbeiführt und noch in 
beträchtlicher Tiefe cytolytische Einschmelzung und Resorption von erkrankten Geweben 
sowie von pathogenen Stoffen bewirkt. 

Auch die Auftragung bzw. die Einreibung von Jadvasogen hat sich mir in Verbindung 
mit nachfolgenden Wattepackungen in manchen Fällen recht gut bewährt. 

Ähnlich hyperämisierend wie beim Jod ist der Erfolg bei den Einreibungen mit 
Senfspiritus, die 1- bis 2 mal täglich vorgenommen werden sollen, wobei jedoch darauf 
zu achten ist, daß keine Blasenbildung eintritt, da diese Blasen erfahrungsmäßig nur 
langsam heilen. Auch in der Form des Pflasters bzw. in der der Senfpackungen 
(s. später) wird das in ihnen zur Entwicklung gelangende bzw. vorhandene Senföl 
äußerlich zur Anwendung gebracht, die zum mindesten außerordentlich schmerzlindernd 
wirken (s. o.). Daß außer den genannten Mitteln noch eine ganze Reihe, die Haut 
mehr oder weniger reizender Linimente, Extrakte usw. in Gebrauch ist, so z. B. das 
Antiphiogistine — enthaltend Aluminiumsilikat, Glyzerin, Bor- und Salizylsäure, Jod 
und verschiedene ätherische Öle, das Pain expeller, aus Kampfer, Salmiakgeist und 
Tct. Mezerei hergestellt u. a. m., brauche ich wohl kaum zu erwähnen. Sie alle wirken 
mehr oder weniger Hyperämie erzeugend und tun, abwechselnd gebraucht —• denn bei 
allen chronischen Gelenkentzündungen ist naturgemäß ein wiederholter Wechsel in den 
arzneilichen wie auch in den physikalisch-therapeutischen Anwendungen besonders wirk¬ 
sam und darum notwendig —, immer wieder gute Dienste. 

Physikalische Therapie. 

Bei den Anwendungsformen der physikalischen Therapie, die für die Behänd- 
lang der chronischen Gelenkentzündungen in weit größerem Umfange herangezogen 
zu werden pflegt, als die arzneiliche, ist zwischen allgemeinen und örtlichen zu 
unterscheiden. Während die ersteren den ganzen Körper betreffen und vor allem 
seinen Stoffwechsel beeinflussen sollen, wenden sich die örtlichen, wie der Name 
sagt, an die betreffenden Gelenke bzw. an den Sitz der Erkrankung selbst und 
unmittelbar. 


Bevor ich an die Beschreibung der einzelnen physikalischen Methoden gehe, sei nur 
kurz des Einflusses der Witterung bzw. des Klimas Erwähnung getan. Es ist eine alt¬ 
bekannte Tatsache, daß Witterungswechsel und feuchte — besonders feucht-kalte Witte¬ 
rung — von den Arthritikern Behr empfanden, vielfach schon vor ihrem Eintritt geahnt 
werden. Es ist deshalb von nicht zu unterschätzender Bedeutung, daß bei etwa mög¬ 
licher Auswahl des Wohnortes auf diesen Umstand geachtet und Orte mit mehr trockenem 
Klima dazu gewählt werden. Ein Aufenthalt in rauher Jahreszeit in Egypten, Bisbra 
und Algier, oder auch Arco, Meran usw. ist solchen Patienten, wenn es ihre Verhältnisse 
gestatten, sehr anzuempfehlen. Bei den arbeitenden Kreisen sind Arbeitsstätten, die 
feucht sind und eine Beschäftigung in und mit Feuchtem dringend zu widerraten. 


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Hydrotherapie. Von den allgemeinen hydriatischen Anwendungen nenne 
ich die heißen Vollbäder, die indifferenten Dauerbäder und die Dampf¬ 
bäder. Die Technik der Vollbäder würde so sein, daß Temperaturen von 
38 bis 40 bis 42° C für 15 bis 20 Min. angewendet werden, bei einer Anfangswärme 
von ca. 36° C und schnellen Steigerung auf die obigen Grade, sowie unter Vor¬ 
nahme der Kopfkühlung mittels kalter Kompressen oder dergleichen. Kranken mit 
schwachen Herzen sind Temperaturen von 39 bis 42° C gemeinhin nicht zuträglich, 
weswegen eine sorgfältige Herzuntersuchung solchen Verordnungen stets voran¬ 
geben muß. Die Dauerbäder sollen gewöhnlich in indifferenten, vielleicht auch 
etwas darüber hinausgehenden Temperaturen verabreicht werden, also 35 bis 30 
bis 37° C und stundenlang am Tage oder gar wochen- und monatelang dauern. 

Zu ihrer Vornahme wird man sich im privaten Haushalte in seltenstem Falle 
entschließen, da entweder besondere Wannen und Apparate oder eine sehr zeit¬ 
raubende und wohlgeschulte Bedienung dafür erforderlich sind. Da bei chronischen 
Gelenkveränderungen mit erheblichen Bewegungsbeeinträchtigungen aber diese 
Bäder von sehr gutem Erfolge begleitet sind, zumal sie gleichzeitig als kineto- 
therapeutische oder Bewegungsbäder wegen der größeren Leichtigkeit aller Bewe¬ 
gungen vermittels des Auftriebs des Wassers zu gebrauchen sind, so empfiehlt es 
sich jedenfalls in schweren Fällen sehr, auf diese gegebenenfalls zurückzugreifen. 

Die Dampfbäder werden entweder in allgemeinen, mit Dampf erfüllten 
Räumen (russischen Bädern) oder noch besser in Dampfkästen, die sowohl für 
liegende wie für sitzende Haltung konstruiert werden, genommen. Die Kasten¬ 
bäder sind vorzuziehen, da der Kopf des Badenden außerhalb dieser bleibt und 
so der Patient nicht den heißen, infolge der Schweiß- usw. Ausdünstungen der 
Mitbadenden oft unangenehm riechenden Dampf einzuatmen braucht, vielmehr in 
kühlerer Atmosphäre sich befindet und kühlere und reinere Luft in sich aufnimmt. 
Temperatur bis 40° und 42° C, Dauer 10 bis 15 bis 20 Min. Kontrolle des Pulses 
wegen der Gefährdung des Herzens wie bei den heißen Wasserbädern erforderlich. 

Von örtlichen Anwendungen kommen lokale heiße Bäder (40 bis 42° C, 
30 bis 45 Min. Dauer) ev. unter Zusatz von 4 bis 5 °/ 0 Sole- oder Kochsalz, oder 
wechselwarme Gelenkbäder (40° C 50 Sek. + 12° C 10 Sek. in mehrfachem 
Wechsel) mit nachfolgender tüchtiger Trockenreibung und Umlegung eines dicken 
trockenen ev. Flanell verbandes — bei Ergüssen unter gleichzeitiger Kompression 
— oder eines hydropathischen Umschlages in Betracht. Ferner heiße (40 bis 
42° C) kurzdauernde oder kalte — 1 Minute höchstens — und wechselarme (letztere 
in Temperatur und Wechsel, ähnlich wie die wechselwarmen örtlichen Bäder) 
Strahlenduschen, wobei bemerkt wird, daß alle heißen Duschen und Teilbäder 
zweckmäßig mit ganz kurzen kalten Anwendungen gleicher Art beendet werden 
sollen. Auch heiße Wasserumschläge, die 42° C heiß angelegt und von dicken, 
wollenen Tüchern bedeckt, alle 10 Minuten gewechselt und wiederholt am Tage 
stundenlang vorgenommen werden, wirken, ebenso wie die sogenannten Dampf¬ 
kompressen, in vielen Fällen recht günstig. Die Dampfkompressen werden so 
angelegt, daß ein mehrfach gefaltetes, wollenes bzw. Flanelltuch auf oder um das 
Gelenk gelegt und in dieses hinein ein heißes (45° C) nasses Tuch gelegt wird, 
so zwar, daß es nur durch eine Flanellscbicht von der Haut getrennt wird und 
nach außen hin die übrigen Schichten zu liegen kommen. So zieht der heiße 




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Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthriiiden. 


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Dunst in die Poren des weichen Gewebes ein und bildet gewissermaßen eine 
Dnnsthülle nm das Gelenk. Auch diese heißen Wasserkompressen werden gemein¬ 
hin alle 10 Minuten erneut in die Flanelltücher geschoben. 

Im Anschluß an alle örtlichen Wärmeprozeduren lasse ich gern dicke, wollene 
•oder baumwollene Handschuhe an den Händen, an anderen Gelenken entsprechende 
Kappen oder Stauchen Tag und Nacht tragen,, wodurch zum mindesten auf die 
Schmerzen recht günstig eingewirkt wird. — Der Einfluß hydropathischer oder 
erregender (Prießnitzscher) Umschläge tritt bei chronischen Arthritiden meist nicht 
in dem Maße zutage wie bei akuten; setzt man ihnen aber zur Hälfte Alcohol 
-absol. hinzu oder nimmt an ihrer Stelle seine Zuflucht zu reinen Alkoholum¬ 
schlägen, so sind auch die Erfolge solcher Umschläge häufig sehr gut und be¬ 
sonders bei Rezidiven schnell in die Erscheinung tretend. 

Die Anwendung des Wassers in Dampfform geschieht örtlich mittels der 
Dusche, der der Dampf entweder aus vorhandenen Dampfleitungen oder auch aus 
Kleinen, besonders konstruierten Apparaten (Firma Moosdorf & Hochhäusler-Berlin) 
zugeführt wird. Dauer 15 bis 20 Min. Ihre sehr günstige Wirkung kann noch 
gesteigert werden durch gleichzeitige Massage, da bei der starken Durchtränkung 
der Gewebe mit Blut und Lymphe infolge der Dusche ein Zerkleinern etwaiger 
Entzündungsreste und ihr Hineinschaffen in die Zirkulation durch die Massage 
besonders gut gelingt. 

Über die physiologische Wirkung der thermischen Anwendungen, auch der 
hydriatischen, siehe nachher. 

Trockene thermo-therapeutische Anwendungen. 

Die heißen Luftbäder sowohl in Form der gemeinsamen irisch-römischen 
wie auch in derjenigen der modernen, m. E. mehr zu bevorzugenden Kasten¬ 
bäder, wie auch die Glühlichtbäder, von denen es eine Reihe von Sonder¬ 
arten gibt, sind geeignet, den Stoffwechsel zu erhöhen und eine verstärkte Zirku¬ 
lation in den peripheren Geweben und Körperteilen herbeizuführen: sie wirken 
weniger erregend auf das Herz wie die heißen Wasser- und Dampfbäder, bedingen 
auch nur geringere Wärmestauungen und damit Temperatursteigerungen im Innern 
und können deswegen bei höheren Temperaturgraden und für längere Dauer ge¬ 
nommen werden. Immerhin würde ich empfehlen, sie nicht über Stunde bis 
20 Min. auszudehnen — vorausgesetzt, daß die Anfangstemperatur sich bereits 
über die der Körperoberfläche erhob, und die Endtemperatur nicht über 45 bis 
£0° C zu steigern. Jedenfalls sind die sehr hohen Temperaturen bis 70° C und 
darüber — auf deren Erreichung die Patienten oft selbst drängen, nicht erforder¬ 
lich, ja nicht einmal im Interesse der Herzschonung wünschenswert, zumal das 
Schweißoptimum schon bei 50° C liegt und Temperaturen darüber also einer ver¬ 
stärkten Schweißabsonderung nicht nur nicht zu-, sondern höchstens abträglich 
sind. Will man die im Gange befindliche Schweißabsonderung mit der Beendigung 
des Bades nicht abschließen, sondern noch einige Zeit fortsetzen, so läßt man die 
Kranken, gleichwie nach anderen allgemeinen Wärmeanwendungen, in wollene 
Decken gewickelt bzw. gut zugedeckt, auf Ruhebetten V 2 bis 1 Stunde liegen, 
nachschwitzen und nachher mit kalter Wasser- oder Spirituslösung flüchtig ab- 
waschen oder duschen usw. und darnach trocken reiben. 


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Zum Gebrauche in liegender Haltung und deswegen bequem im Bett an¬ 
wendbar ist eine Reihe von Heißluftapparaten konstruiert, von dene^ ich nur den 
Hilzingerschen nenne, der nicht nur als Voll-, sondern auch für die verschiedensten 
Körperteile als Teilbad zu benutzen ist. Auch sogenannte Lichtmulden, die über 
den Liegenden gedeckt und innen mit einer Anzahl von Glühlampen armiert sind, 
werden zu gleichen Zwecken und mit gutem Erfolge verwandt. 

Die Glühlichtbäder sind den Heißlnftbädera deswegen vorzustellen, weil der Schwei߬ 
ausbruch — vermöge der in ihnen vorhandenen Wärmestrahlung — bei niedrigeren 
Temperaturen und nach kürzerer Zeit gemeinhin erfolgt als bei den Heißluftbädern und 
sie infolgedessen für schonender angesehen werden müssen. Den bei manchen Glühlicht¬ 
bädern gleichzeitig vorhandenen Bogenlampen einen besonderen Wert bei der Erzeugung 
von Schweiß und Erhöhung des Stoffwechsels beizumessen, dürfte, m. E., kein Grund 
vorliegen. 

Einen energischeren, ich möchte sagen, sichtbareren Einfluß als die allge¬ 
meinen Heißluftprozeduren üben im allgemeinen die thermischen Teilluftan¬ 
wendungen, die sich unmittelbar an den Sitz der Erkrankung selbst wenden, 
auf die chronischen Arthritiden aus. Alle örtlichen Wärmeanwendungen führen 
eine mehr weniger aktive Hyperämie herbei, die auf einer Reizung der Vasodila- 
toren, unabhängig vom Zentralnervensystem und den großen Nervensträngen, be¬ 
ruht. Diese Hyperämie beschränkt sich nicht nur auf die äußere Bedeckung, 
sondern geht auch allmählich in die Tiefe, vorausgesetzt, daß die Wärmeanwen¬ 
dung genügend heiß und langdauernd ist. Ihre Wirkung ist eine mannigfaltige: 
sie besteht einmal in Steigerung des örtlichen Stoffwechsels, dann aber auch ferner 
in der Herabsetzung des Schmerzes, Beschleunigung der Bewegung der Gewebs- 
säfte, wie auch der Blutzirkulation und in der Hervorrufung von Schweiß; ferner 
werden Ernährung und Resorption gefördert, die Auflösung krankhafter, fester 
Stoffe bewerkstelligt und vorhandene Bakterien abgetötet oder abgeschwächt (Bier). 
Schaeffer ist freilich auf Grund seiner Untersuchungen geneigt, bei der Hitze nnd 
auch bei der Spiritusbehandlung der erhöhten Lymphzirkulation eine noch höhere 
Rolle zu zuerkennen als der Hyperämie und betont, daß auf dem Wege des Gas¬ 
austausches die Hyperämie wob! viel zu leisten vermöge (Erhöhung des Oxyda¬ 
tionsprozesses), daß für die Wirkung flüssiger Substanzen (besonders Antikörper) 
aber doch wohl nur die lymphatische Flüssigkeit in Betracht käme. Es braucht 
wohl kaum gesagt zu werden, daß ähnlich wie diesen Wirkungen der örtlich an¬ 
gewendeten trockenen Wärme auch die der feuchten Wärme sind. Zu bemerken 
ist aber, daß die feuchte Wärme, besonders in Form des Dampfstrahls, von hoher 
Spannung nach den Anschauungen Briegers, energischer in die Tiefe wirkt und 
die durch ihn bewirkte Hyperämie von längerer Dauer ist. 

Ob man nun die trockene Wärme in Form der zuerst von Bier angegebenen, 
seither in zahlreichen Konstruktionen mit den verschiedensten Abänderungen ver¬ 
sehenen Heißluftkästen, deren Gestalt meist der Sonderheit eines jeden Gelenks 
angepaßt ist, angewendet oder in Form der elektrisch geheizten Elektrotherm- 
kastens (Lindemann), dürfte ohne grundsätzliche Bedeutung sein. Jedenfalls 
empfiehlt es sich, bei der Vornahme dieser heißen Teilluftbäder, deren Dauer 
i/ 2 bis 1 Stunde betragen soll, den Körper sowohl, wie auch besonders das er¬ 
krankte Gelenk so zu lagern, daß nicht im Laufe der Anwendung selbst und 


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Zar nichtchirargischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 


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hinterher Erscheinungen — wie Kopfschmerzen, Mattigkeit, Übelkeit, Herzklopfen 
und anch Schmerzen im Gelenk selbst — auftreten, die oft weniger eine unmittel¬ 
bare Folge der angewandten Temperatur als vielmehr der falschen Lagerung des 
Patienten und des Gelenkes sind. Sind mehrere Gelenke zu behandeln, so wählt 
man nach Biers Vorschlag die schlimmsten Gelenke aus und behandelt diese; 
dabei mag die mehrfach bestätigte Erfahrung erwähnt werden, daß anch die nicht 
behandelten Gelenke sich gleichzeitig oft an der Besserung beteiligen. 

Die Temperaturen in den Kästen erreichen sehr bald beträchtliche Höhe, 
sind jedoch in den verschiedenen Luftschichten sehr nnterschiedlicb, so daß die 
an dem meist in der oberen Fläche angebrachten Thermometer ablesbaren 
Temperaturen entschieden weit höhere Grade anzeigen als in der nächsten Um¬ 
gebung des betreffenden Körpergelenks tatsächlich herrschen. 

An Stelle der lokalen Heißluft- oder Lichtkästen werden auch mit gutem 
Erfolg die Heißluftdusche (Vorstädter), der Fönapparat — der mittels elektrischen 
Stromes die Luft erhitzt —, die Stangerotherme oder Elektrothermkompresse der 
verschiedensten Form — chemisch reines Asbestgewebe, in das biegsame, von 
elektrischem Strom erwärmte Widerstandsdrähte eingelagert sind, und der Bogen- 
lichtreflektor benutzt. Ob neben der Wärme, die der letztere entwickelt und die 
besonders im Brennpunkt der vom Hohlspiegel zurückgeworfenen Lichtstrahlen 
der Kohlenstiftlampe stark bemerkbar ist, auch die blanen bzw. violetten nnd 
ultravioletten Strahlen des Bogenlichts noch eine spezifische, die Hyperämie ver¬ 
stärkende Wirksamkeit enthalten, steht noch dahin. Dem Bogenreflektor zunächst 
steht die Quecksilberquarzlampe, auch künstliche Höhensonne genannt —, deren 
Licht kalt, andererseits aber reich an violetten und ultravioletten Strahlen ist —, 
nnd nicht nur Hyperämie erzeugend auf den bestrahlten Körperteil, sondern auch 
stoffwechselfördernd wirkt. 

Aber nicht nur die „künstliche Höhensonne“, sondern auch selbstverständlich 
die natürliche Sonne wirkt in hohem Maße günstig auf alle chronischen Gelenk¬ 
prozesse: in warmer Jahreszeit setzt man die leicht eingefetteten Gelenke 1 / 2 bis 
1 Stunde lang der unmittelbaren Sonnenbestrahlung aus, in kühlerer Zeit nimmt 
man diese im Zimmer nnweit der geschlossenen Fenster vor. 

Auch der elektrische Strom als solcher wirkt erfahrungsgemäß gefäßerweiternd, 
damit hyperämisierend und schmerzstillend: sowohl der galvanische und der 
galvanofaradische wie auch der faradische Strom, der mittels großer, das Gelenk 
zu einem großen Teil umfassenden Elektroden oder aber anch im Vierzellenbad 
appliziert wird, besitzen diese Eigenschaft und können bei hartnäckiger Er¬ 
krankung, bei denen wieder und immer wieder ein Wechsel der Behandlungs¬ 
methoden vorgenommen werden muß, mit begründeter Aussicht auf einen Erfolg 
empfohlen werden (s. a. Mann, Elektrotherapie im Handbuch der physikalischen 
Therapie). 

Ein in den letzten Jahren besonders viel angewandtes Verfahren darf hier 
nicht unerwähnt bleiben, es ist dasjenige der Diathermie, bei der Hochfrequenz- 
Wechselströme mittels schmiegsamer Elektroden, die der Haut dicht anliegen 
müssen, in den Körper geleitet werden, sich bei Hindurchfließen analog dem 
Jouleschen Gesetz in Wärme umsetzen nnd ohne elektrische Beizwirkung auf das 
Protoplasma sind. Diese Durchwärmung, die nicht anf dem Wege der Leitung 


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442 W. Krebs, Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 


oder Strahlung, sondern auf Grand eines eigentümlichen Umformungsprozesses im 
Innern des Körpers entsteht, tritt besonders schnell in den tiefen Geweben ein, 
schneller als bei Anwendung jeder anderen Art von thermischen Prozeduren und 
wirkt nicht nur ungemein günstig auf die Schmerzen ein, sondern bedingt auch 
eine stärkere Durchblutung und somit die Möglichkeit erhöhter Resorption krank¬ 
hafter Depots. Besonders bei der chronischen Arthritis deformans der Wirbel¬ 
säule, deren Schmerzen oft so ungemein hartnäckig und quälend sind, hat mir der 
Diathermieapparat fast ausnahmslos die besten Dienste bezüglich der Schmerz¬ 
linderung und Wiederherstellung der Beweglichkeit geleistet. 

Auch die Röntgenstrahlen üben auf den Verlauf und die Erscheinungen der 
chronischen Arthritiden einen oft unverkennbaren guten Einfluß aus, nicht nur, 
daß sich Bewegungen und Schwellungen bessern, sondern sie wirken auch in 
besonderem Maße auf die Schmerzen schnell und günstig ein, und zwar auch wieder 
infolge von Hyperämiewirkung. Eine Kombination mit hydro-therapeutischen 
Anwendungen, die zweckmäßig in unmittelbarem Anschluß an die Bestrahlung 
vorzunehmen sind, ist wohl zu empfehlen (Kienböck, Sakolow, Eschrich u. a.). 

Im Zusammenhang mit den Röntgenstrahlen sei auch noch gleichzeitig der 
Radiumstrahlen gedacht, die gemeinhin in Form der Emanationen — (der gas¬ 
förmigen Umwandlungsprodukte des Radiums) — zur Verwendung gelangen. Sie 
werden außer auf dem selteneren Wege der subkutanen Einspritzung — Braun¬ 
stein — meist mittels Bäder-, Trink- und Inhalationskuren dem Körper einver¬ 
leibt, und zwar nicht nur an Ort und Stelle der Gewinnung des Radiums — bzw. 
an den Heilbädern selbst, sondern auch zwecks Vornahme von Hauskuren an 
jedem beliebigen Orte, da es die Industrie sehr bald ermöglicht hat, diese 
Emanationen überall mittels Emanatoren zu erzeugen. Welche Art der Einver¬ 
leibung vorzuziehen ist, steht noch dahin; bezüglich des Gebrauchs der Radium¬ 
bäder verdient jedenfalls die Vorschrift Beachtung, daß die Patienten nach dem 
Bade nicht abgeduscht oder abgerieben werden sollen, sondern noch ’/a bis 1 Stunde 
in einer Badedecke eingeschlagen liegen müssen, damit die Emanation, die sich 
auf der Haut niederschlägt, noch längere Zeit auf sie einwirkt; am zweckmäßigsten 
geschieht diese Liegekur im Baderaum selbst, damit der Kranke die aus dem 
Wasser entsteigende Emanation noch einatmet, wobei erwähnt werden mag, daß 
eine Reihe Autoren dieser Einatmung mehr Wert beimißt als der äußerlichen An¬ 
wendung der Emanation in Bäderform. 

In welcher Weise man sich die Wirkung der Radiumemanation vorzustellen hat, ist noch 
unklar; die bisherigen Beobachtungen und Erfahrungen lassen aber annehmen, daß sie 
auf eine gesteigerte Funktion autolytischer Fermente bei chronischen Entzündungen nicht 
ohne Einfluß zu sein scheint, und daß auch der respiratorische Stoffwechsel durch die 
Radiogentrinkkur erhöht wird. Die von einigen Autoren gefundene vermehrte Harnsäure¬ 
ausscheidung im Urin bei der Gicht (Gudzent) und das Verschwinden der Harnsäure 
im Blut konnte von anderen (B rüg sch) nicht bestätigt werden. Auch für die obige 
Einwirkung auf die Harnsäure wurde von Gudzent die Beeinflussung bzw. Aktivierung 
der Fermente des Purinstoffwechsels durch die Radiumemanation als Ursache angenommen. 

(Schluß folgt.) 


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Berichte Uber Kongresse und Vereine. 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 


Waffenbrfiderliche Vereinigungen Deutschlands und Österreich-Ungarns. 

1.Tagung der medizinischen Abteilungen vom 11. bis 13. Oktober 1917 in Baden b. Wien. 

n. 

Sitzung vom 12. Oktober 1917 vormittags. 

Vorsitzende: Wirkl. Geh. Obermedizinalrat, Ministerialdirektor Prof. Dr. Kirchner, 
Landessanitätsreferent Hofrat Dr. v. Hel ly. 

Schriftführer: Dr. Thenen, Dr. v. Aufschnaiter. 

Geheimer Medizinalrat Professor Dr. W. His (Berlin): Bäder- und Klimabehandlung 
der Erkrankung der Harnorgane. Unter den Ursachen der Nephritis nimmt die Erkältung 
eine Hauptrolle ein. Eine besondere Form der Nephritis tritt seit Frühjahr 1915 seuchenartig 
auf; diese Form ist höchstwahrscheinlich infektiös und setzt der Therapie in vielen Fällen die 
größten Schwierigkeiten entgegen. Wenn auch die ärgsten alarmierenden Erscheinungen des 
Ödems und der Urämie meist überraschend schnell zu schwinden pflegen, so dauert es in vielen 
Fällen sehr lange, bis Heilung eintritt Auch der Übergang in chronische Induration ist nicht 
selten. Derartige nach Tausenden zählende Fälle sind es, die eine balneologische oder klima¬ 
tische Behandlung nahelegen. Heute werden Trinkkuren nur mit großen Einschränkungen und 
nur für ganz bestimmte Fälle empfohlen. Mineralwasserkuren üben an sich auf die Heilung 
akuter Nierenentzündungen keinen Einfluß aus, dennoch ist es von großem Nutzen gewesen, 
daß die Sanitätsbehörden einige geeignete Kurorte speziell zu Lazaretten für Nierenkranke aus¬ 
gestattet haben. Der Wert eines Kurortes ist ja mit seinen Heilquellen nicht erschöpft; er um¬ 
faßt außerdem die klimatischen Faktoren, die zur Pflege geschaffenen Einrichtungen und vor 
allem tüchtige und erfahrene Ärzte. Daher hat der Senat der Kaiser Wilhelm-Akademie sich 
für die Einrichtung besonderer Stationen für Nierenkranke ausgesprochen. Ein besonderes 
Wort verdient die klimatische Behandlung langwieriger Nierenentzündungen. Die klimatische 
Behandlung kann für ausgewählte Fälle von Nutzen sein, nicht im Sinne einer eigentlichen Heil¬ 
wirkung klimatischer Faktoren, sondern durch Fernhalten von Schädigungen besonders während 
der kalten Jahreszeit Den Mineralwasserkuren kommt eine spezifische Wirkung weder auf die 
Diurese noch auf die Abscheidung harnfähiger Bestandteile zu. Dennoch wird man die schwach- 
mineralisierten Quellen als leicht resorbierbare Wässer im Lazarett wie auch im Kurort gern 
verwenden. 

Professor Dr. A. Strasser (Wien): erscheint in extenso. 

Professor Dr. Hugo Salomon (Wien): Bezüglich der Ätiologie der Nephritis kann ich 
die Bemerkung nicht unterdrücken, daß die Impfung als ätiologischer Faktor doch vielleicht 
nicht so sicher zu verneinen ist wie das bisher geschah. 

Zumeist ist die Art der akuten Glomerulo-Nephritis ganz derjenigen ähnlich, wie wir sie 
nach akuten Infektionen zu sehen gewohnt sind. Ich muß hier meinem geehrten Vorredner 
widersprechen, welcher in der starken Neigung zur Blutung und in der starken Diurese der 
Feldnephritis eine Besonderheit sieht. Meines Erachtens ist dieselbe Stärke der Blutung bei 
zahlreichen postanginösen Nierenentzündungen genau so und die reichliche Diurese erklärt sich 
aus der durchgehende sofort angewendeten kochsalzfreien Kost Die Art der Nephritis wäre 
also durchaus mit einer durch Bakterientoxine ausgelösten vereinbar. 

Die relative Seltenheit des Anschließens . einer Nephritis au die spontan . auftretenden 
Heeresseuchen ist wohl auch kein zwingender Gegenbeweis, denn die Impfung wird eben doch 
sehr allgemein und wiederholt durchgeführt, ; 

Zeit«chr. f. physik. u. diät. Therapie Bd. XXII. lieft 11. 30 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 


In den sehr heißen und trockenen Sommermonaten des Jahres 1917, in denen Nässe und 
Kälte als ursächliche Faktoren nur wenig in Betracht kommen konnten, habe ich bei 71 gerade 
eingelieferten Nephritikern dem Faktor der Impfung Beachtung geschenkt. Man darf dabei 
nicht außer acht lassen, daß bei der Häufigkeit der Impfung (wohl etwa alle halben Jahre) 
natürlich jeder Nephritiker nicht allzulange nach einer Impfung erkrankt sein muß. Von den 
genanntem 71 Mann waren 31 = 43,6 % nachweisbar innerhalb der ersten acht Wochen nach 
der letzten Typhusimpfung erkrankt, 10 = rund 14% innerhalb der ersten 14 Tage. 

Es ist übrigens über Albuminurie nach der Impfung mehrfach berichtet worden, kürzlich 
zum Beispiel von Eich (Deutsche Medizinische Wochenschrift vom 26. Juli 1917; unter 600 vor 
der Typhusimpfung eiweißfreien 3 % Albuminurie). 

Was die Car eil kur betrifft, so erscheint sie mir bei ödematösen Nephritikern im Gegen¬ 
satz zu dem Verhalten der Herzkranken überflüssig. Es genügt einfache salzfreie Kost, da die 
mit der Carellkur verbundene und für den Herzkranken wohltätige Einschränkung des Nahnmgs- 
volums hier meist überflüssig ist. 

Will man aber Carellkur anwenden und hat keine Milch, so erscheint mir in der Tat 
die von Jagic und mir (Wiener klin. Wochenschrift 1917) vorgeschlagene Darreichung von 1 kg 
Kartoffeln (ohne Salz) und 1 Liter Wasser, resp. Fruchtsaft, als das beste Verfahren. Denn es 
erspart die Salzmenge, die in den von Strass er vorgeschlagenen Semmeln enthalten ist, und 
gibt außerdem noch durch die in den Kartoffeln enthaltenen Kalisalze einen Anreiz für die 
Chlornatriumausscheidung. 

Aussprache. Wirklicher Geheimer Obermedizinalrat, Ministerialdirektor Dr. Kirchner 
(Berlin): Ich bitte um die Erlaubnis, zu dem Vortrage des Herrn Geheimrates His nur zwei 
Bemerkungen machen zu dürfen. Die erste bezieht sich auf die Statistik des Herrn Prof. Salomon, 
nach der der Eindruck entstehen muß, als wenn die Kriegsnephritis in zahlreichen Fällen die 
Folge der Typhusschutzimpfung wäre. Er führte an, daß 46 % seiner Fälle Patienten betrifft, 
die gegen Typhus geimpft waren. Meine Herren! Diese Statistik kann ich als richtig nicht 
anerkennen. Wenn sämtliche 10 Millionen Soldaten, die gegen Typhus schutzgeimpft worden 
sind, auf die Folgen einer Nephritis untersucht wären und wenn 46 % der Leute an Nephritis 
erkrankt wären, dann hätte Herr Salomon recht. Wenn aber zufällig unter seinen Nephritis¬ 
fällen 46 % an Nephritis erkrankt sind, so beweist das gegen die Typhusschutzimpfung nichts. 
Dagegen möchte ich darauf aufmerksam machen, daß wir im Herbst 1914 ziemlich viel Typhus 
in der Armee gehabt haben und daß der Typhus wie abgeschnitten war» als wir daran über¬ 
gingen, die ganze Armee gegen Typhus zu impfen. Was wäre wohl aus uns geworden, wenn 
wir diese Maßregel nicht ergriffen hätten? Wir würden sicher nicht hätten siegen können. 
Meine zweite Bemerkung richtet sich gegen meinen verehrten Freund, Herrn Geheimrat His. 
Herr His hat gemeint, man hätt£ früher viel von der schonenden Behandlung der Nephritis 
gehalten und deswegen die klimatischen Faktoren milder Klimate, z. B. in Ägypten, angeführt. 
Diese Ansicht ist aber durch Löwy als unberechtigt erwiesen worden. Ich habe mich wieder¬ 
holt in Ägypten aufgehalten und im Jahre 1905 mich dahin ausgesprochen, die schonende Be¬ 
handlung sei bei Nephritikern sehr wichtig und sie könne gut durchgeführt werden in Ägypten, 
dort hätten zu gewissen Jahreszeiten die Nieren und das Herz sozusagen Ferien. Diese An¬ 
schauung halte ich aufrecht gegenüber der Arbeit von Löwy, die ich aufmerksam gelesen habe. 
Die starke Insolation und viel zu relative Feuchtigkeit der Luft in Ägypten, nebenbei wieder 
im Wendekreis, leisten Wunderdinge. Das habe ich wiederholt feststellen können. Da wir von 
den südlichen Gegenden jetzt abgeschlossen sind, sollten wir an anderen Orten studieren, ob 
da nicht ähnliche Verhältnisse vorhanden sind oder aber geschaffen werden können. Ich möchte 
mit einer allgemeinen Bemerkung schließen. Meiner Meinung nach sind unsere Bäder und Kur¬ 
orte noch lange nicht genug in den Dienst der Therapie gestellt worden. Tch bin äuch der 
Ansicht, daß die Regierungen mehr als bisher für den Ausbau der Bäderfürsorge tun sollen. 
Die Badeärzte aber würden sich ein Verdienst erwerben, wenn sie nicht nur die Kranken und 
Bäder ihrer Kurorte studieren würden, sondern auch alle Heilfaktoren, die dort sind, vor allem 
auch die klimatischen, in den Dienst der Kranken stellen würden. Dann würden sie sich um 
die leidende Menschheit hochverdient machen. 

Regimentsarzt Privatdozent Dr. Julius Schütz (Wien) sieht in den Worten des Vor¬ 
tragenden, daß Nierenkranke nie felddiensttauglich werden, eine Bestätigung der Ausführungen 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 


445 


seiner Publikationen, daß bei einer Reihe von Fällen die Funktionsprüfung ein gesteigertes 
Konzentrationsvermögen zeigte. Die Trinkkurbehandlung bei Nephritis scheint heute noch eine 
strittige Frage zu sein. Schütz möchte die Aufmerksamkeit auf die kohlensauren Bäder, und 
zwar vom Standpunkte der kardialen Therapie, lenken. Besonders dankenswert ist der Hinweis 
des Vortragenden darauf, daß wir in den einzelnen Kurorten nicht bloß auf die £urmittel, 
sondern auch auf die Tätigkeit des Arztes besonders Gewicht legen müssen. Man darf nicht 
vergessen, daß die Mineralquellen erst in der Hand des Arztes zu Heilquellen werden. 

Stadtphysikus Dr. Karl Zörkendorfer (Marienbad): Die vor dem Kriege im baineo¬ 
logischen Institut zu Marienbad durch mehr als ein Jahrzehnt ausgedehnten Beobachtungen 
hatten auffallende Erfolge der Marienbader Kurmittel bei Nephritikern erkennen lassen; es lag 
nun auf der Hand, auf Grund dieser Beobachtungen die Kriegsnephritis in den Bereich der 
balneologischen Behandlung mit Marienbader Quellen einzubeziehen. Dazu kam noch, daß die an¬ 
dere Gruppe der Nierenerkrankungen, die in das Spezialgebiet der Urologie gehört, schon seit 
langer Zeit zum Indikationsgebiet Marienbads gehören, daß ihnen durch Errichtung einer uro- 
logischen Klinik Rechnung getragen wurde. Während aber diese letztere Gruppe, die urologische, 
mit den erdigen Quellen vom Typus der Rudolfsquelle behandelt wird, ist der günstige Erfolg 
bei den Nephritiden und Nephrosen dem Gebrauch der alkalisch-salinischen Wässer, dem Kreuz¬ 
brunnen- und Ferdinandsbrunnentypus, zuzuschreiben, wobei wir eine Nierenschonung durch 
Ableitung auf den Darm annehmen. 

Die Fälle von Kriegsnepbritis, die jetzt beobachtet werden, sind fast ausschließlich beinahe 
noch im akuten oder im abklingenden akuten und subakuten*Stadium, meist hämorrhagische 
Formen, stellen also ein ganz anderes Bild dar, als man sonst in Kurorten zu sehen gewohnt 
ist. Ob bei diesen Formen nicht auch die erdigen Quellen oder mehr die alkalisch-salinischen 
Quellen vorzuziehen sind, wird durch Beobachtung zu erweisen sein. Solche frischere Fälle 
werden aber naturgemäß nach Ablauf des"Krieges verschwinden und dann der definitiven Nieren¬ 
heilstätte nur chronische Fälle zur Behandlung zufallen, die sich kaum viel von den chronischen 
Nephritiden unterscheiden dürften, die wir vor dem Kriege zu sehen gewohnt waren. Da die 
Beobachtungen bei solchen chronischen Erkrankungen sich auf ein sehr großes Material stützen, 
ist man vollberechtigt, anzunehmen, daß dieselben Erfolge sich auch bei den chronisch gewor¬ 
denen Kriegsnephritiden einstellen werden und die Nierenheilstätte sich als wichtiges Glied in 
die Heilbehelfe einreihen wird. Dabei wird ganz naturgemäß eine Gliederung der Marienbader 
Nierenheilstätte in zwei Abteilungen eintreten, wovon die eine, die für Nephritiker, besonders 
die Trinkkuren mit Kreuzbrunnen und Ferdinandsbrunnen, die andere, die urologische Abteilung, 
besonders die mit den Rudolfsquellen pflegen wird, während die Kohlensäure- und Moorbäder und 
die übrigen Heilmittel Marienbads in beiden Gruppen wichtige Unterstützung darstellen werden. 

Professor Dr. Winternitz (Halle): Herr Geheimer Rat His hat die Wirksamkeit von 
Trink- und Brunnenkuren sowie der klimatischen Faktoren durchaus anerkannt, aber doch ander¬ 
seits den Standpunkt vertreten, daß es keine eigentlichen Nierenheilbäder gibt. Wir 
dürfen dem voll beipfiichten und es begrüßen, wenn diese Auffassung einmal auch klar aus¬ 
gesprochen wird. Das gibt uns im Heimatland eine sehr erwünschte Stütze bei der so häufig 
nötigen begutachtenden Überprüfung von Kuranträgen für nierenkranke Kriegsteilnehmer. Im 
Grunde genommen leistet ein Nierenspital in Marienbad, Wildungen o. dgl. für die Nierenkrank¬ 
heiten sicher nicht mehr als ein entsprechend eingerichtetes Lazarett an irgendeinem anderen 
Ort Für die Überweisung in ein sogenanntes Nierenheilbad werden daher nur die besonderen 
Umstände des Falles maßgebend sein können. 

OA. Dr. Max Löwy (Marienbad und Helouan bei Kairo): Hinweis, daß vielfach die baineo¬ 
therapeutischen Heilfaktoren indirekt wirken eben auf dem Wege über Nervensystem und 
Zirkulation. Bei der Nephritis können ebenfalls Trinkkuren als auf das Splanchnikusgebiet, 
Badekuren auf das periphere Gebiet wirksam nützlich werden, ähnlich das Klima. Im ägyptischen 
Klima beobachtete Löwy die Verkürzung der dermographischen Reaktionszeit, wie sie bei uns 
Vasoneurotiker zeigen. 

Geheimer Medizinalrat Professor Dr. Küminell (Hamburg) hat in den Lazaretten der 
Westfront eine Mortalität von 3% bei Nephritis konstatiert. In den Lazaretten wurden schwere 
und schwerste Fälle mit Urämie und Anurie beobachtet. Bei allen diesen Fällen wurde zu dem 
operativen Eingriffe der Entkapselung gegriffen. Auch in Fällen, bei denen die Anurie 4 bis 

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Berichte Uber Kongresse und Vereine. 


5 Tage angehalten hat, hat die Entkapslung manchmal Erfolg gehabt Gestüzt auf die Friedens- 
erfahrungen, sind wir auch bei der Kriegsnephritis an die Operation gegangen u. zw. mit gutem 
Erfolg. Kümmell spricht nicht von klinischen Heilungen, sondern von der Beseitigung der 
lebensgefährlichen Symptome. 

Geheimer Medizinalrat Professor Dr. His (Schlußwort): Schutzimpfung ist nicht Ursache 
der Nierenkrankheiten; in der türkischen Armee ist ausgiebig geimpft, dennoch fehlt die Kriegs¬ 
nephritis; bei uns geht die Zahl der Nephritiden zurück, obschon die Impfungen fortwährend 
wiederholt werden. Die Genesenden können wieder felddienstfähig werden, müssen aber zwischen 
Lazarett und Felddienst eine Belastungsprobe im Heimatdienst durchmachen. Der Nutzen des 
Klimas und der Badekuren soll denen zugut^i kommen, die wirklich Vorteil davon haben: den 
verzögert Genesenden und den durch langen Lazarettaufenthalt im Allgemeinbefinden Geschwächten; 
für chronische Nephritiden gelten die Friedensindikationen. 

Professor Dr. K. F. Wenckebach (Wien): BalneoLogische und Heilstätten¬ 
behandlung herzkranker Soldaten. (Erscheint in extenso.) 

Generalarzt Geheimer Medizinalrat Dr. A. Hoffmann (Düsseldorf): Die von Herrn 
Wenckebach gewählte Einteilung der Herz- und Kreislaufstörungen ist zum Zwecke der 
gegenseitigen Verständigung gewiß praktisch zulässig, doch möchte ich meine Bedenken nicht 
verhehlen dagegen, das zum Teil das klinisch funktionelle Verhalten, zum Teil die ätiologischen 
Verhältnisse hierbei zum Ausgangspunkt gewählt sind. So zeigen sich namentlich in den 
Gruppen 3, 4 und 5 fließende Übergänge unä Kombinationen, so daß eine scharfe Unterordnung 
der einzelnen Krankheitsfälle unter eine dieser Nummern nicht möglich ist. Gruppe 1 und 2 
umfassen die gewöhnlich „organische Herzleiden“ genannten Krankheitsbilder, 3, 4 und 5 die 
funktionellen Herzkrankheiten. 

Was nun meine persönlichen Erfahrungen anbertifft, so fällt weitaus die Mehrzahl der bei 
Kriegsteilnehmern beobachteten Erkrankungen unter die Gruppe 3 bis 5, wobei wiederum die 
Gruppe 5 den allergrößten Prozentsatz stellt. Sie ist von 4 schwer abzugrenzen, denn neben 
einer morphologisch feststellbaren Konstitution haben wir auch eine funktionelle, beziehungs¬ 
weise psychische Konstitution zu unterscheiden. 

Die Fälle der Gruppen 1 und 2 haben ihr Hauptkontignent unter den höheren Lebens¬ 
altern der Heeresangehörigen, besonders auch unter den älteren Offizieren, die, zum Teil schon 
verabschiedet, aus Anlaß des Krieges wieder reaktiviert wurden. Die meisten verdanken ihr 
Leiden nicht den Einwirkungen des .Krieges, sie waren vorher schwerkrank; aber ihre Krank¬ 
heit verschlimmerte sich unter jenen. Zu diesen gehören meiner Ansicht nach auch recht viel 
abnorm Fettleibige. Gerade die Adipositas sollte bei der Beurteilung der Dienstfähigkeit be¬ 
sonders beachtet werden, denn die Herzen Fettleibiger neigen besonders zum Versagen. 

Die Behandlung aller zu 1 und 2 gehörigen Fälle kann in Kurorten stattfinden und hier 
sind die natürlichen Heilquellen besonders indiziert Wir besitzen in Deutschland und Österreich- 
Ungarn zahlreiche Orte, die zur Behandlung solcher Kranker geeignet sind und an vielen Stellen 
ließen sich kohlensaure Quellen mehr für solche Behandlungszwecke nutzbar machen, um der 
schädlichen großen Anhäufung solcher Kranker an einzelnen Orten entgegenzuwirken. 

Meine in höherem Aufträge ausgeführten Besuche von bekannten Herzbädern zeigten mir 
aber, daß die dort untergebrachten kreislaufkranken Heeresangehörigen meist den Gruppen 
3 bis 5, besonders 5 angehörten. Die erzielten Heilresultate waren aber nach eigener Angabe 
der Ärzte recht unbefriedigend, besonders bei den Tachykardien, den sogenannten Herzklopfern, 
die weitaus die größte Zahl bildeten. Diese Leute bilden ebenso wie einst die Zitterer unter 
den Nervenkranken eine besondere therapeutische Schwierigkeit für uns. Ich möchte sie zu 
jenen ganz in Parallele stellen. Auch hier handelt es sich um Fixation von körperlichen Re¬ 
aktionen auf Affekte. Nur hier liegen die Dinge besonders eigenartig. Während bei den 
hysterischen Affektionen sich die Fixation auf im Bereich der willkürlich beweglichen Muskulatur 
sich abspielende Affektreaktionen beschränkt, werden hier Organe betroffen, deren Innervation 
von dem der Willkür nicht unmittelbar unterliegenden sympathischen und parasympathischen 
autonomen Nervensystem erfolgt. Aber auch dies ist einer mittelbaren willkürlichen Beeinflussung 
unterworfen. Bekannt sind die Selbstversuche Tarchanoff s, der sich eintibte, den Puls willkürlich 
zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Dies aber geschah auf dem Umweg über einepsychische 
Vorstellung. Auch in der Hypnose gelingt es, den Puls zu beschleunigen und zu beruhigen. 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 447 


Wir müssen gerade für diese Kranken eine individuelle Behandlungsmethode erstreben, 
bei der die psychische Einwirkung das wesentliche ist, um über den Weg von Vorstellungen 
der Fixation der Affektreaktion entgegenzuarbeiten. 

Nicht eine mehr oder weniger schematische Bäder- und Übungskur ist hier wirksam, 
sondern eine dem Einzelfall angepaßte Psychotherapie, wozu auch nützliche Beschäftigung ge¬ 
hört Natürlich kann dies auch in Badeorten geschehen; aber man muß sich dabei klar machen, 
daß nicht die Quelle, sondern der Arzt heilt: non medicina sed medicus curat 

Leider fehlt es bei uns bei der zerstreuten Unterbringung dieser Herzneurotiker an der. 
Möglichkeit zu ausgedehnten Versuchen. Ein diagnostisches und therapeutisches Trommelfeuer, 
wie es in manchen Badeorten auf die Patienten losgelassen wird, ist nicht am Platze, wohl 
aber die beruhigende Einwirkung eines erfahrenen Arztes, dem es gelingt, die fixierten Befürch¬ 
tungen zu bannen und den Weg zur Unterdrückung der Reaktionen zu weisen. 

Regimentsarzt Priv.-Doz. Dr. Rudolf Kaufmann (Wien): Über die Behandlung der 
Herzerweiterungen mit kohlensauren Bädern. Als Chefarzt der Herzstation des k. k. 
Reservespitales 16 in Wien habe ich reichlich Gelegenheit, die Wirkung der kohlensauren 
Bäder, über welche die Station verfügt, auf im Feld erworbene oder verschlechterte Herzleiden 
zu beobachten. Wenn ich heute nur über die Wirkung kohlensaurer Bäder auf eine Form der 
Herzschädigungen, nämlich auf Herzerweiterungen, spreche, so geschieht das aus zwei Gründen, 
erstens lassen bei uns eine Reihe von Erkrankungen, obwohl die Kranken und wir eine Besse¬ 
rung im Sinne einer Zunahme von Leistungsfähigkeit konstatieren, objektiv nachweisbare Ver¬ 
änderungen nach der Kur nicht konstatieren; bei Herzerweiterung aber sind wir mitunter tat¬ 
sächlich in der Lage, einen nachweisbaren Erfolg, nämlich eine Verkleinerung des Herzens 
, unter dem Einfluß der Kurbäderbehandlung mit Hilfe von exakten Teleaufnahmen festzustellen. 
Zweitens hat die Bedeutung der großen Herzen, welche so häufig bei den aus dem Feld heim¬ 
gekehrten Soldaten nachweisbar sind, noch keine einheitliche klinische Auffassung gefunden. 
Die Vergrößerung der Herzen wird häufig, auch wenn sie einen höheren Grad erreicht, als 
physiologische Reaktion auf die Feldstrapazen betrachtet. Daß das nicht der Fall ist, zeigte 
eine Serie von 50 Teleaufnahmen der Herzen von Soldaten, welche 2 bis 3 Jahre ohne Herz¬ 
beschwerden Frontdienst geleistet haben und beschwerdefrei zurückgekommen sind. Diese 
Herzen sind normal groß, manche eher klein; nur eine leichte Stufe am Übergang des linken 
Vorhofs in die linke Ventrikelkontur zeigt eine von den Anstrengungen herrührende Hyper¬ 
trophie der Wand dieses Ventrikels an. Im Gegensatz dazu läßt sich an einer Serie von 
50 Fällen von Herzvergrößerungen zeigen, daß diese Herzen, und zwar ein Teil derselben 
in toto, ein Teil nur im linken Anteil, eine so starke Volumenzunahme aufweisen, daß 
dieselbe sicher nicht allein durch Wandverdickung, sondern daß sie nur durch Wand¬ 
verdickung und Höhlenerweiterung oder auch durch Höhlenerweiterung allein erklärt werden 
kann. In allen diesen Fällen waren im Feld Herzbeschweden aufgetreten, bei vielen erst 
nach längerer Zeit. Obwohl über die Zukunft dieser Herzen gegenwärtig noch nichts Ab¬ 
schließendes gesagt werden kann, viele derselben wahrscheinlich nicht krank sind, so sind 
doch die kleinen oder normal großen Herzen die leistungsfähigeren und es ist deshalb sicher 
als ärztlicher Erfolg anzusehen, wenn es gelingt, Verkleinerungen von Herzerweiterungen 
zu erzielen. Die Anzahl der Verkleinerungen, welche sich nach wochen- oder monate¬ 
langem Bestehen der Erweiterungen noch erzielen lassen, ist keine große. Sie ist immer¬ 
hin, wie darauf gerichtete exakte Untersuchungen an der Herzstation gezeigt haben, bei An¬ 
wendung von kohlensauren Bädern, wie bei Anwendung großer Digitalisdosen, größer als wenn 
die Herzen sich selbst überlassen bleiben, und der Grad der Verkleinerungen kann ein be¬ 
trächtlicher sein. Die Erfahrungen an der Herzstation haben Anhaltspunkte gegeben, welche 
es erleichtern, die Fälle von reinen Höhlenerweiterungen, welche bessere Chancen bei Ver¬ 
kleinerungsversuchen ergeben, von den Fällen dilatativer Hypertrophie zu sortieren. Die Er¬ 
weiterungen sind nämlich meist allseitige Vergrößerungen; sie gehen meist mit lauten weichen 
Geräuchen an der Herzbasis einher und finden sich öfter bei schwächlichen Leuten, welche nicht 
an Anstrengungen gewöhnt waren und es nicht lange im Feld ausgehalten haben. Es handelt 
sich meist um junge Leute. Die Anwendung der kohlensauren Bädertherapie ist bei solchen 
großen Herzen angezeigt und verspricht, je früher solche Fälle zur Behandlung kommen, desto 
bessere baineotherapeutische Erfolge. 


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Referate über Bücher und Aufsätze. 


Dr. Michael Guhr (Tätra Szäplak) stützt sich auf die klimatotherapeutische Erfahrung, 
daß die Inzuffizienz des thyreotoxischen Herzens durch die Höhenluft (1000 m Meereshöhe, 48 
bis 49° Breite) auch in den schwersten Fällen günstig beeinflußt wird. 

Dieser Umstand ist bei der Behandlung basedowerkrankter Krieger ins Auge zu fassen. 
Es gibt in Höhenkurorten auch spezielle Anstalten dafür. 

Professor Dr. K. F. Wenckebach (Schlußwort) erklärt die Ansichten Hoffmanns als 
zu optimistisch. Als ich an der Front 100 Leute untersuchte, fand ich bei vier Personen wirkliche 
Veränderungen am Herzen. Diese Ziffer ist scheinbar gering, doch mit Bezug auf eine Armee 
erreicht sie eine erschreckende Höhe. Leider haben wir auch in unserer Herzstation mit 
500 Betten alle Formen der schweren Herzkrankheiten in großer Zahl zu behandeln gehabt. 
Allzuleicht darf man aber die Sache nicht nehmen. 


Referate über Bücher und Aufsätze. 


A. Diätetisches (Ernährnngstherapie). 

G. Klemperer und L. Dünner (Berlin), 
Bemerkungen zur Diagnose nnd Therapie 
der infektiösen Darmerkrankungen. Ther. 
der Geg. 1917 H. 9. 

Die Schwierigkeit, die echte Ruhr von der 
akuten Enteritis zii unterscheiden, ist groß und 
dadurch bedingt, daß die erstere nicht immer 
mit Tenesmen und blutig-schleimigen Ent¬ 
leerungen einhergeht, während solche Stühle 
bei der Enteritis auch ohne Geschwürsbildung 
auftreten können. Im Krankenhaus Moabit 
wurden vom 1. Juli bis 15. August 1917 448 Fälle 
diarrhoischer Darmerkrankungen aufgenommen, 
wovon 122 als Ruhr, 826 als Enterocolitis dia¬ 
gnostiziert wurden. Von den 448 Fällen sind 
59 = 13,2 % gestorben, wobei das Überwiegen 
der Todesfälle im hohen Alter deutlich in Er¬ 
scheinung trat: zu 70—80 Jahren 47,4 %, zu 
40 —50 Jahren 14,6 %, zu 30—40 Jahren 1,7 %, 
zu 20—30 Jahren 0 %. Von den 35 obduzierten 
Fällen waren 11 Fehldiagnosen: 5mal war 
statt Enteritis Ruhr und 6 mal umgekehrt dia¬ 
gnostiziert worden. Dadurch wird bestätigt, 
daß die klinische Diagnose der Ruhr auf 
Sicherheit keinen Anspruch machen kann. Die 
bakteriologische Hilfe hat fast ganz ver¬ 
sagt. Unter 152 Fällen (darunter 78 klinischen 
Rühren) wurden Ruhrbazillen nur 5 mal ge¬ 
funden. Da die bakteriologische Untersuchung 
in keinem Falle gleich zu Anfang der Er¬ 
krankung angestellt werden konnte, ist anzu¬ 
nehmen, daß die spezifischen Ruhrbazillen im 


Dickdarm von uncharakteristischen Coliarten 
überwuchert wurden. Vielleicht würden in 
frisch untersuchten Fällen die Resultate besser 
sein. Immerhin ist es fraglich, ob sich der 
praktische Arzt bei der Ruhrmeldung aut die 
bakteriologische Stuhluntersuchung stützen 
kann. 

Die serologische Untersuchung (des 
Blutserums auf Agglutination) ergab bessere 
Resultate. Bei 15 Fällen von Enteritis war 
die Agglutination 12 mal negativ, 3 mal positiv. 
Bei 27 klinischen Rühren ergaben sich 16 posi¬ 
tive und 11 negative Resultate. Also 16 mal 
Bestätigung, während die 11 negativen Agglu¬ 
tinationsproben ebensowenig gegen Ruhr ver¬ 
wendet werden dürfen, wie der negative Widal 
gegen Typhus. Die serologische Untersuchung 
sichert also die Diagnose nur in 60 % der 
Fälle, die Diagnose Ruhr ist nur in schweren 
Fällen klinischmit einiger Sicherheit zu stellen. 

Über die Ursachen der Häufung der 
Darmerkrankungen war nichts mit Sicher¬ 
heit festzustellen, Verfasser sind nicht der 
Ansicht, daß es sich um Einschleppung durch 
zurückkehrende Feldsoldaten handelt, sondern 
um eine herabgesetzte Widerstandsfähigkeit 
des Darmkanals bei einem großen Teil der Be¬ 
völkerung; ferner dürfte auch die abnorme 
Hitze des Juli in Betracht kommen. Die Be¬ 
schaffenheit des Brotes ist nicht anzu¬ 
schuldigen, nur einige Fälle scheinen durch 
verdorbenes Brot verursacht zu sein. Auch 
das Trinkwasser ist nicht im Spiel, sein Ab¬ 
kochen deshalb überflüssig; es genügt persön- 

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449 


liehe Reinlichkeit. Die Fliegenplage scheint 
an der Übertragung Anteil zu haben. 

Die Rektoskopie hat sich nicht bewährt, 
auch bei sicheren Rühren wurden keine Ge¬ 
schwüre festgestellt. Die Methode ist außer¬ 
dem für frische Fälle zu angreifend. Bei 
Enterocolitis findet sich eine geschwollene 
Mukosa, mit Schleim bedeckt, gelegentlich 
oberflächliche Geschwüre, die gewöhnlich 
schnell heilen, aber auch noch nach Wochen 
bei vollkommenem Wohlbefinden bestehen 
können. 

Behandlung: Stets Abführmittel, am 
besten Rizinus, aber auch Calomel ist sicher 
unschädlich zu 2 mal 0,3 g. Bei starken Te- 
nesmen 10—20 Tropfen einer 1 0 / 00 \gen Atropin¬ 
lösung 2 X tgl. Bei starken Durchfällen Tct- 
Opii. Sonst die übliche Diät und warme Leib¬ 
umschläge. Bolus alba eßlöffelweise, Erfolg 
schwer zu beurteilen, günstige Beeinflussung 
ebenso wie durch Tierkoble wahrscheinlich. 
Daneben können noch Tanninpräparate ge¬ 
geben werden, auch als Dannspülung mit 
500 ccm Vs %>§> er Lösung, bei reichlicher 
Blutung mit Adrenalinzusatz. In den ersten 
Tagen nur Tee mit Kognak und Schleimsuppen. 
Später wird Milch meist gut vertragen, even¬ 
tuell mit Kalkwasser gemischt Allmähliche 
vorsichtige Zulage von Eiern, Weißbrot mit 
Butter, zartes Fleisch. Die größte Bedeutung 
kommt der Krankenpflege zu. Auch die 
Beaufsichtigung der Rekonvaleszenz ist von 
großer Wichtigkeit, da nach anscheinend 
leichten Ruhrfällen eine erhebliche allgemeine 
Schwäche, besonders auch des Herzens, sowie 
Neigung zu örtlichen Rückfällen im Verdauungs¬ 
apparat Zurückbleiben kann. 

W. Alexander (Berlin). 

v. Hansemann (Berlin), Über den soge¬ 
nannten langen russischen Darm. Med. 
Slinik 1917. Nr. 36. 

Schon früher hatten verschiedene Autoren 
gefunden, daß der Darm der Russen und 
Esthen um einige Zoll länger ist als der 
deutsche. Besonders das S-Romanum sei un¬ 
gewöhnlich lang. Während früher dieser Be¬ 
fund als Rasseneigentümlichkeit gedeutet 
wurde, hat Taren et zky ihn auf die Ernäh¬ 
rung zurückgeführL Wenn auch Messungen 
über die Darmlängen großen Fehlerquellen 
unterworfen sind, so kann auch nach Ver¬ 
fassers Erfahrung über die Tatsache kein 
Zweifel bestehen: sie fällt unmittelbar bei der 
Sektion auf und zwar besonders durch die 


Länge, Weite und Beweglichkeit des S-Roma¬ 
num. Verfasser fand nun, daß auch Letten, 
Juden und Deutsch-Kurländer den langen Darm 
hatten, ja, auch deutsche Soldaten, die längere 
Zeit im Osten waren. Der lange Darm ist also 
sicher eine funktionelle Anpassung, erworben 
durch die Art der Nahrung, die aus großen 
Mengen nährstoffarmer, schwerverdaulicher 
Stoffe besteht. 

Das Mesenterium des S-Romanum fand 
Verfasser fast stets sehnig verdickt, retrahiert, 
so daß es zu einer Annäherung der beiden 
Schenkel dieses Darmabschnittes kommt, wo¬ 
durch die Torsionsgefahr erhöht ist Aller¬ 
dings erträgt das S-Romanum erstaunliche 
Torsionen ohne Strangulation. — Ein an die 
eben geschilderte Nahrung gewöhnter langer 
Darm nutzt aber nun eine ausreichende aber 
quantitativ geringere Nahrung nicht aus, so 
daß Abmagerung und Kachexie eintritt. 
Beim Hinzutreten von Anstrengung, leichter 
Bronchopneumonie oder dergleichen kann der 
Tod eintreten: die Sektion ergibt dann als 
typischen Befund Kachexie mit braunem 
Herzen und kleiner brauner Leber. Dagegen, 
daß solche Leute verhungert sind, spricht die 
reichliche Anfüllung des Darmkanals mit In- 
gesta. In dem langen und weiten Darm halten 
sich die Kotmassen übermäßig lange auf und 
es ist möglich, daß die Kachexie auch durch 
Resorption abnormer Gärungsstoffe bedingt ist. 
Trotz der durch die Länge des Darmes be¬ 
dingten Länge des Mesenteriums findet man 
Enteroptose sehr selten, die vielleicht durch 
die im Kriege straff entwickelte Bauchmusku¬ 
latur verhindert wird, die die Entstehung eines 
Hängebauches ausschließt. Die Verlängerung 
des Mesenteriums erhöht die Gefahr der Torsion. 
Während Verfasser in 30 jähriger anatomischer 
Tätigkeit nur zweimal eine totale Nekrose des 
Dünndarms aus diesem Anlaß gesehen hat, hat 
er sie in einem Jahr unter 500 Sektionen drei¬ 
mal beobachtet Durch die abnorme Beweg¬ 
lichkeit des Colon kommt es zu Umlagerungen 
des Coecum in alle möglichen Bauchgegenden. 

Die geschilderten Störungen, zu denen der 
lange Darm Veranlassung geben kann, sollten 
dazu ermahnen, schon im Kindesalter den 
Darm nicht übermäßig anzufüllen. Dann ist 
die ursprünglich im Säuglingsalter erworbene 
Verlängerung des Darms ausgleichbar. Es ist 
auch mit Sicherheit anzunehmen, daß die durch 
den langen Darm eventuell entstehende Kach¬ 
exie zur Ausbreitung einer bestehenden Tuber¬ 
kulose führen kann: daß die Tuberkulose auch 


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450 


Beferate über Bücher und Aufsätze. 


durch die Kachexie entstehen kann, dafür 
liegt noch kein beweiskräftiger Fall vor. 

W. Alexander (Berlin), 


8« Fr&nkel, B. Bienenfeld u. E. Führer 
(Wien), Kritische Studie zur experi¬ 
mentellen Therapie maligner Tumoren. 

VIII. Mitteilung. W. kl. W. 1917. Nr. 86. 

Nach dem Ausfall von Versuchen bei ma¬ 
lignen Impftumoren besteht bezüglich des. 
Geschwulstwachstums kein Unterschied, ob man 
die Batten und Mäuse mit Eiweiß und Fett 
oder mit Kohlehydraten oder normal füttert, 
auch wenn man mit der spezifischen Diät schon 
eine Woche vor der Impfung einsetzt. Dem¬ 
nach muß man nach Ausschaltung des Er¬ 
nährungsfaktors in anderen Determinanten den 
individuellen Wachstumsreiz oder die indi¬ 
viduelle Wachstumshemmung für die Tumoren 
suchen. J. Buhe mann (Berlin-Wilmersdorf). 

F. Böen heim (Rostock), Über Anomalien 
der Magensaftsekretion als Sp&tfolge von 
Buhr und Unterleibstyphus. Med. Klinik 
1917. Nr. 48. 

Nach Buhr und Typhus kommt es in einem 
nicht kleinen Prozentsatz der Krankheitsfälle 
zu einer Magensekretionsanomalie, die in zwei 
Dritteln der Fälle zu einem allmählichen Ver¬ 
siegen der Sekretion führt. Diese Anomalie kann 
sich unmittelbar der eigentlichen primären Er¬ 
krankung anschließen oder auch nach einer 
kürzeren oder längeren Zeit vollständigen Wohl¬ 
befindens einstellen, oft ohne sichtbare Ursache* 
Die subjektiven Beschwerden sind meist gering« 
in einzelnen Fällen fehlen aber auch nicht 
Durchfälle, Erbrechen usw. Die Anomalie der 
Magensaftsekretion wird hämatogen oder neu¬ 
rogen ausgelöst, während eine direkte lokale 
Beeinflussung unwahrscheinlich ist 

W. Alexander (Berlin). 


B. Stähelin, Die Behandlung des Diabetes 
mellitus. Korrespondenzblatt f. Schweizer 
Ärzte 1917. Nr. 44. 

Das Wichtigste ist und bleibt die sorg¬ 
fältige Ausarbeitung der Diätvorschriften und 
ihre rücksichtslose Durchführung; ganz im 
Hintergründe steht die medikamentöse Be¬ 
handlung. Die Toleranzbestimmung bildet den 
Beginn jeder Diabetesbehandlung und die 
völlige Zuckerfreiheit im Harn ist das nächste 
Ziel der Behandlung, das, wo es angeht, anzu¬ 
streben ist. Für alle Formen, die in solche 
mit leichter, mittelschwerer und schwerer 


Glycosurie zu scheiden sind, ist auf Grund der 
Toleranzfähigkeit gegenüber den Kohlehy¬ 
draten bzw. bei den schweren Formen auch 
auf Grund der Bildung von Harnzucker aus 
dem Eiweiß die individuelle Diät zu bestimmen. 
Der Wert der Hunger-, Gemüse- und Hafertage, 
ihre Anwendung für die mittelschweren und 
schweren Formen, die Vermeidung von Hafer¬ 
kuren bei den leichten Formen, die Bedeutung 
des Alkohols, die Alkalitherapie und die vor¬ 
sichtige Kohlehydratzufuhr bei Azidosis er¬ 
fahren präzise Beleuchtung. 

J. Buhemann (Berlin*Wilmersdorf). 


A. Ohly (Kassel), Die Ruhr mit besonderer 

Berücksichtigung Ihrer Therapie. Therap. 

Monatsh. 1917. September. 

Ohly bespricht eingehend den Charakter 
der Buhr, ihr Entstehen durch die Enta¬ 
moeba coli, sowie die „Bazillenruhr“, die 
„ruhrähnlichen 1 * Erkrankungen. Viele Autoren 
schieben in den Vordergrund disponierende 
Faktoren wie einseitige Nahrung, verdorbene 
Nahrungsmittel, Übermüdung, gleichzeitige Er¬ 
kältungen. Die Buhrbazillen finden sich fast 
ausschließlich in den Blut- und Schleimteilchen, 
nicht im Stuhle selbst. Ohly setzt dann aus¬ 
einander, weshalb der Bazillennachweis so oft 
nicht gelingt Die serologischen Methoden 
haben wenig fördernd gewirkt. Serologisch 
möglich ist nur ein Unterschied zwischen Buhr 
und Pararuhr, nicht aber zwischen den einzel¬ 
nen Buhrstämmen. 

Dann geht Ohly zur Symptomatologie der 
Buhr über. Die Buhr tritt entweder als 
schwere langdauernde Erkrankung oder als 
kurzdauernder fieberhafter, teils schwerer teils 
leichter Darmkatarrh auf. Komplikationen 
sieht man bei schweren und mittelschweren 
Fällen und zwar Bheumatismus, Polyneuritis,. 
Nephritis, Myocarditis, Blasenstörungen, Pleu¬ 
ritis nnd Abszesse des periproktitischen Ge¬ 
webes. Sehr ernst ist die Myocarditis. Alle 
Fälle können in einen chronischen Zustand 
übergehen. Von Nachkrankheiten nennt Ohly 
noch Neuralgien, Neuritiden, Lähmungen, chro¬ 
nische Bindehautentzündungen mit Beteiligung 
der Iris, Blasenstörungen in Form von Urin¬ 
drang, schwere Anämie. 

Zum Schluß wird die Behandlungbesprochen. 
Die ersten zwei bis drei Tage ist am besten Buhe 
bzw. ein heißes Bad und reichlich lokäle Wärme, 
evtl, herzanregende Mittel, Opium und Bella¬ 
donna gegen den Stuhldrang mit oder ohne 
Morphium. Die Abführmittelfrage wird ver- 


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Referate über Bücher und Aufsätze. 


451 


schieden besprochen. Adstringierende und ab¬ 
sorbierende Mittel kommen erst in Frage, 
wenn die stürmischen Erscheinungen nachge¬ 
lassen haben und die Herztätigkeit sich ge¬ 
bessert hat. Jedem therapeutischen Einlauf 
ist ein Reinigungsklistier voranzuschicken. Von 
medikamentösen Einläufen sind zu empfehlen: 
physiologische Kochsalzlösung, essigsaure Ton¬ 
erdelösung 5—10,0 :1000,0, Argentum nitricum 
1 :10000, Alsol 0,2— 0,5 :1000, Milchsäure 
1:20,000, Gelatineeinläufe, Bolus alba 2 bis 
10 Eßlöffel auf ein Liter laues Wasser usw. 
Bei chronischen Fällen empfiehlt Oh ly Ichthyol 
1 % und Collargol 1 % Dermatolemulsion. 
Dazu kommen oral angewandte Astringentien, 
besonders Bolus alba mit Tierkohle. Außer¬ 
ordentlich wichtig ist die Ernährung, zuerst 
vor allem vollkommene Nahrungsenthaltung. 
Ruhrkranke vertragen noch monatelang fette 
und zellulosehaltige Speisen schwer. 

Eingehend wird die Serumbehandlung be¬ 
sprochen. Bedingung ist eine voraufgegangene 
Infektion mit dem Kruse-Shiga-Bazillus. In 
Frage kommen polyvalente Sera, intramusku¬ 
lär eingespritzt in Mengen von 20 bis 10P ccm. 
Intravenös darf nur injiziert werden, wenn der 
Kranke nie vorher eine Seruminjektion (Diph¬ 
therie, Tetanus), erhalten hat. 

Jeder Arzt hat die Pflicht, einen Ruhr¬ 
kranken immer als infektiösen Kranken anzu¬ 
sehen, bei dem entsprechende Vorsichtsma߬ 
regeln angewandt werden müssen. 

E. Tobias (Berlin). 


v. Pirquet (Wien), Quantitative Ernährungs¬ 
therapie. Therap. Menatsh. 1917. Oktober. 

v. Pirquet beklagt, daß fast immer nur 
auf die qualitative Auswahl bei der Ernährung 
Wert gelegt wird; den Kernpunkt der Er¬ 
nährungstherapie, die quantitative Vorschreibung 
der Nährwerte, beherrscht fast kein Arzt der 
jüngeren Generation. Störungen des Appetits 
sind Krankheitserscheinungen, die bisher viel 
zu wenig gewürdigt worden sind. Nach 
v. Pirquet liegt die Gefahr der tuberkulösen 
Infektion hauptsächlich in der damit ver¬ 
bundenen krankhaften Verminderung des Ap¬ 
petits. Fieber bei chronisch kranken Patienten 
darf keine Indikation zur Einschränkung der 
Nahrungsmenge sein. Erbrechen bei guten 
Stühlen ist kein Magenkatarfh, sondern nervöses 
Erbrechen. 

Wir brauchen vor allem eine richtige 
Grundlage für die quantitative Ernährung. Die 
Vorschreibung nach dem Körpergewicht ist 


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grundsätzlich unrichtig. Als mathematisches 
Äquivalent der resorbierenden Darmfläche 
können wir das Quadrat der Sitzhöhe verwen¬ 
den und zur Nahrungsaufnahme in Beziehung 
bringen, v. Pirquet nimmt dabei die mensch¬ 
liche Milch als Nabrungseinheit. Die Er¬ 
nährungsnormen beruhen auf den Begriffen des 
Maximums, Minimums und Optimums. Wichtig 
ist zweckmäßiger Eiweißgehalt der Nahrung, 
die nicht weniger als 10 und nicht mehr als 
20 Prozent enthalten soll, wichtig ist ferner 
die Festlegung von Nahrungszeiten. Eine Vor¬ 
bedingung muß eine vollkommene korrekte 
und verständnisvolle wissenschaftliche Küchen- 
gebahrung sein. Zum Schluß macht v. P i r q u e t 
auf die Ersparungen aufmerksam, die sein Vor¬ 
gehen mit sich bringt E. Tobias (Berlin). 


B. Elektro-, Lieht- and Röntgen¬ 
therapie. 

A. Saenger (Hamburg), Über die Röntgen¬ 
behandlung von Gehirn- und Rückenmarka- 
geschwülsten. Neurolog. Zentralbl. 1917. 

Nr. 19. 

In einem Fall von Paraplegie durch Rücken- 
marksgeschwulst, die sich als inoperabel bei 
der Operation erwies und mikroskopisch als 
Neuroepitelioma gliomatodes festgestellt wurde, 
bewirkte die über 2 1 /« Jahre durchgeführte 
Röntgenbestrahlung einen Rückgang aller Er¬ 
scheinungen bis zur Arbeitsfähigkeit. — Ein 
anderer Rückenmarkstumor, der Operation ver¬ 
weigerte, wurde durch lange Röntgenbe¬ 
handlung objektiv gar nicht beeinflußt, sub¬ 
jektiv leicht gebessert. In diesem Fall fiel es, 
ebenso wie in einem dritten ähnlichen auf, daß 
die Krankheit keinerlei Fortschritt machte. — 
Ein Kleinhirnbrückenwinkeltumor wurde inner¬ 
halb von 6 Monaten mit 53 Einzelbestrahlungen 
behandelt ohne feststellbare Veränderung. Die 
spätere Operation und Sektion zeigte einen 
Tumor an der rechten Ponsseite, grauweiß, von 
auffallend weicher Konsistenz. — Bei 2 Akro¬ 
megaliefällen mußte wegen heftiger Kopf¬ 
schmerzen nach der Bestrahlung diese Be¬ 
handlung abgebrochen werden. In einem Falle 
von Kleinhimtumor treten nach der Bestrahlung 
kurze Erregungszustände auf. Aus seinen Be¬ 
obachtungen zieht Verfasser folgende Schlüsse: 

1. Daß die Tiefenbestrahlung bei Tumoren über¬ 
haupt wirksam ist. 2. Da die Erfolge der Hirn¬ 
chirurgie hinter den früher gehegten Erwar. 
tungen zurückgeblieben sind, da ferner nicht 
8eiten ein operativer Eingriff bei Hirn- und 

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452 


Referate über Bücher nnd Aufsätze. 


Rückenm&rksgeschwülsten abgelehnt wird, so 
ist es gerechtfertigt, die Tiefenbestrahlung an¬ 
zuwenden. W. Alexander (Berlin.) 

H. Wlntz (Erlangen), Die wirksame Böntgen- 
energle ln der Tiefentherapie nnd ihre 
Messung. M. m. W. 1917. Nr. 28. 

Zusammenfassung: 1. Die „Halbwertschicht“ 
ist ein exakter physikalischer Begriff, der nur 
in Messungen reiner Primärstrahlung ange¬ 
wendet werden darf. 2. Für praktische Messun¬ 
gen kommen nur solche in Betracht, die unter 
Berücksichtigung der Streustrahlung ausgeführt 
werden. Die Werte können mittels des „Dosen¬ 
quotienten“ oder der „prozentualen Tiefendosis“ 
angegeben werden. 3. Eine allgemeine Einigung 
über die Ausführungstechnik ist dringend nötig. 

L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). 

Ferdinand Scheminzky (Wien), Strah¬ 
lungserscheinungen. Wien. klin. Rundschau 
1917. Nr. 27/28. 

Verfasser bespricht in diesem Artikel die 
Erscheinungen der Kathoden-, Röntgen- und 
Radiumstrahlen sowie schließlich die Ema¬ 
nation, die er im v. Reich enbachschen Sinne 
auffaßt und im Gegensatz zu der Ansicht an¬ 
derer Autoren, die sie als materiell ansehen, 
für eine Ätherschwingung, für eine neue Form 
der Energie hält. Die Emanation hat mit der 
Radioaktivität nichts zu tun, letztere stellt 
durchaus nicht eine allgemeine Eigenschaft der 
Materie dar. L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). 

H. E. Schmidt (Berlin), Der gegenwärtige 
Stand nnd die Aussichten der Röntgen¬ 
therapie ln der inneren Medizin. B. kl. W* 
1917. Nr. 27. 

Sammelreferat, das die angewandte Röntgen, 
technik in der inneren Medizin sowie ihre 
Verwendung bei Bluterkrankungen, Morbus 
Basedowii, bei Asthma bronchiale, Lungen¬ 
tuberkulose, bei chronischen Arthritiden, Ischias, 
Neuralgien, Syringomyelie, Ulcus ventriculi,Thy- 
mushypertrophie, bei tuberkulösen Bronchial¬ 
drüsen, Arteriosklerose, bei Gefäß- und Herz¬ 
muskelerkrankungen, Morbus Addisonii, Akro¬ 
megalie berücksichtigt. 

L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). 

Max Steiger (Bern), Physikalische Notizen 
über Entstehung und Natur der Röntgen¬ 
strahlen. Korrespondenzblatt f. Schweizer 
Ärzte 1917. Nr. 27. 

Vortrag, gehalten in der Sitzung des med.- 
pharm, Bezirksvereins der Stadt Bern am 11. Jan. 
1917, der die neuesten Kenntnisse auf dem Ge¬ 


biete der Physik der Röntgenstrahlen in sach¬ 
licher Weise zur Darstellung bringt. 

L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). 

W. Bauermeister, (Braunschweig), Über 
die röntgenologische Darstelluug der 
Hirschsprungschen Krankheit. Zentralbl. 
f. Röntgenstr. 1917. H. 11/12. 

Da die Hirschsprungsche Krankheit mit 
ihrer Atonie der röntgenologischen Abbildung 
mittels Kontrasteinlauf oft unüberwindliche 
Schwierigkeiten bietet, so hat Verfasser einen 
anderen Modus gewählt und das Kontrastmittel 
per os verabreicht und zwar gibt er am ersten 
Tage 200 g Citobaryum-Kontrastmittel und an 
den beiden folgenden noch je 100 g Cito- 
baryum. Diese Methode erscheint sehr brauch¬ 
bar und liefert lückenlose Darmbilder. Daß 
die Beobachtung der sukzessiven Entwicklung 
der Einzelbilder und Bildfolgen für die Auf¬ 
fassung des ganzen Krankheitsbildes sehr in¬ 
struktiv, für die Differentialdiagnose oft aus¬ 
schlaggebend wirken kann, wird an der Hand 
eines in extenso mitgeteilten Falles dargetan. 

L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). 

G. Miesch er, Über Röntgeuscbutzpasten. 

Korrespondenzblatt f. Schweizer Ärzte 1917. 
Nr. 39. 

Um in der Röntgentherapie die gesunden 
Gewebe gegen die Einwirkung der Strahlen 
zu schützen, bedient sich die Röntgentechnik 
der Lokalisatoren (Tubus) und des Bleis und 
machte bisher nur in seltenen Fällen von 
Röntgenschutzpasten Gebrauch. Ein solches 
Schutzmittel muß folgende Bedingungen er¬ 
füllen: 1. Es muß ein hohes Absorptions¬ 
vermögen besitzen, 2. es muß sich leicht und 
gleichmäßig auf die Haut auftragen lassen und 
ebenso leicht wieder zu entfernen sein; 3. es 
darf keine toxische Wirkung haben. Auf Grund 
seiner experimentellen Untersuchungen, die so¬ 
wohl die Frage nach der Natur des geeignetsten 
Schutzstoffes als nach der erwünschten Schicht¬ 
dicke beantworten sollten, kommt Verfasser 
zu der Überzeugung, daß sowohl Bismuth. sub- 
nitr, als auch Lithargyrum sehr brauchbar sind 
und er empfiehlt folgende Rezepte: 

1. Lithargyr. anglic. Pulv. 85 
01. Paraffini .... 2 


Vaselin, flav.13 

2. Bismuth. subnitr. . . 70 
Vaselin, flav.30 


Mischungen von Blei- und Wismutpräparaten 
bieten keine besonderen Vorteile dar. 

L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). 

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Referate Aber Bacher und Aufsätze. 


453 


G. Serum- und Organotherapie. 

Seligmann (Berlin), Fortschritte in der 
Berliner Diphtheriebek&mpfnngr. B. kl. W. 

1917. Nr. 23. 

Die ganze Diphteriebekämpfung ist in 
Berlin jetzt anf eine breitere Basis gestellt; 
sie beschränkt sich nicht mehr auf die Schul¬ 
kinder, sondern umgreift die ganze Berliner 
Bevölkerung. Ermöglicht wurde dieses Resul¬ 
tat durch die Einstellung von besonderen 
Diphtherie-Fürsorgeschwestern. Auf Grund der 
Schulmeldungen sendet das Medizinalamt diese 
Schwestern in die Familien, in denen Schul¬ 
kinder oder deren Angehörige an Diphtherie 
oder Diphtherieverdacht erkrankt sind. Stellt 
die Schwester fest, daß ein Arzt nicht zuge¬ 
zogen ist, so hat sie dies zu betreiben oder 
die Überweisung ins Krankenhaus zu veran¬ 
lassen. Ferner hat sie die Familie über hygie¬ 
nische Maßnahmen aufzuklären und evtl, die 
laufende Desinfektion zu überwachen. Bei 
Diphtherieverdacht hat sie UntersuchungBma- 
terial zur bakteriologischen Diagnose zu ent¬ 
nehmen und auch die Materialentnahme zum 
Zweck der Ermittelung von Bazillenträgern zu 
veranlassen. 

Das Resultat dieser Organisation ist ein 
sehr erfreuliches. Schon im ersten Vierteljahr 
bat ein Sinken der Mortalität stattgefunden, 
das seitdem dauernd angehalten hat 

Freyhan (Berlin). 


Boehncke, Ruhrschutzimpfung im Kriege« 

Med. Klinik 1917. Nr. 41. 

Nachdem die umfangreichen hygienischen 
Vorbeugungs- und Abwehrmaßnahmen sich in 
der Verhütung und Bekämpfung der Ruhr im* 
Felde als wenig befriedigend erwiesen haben, 
liegt es nahe, auch bei der Ruhr, wie bei 
Typhus und Cholera, die spezifische Prophylaxe 
mit heranzuziehen. Die bisher in Deutschland 
in dieser Richtung angestellten Versuche sind 
nicht sehr ergebnisreich. Das ist um so be¬ 
dauerlicher, als die Ruhr zurzeit hinsichtlich 
der Morbidität unter den Kriegsseuchen weit¬ 
aus die größte Rolle Bpielt; daß eine Mortalität 
von 2 bis 10 % für die akute, von 40 bis 50 % 
für die chronische Ruhr nicht bedeutungslos 
genannt werden kann. Da sich nun in ver¬ 
schiedenen Gegenden verschiedene Ruhrerreger 
und andererseits in manchen Gegenden alle 
durcheinandergemiscbt finden, kann nur ein 
polyvalenter Impfstoff als erfolgversprechend 
in Frage kommen. Das Ergebnis ausgedehnter 


Tierversuche, deren Resultate sieb z. T. un¬ 
mittelbar auf den Menschen übertragen ließen, 
ist ein Ruhrimpfstoff, der zusammengesetzt 
ist aus Dysenteriebazillen (d. h. echten und 
Pseudoruhrbazillen), Dysenterietoxin und Dy¬ 
senterieantitoxin (Dys. bac. TA). Er wird im 
Serumwerk Ruete-Enoch in Hamburg herge¬ 
stellt Es sind bisher etwa 50 000 Personen 
in * etwa 130 000 Einzelimpfungen gespritzt 
worden. Der Impfstoff hat sich als unschädlich 
erwiesen, die Allgemein- und Lokalreaktionen 
hielten sich zumeist in sehr mäßigen Grenzen. 
Am ersten Tage werden 0,5 ccm, am 5. Tag 
1 ccm und am 10. Tag 1,5 bis 2,0 ccm injiziert. 
Falls besondere Beschleunigung der Impfung 
geboten ist, kann man auch mit zwei Impfungen 
zu 1 und 2 ccm im Verlauf von sechs Tagen 
auskommen. Die Allgemeinreaktion war dann 
oft etwas stärker, aber im ganzen mild. In 
der Regel ist die dreizeitige Schutzimpfung 
auszuführen. Über die Wirksamkeit kann bis 
jetzt noch kein sicheres Urteil abgegeben 
werden. Doch sprechen die zurzeit vorliegenden 
Berichte sich für Beibehaltung und Fortführung 
der vom Chef des Feldsanitätswesens ge¬ 
nehmigten Schutzimpfung in der Umgebung 
größerer Ruhrherde in der Truppe und in der 
Bevölkerüng aus, da der bisherige Eindruck 
ziemlich ausnahmlos der war, daß die 
Ruhrausbreitung nach genügend vor¬ 
genommener Umgebungs Schutzimpfung 
mit dem Disbactaimpfstoff in kurzer 
Zeit tatsächlich zum Stehen kommt 

Das Ergebnis der serologischen Unter¬ 
suchung des Blutserums (Widalreaktion) ist in 
der größten Zahl der Fälle ein positives ge¬ 
gen Dysenterie- und Pseudodysenteriebazillen 
gewesen, was jedenfalls auf einen spezifischen 
Reaktionseffekt hinweist 

W. Alexander (Berlin). 

J« Kabelik (Mob. Epidemiespital I), Über 
RekonvaleszenteiiblultransfUsioii bei Ty¬ 
phus exantbematicus« W. kl. W. 1918. Nr. 2. 

Zur Blutentnahme wurden sonst ganz gesunde 
Rekonvaleszenten bald nach der Entfieberung 
herangezogen. Mit einer 20 cm 3 enthaltenden 
Spritze, die 2 cm 3 4%iger Natrium-citricum- 
Lösung in physiologischer Na Cl-Lösung enthält, 
wird das Blut direkt der Vene des Spenders 
entnommen und nach mehrmaligem Umdrehen 
der Spritze dem Kranken intravenös injiziert. An 
6 Temperaturkurven von so behandelten Fleck¬ 
typhuskranken wird der Erfolg gezeigt, von dem 
es nach dem Verfasser unsicher ist, wie weit 


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454 


Referate über Bücher und Aufsätze. 


er durch die spezifischen Eigenschaften des Re- 
konvaleszentenserums hervorgerufen ist, oder 
inwiefern man mit normalem Blut ein ähnliches 
Resultat erzielen kann. Die Methode verdient 
jedenfalls Nachprüfung. 

Roemheld (Hornegg a. N.). 

Chrostek (Wien), Über das Kropf herz« 
W. kl. W. 1917. Nr. 21. 

Schilddrüsenstoffe bewirken beim Menschen 
unter bestimmten Bedingungen Erscheinungen 
von seiten des Zirkulationsapparates. Ihre 
Wirksamkeit ist geknüpft an eine gewisse 
Dauer der Verabreichung, vor allem aber an 
eine bestimmte Beschaffenheit der jeweiligen 
Zirkulationsorgane. Ihre Wirkung äußert sich 
in erster Linie auf die Schlagfolge durch Be¬ 
schleunigung der Herzaktion; nicht erwiesen 
ist ihr Einfluss auf das Zustandekommen von 
Hypertrophie des Herzens, nicht sichergestellt 
ein Einfluß auf die Vasomotoren. Die Existenz 
eines rein mechanischen Kropfherzens ist nicht 
erwiesen, wenn auch die Möglichkeit einer Be¬ 
einflussung des Herzens durch die Tracheal¬ 
stenose zugegeben werden muß. Nicht alle 
Symptome von seiten des Zirkulationsapparates, 
die wir bei Kropfigen finden, sind auf die 
Schilddrüse zu beziehen. Im Gegenteil ist das 
Kropfherz eine seltene Erkrankung. Die ge¬ 
genteiligen Angaben beruhen zum Teil darauf, 
daß vielfach Zustände verschiedener Art ein¬ 
gerechnet werden, nur weil sie sich zufällig bei 
Kropfigen finden, und weil die Manifestationen 
der degenerativen Anlage zu Verwechslungen 
Anlaß gaben. Freyhän (Berlin). 

W. Fließ (Berlin), Ein neuer Symptomen- 
komplex der Hypboptaysis cerebrl. Med. 
Klinik 1917. Nr 36. 

Als Hyphophysisinsuffizienz faßt 
Verfasser eine Anzahl von Symptomen zu¬ 
sammen, die sich vorwiegend beim weiblichen 
Geschlecht zeigen, manchmal im Anschluß an 
die Schwangerschaft, aber auch bei Störungen 
in den Eierstöcken auftreten. Die Symptome 
bestehen in Schmerzzuständen (Ischias, Hinter¬ 
hauptschmerz), anfallsweise sich steigernder 
Mattigkeit, Konzentrationsunfähigkeit und an¬ 
deren psychischen Veränderungen. Es bestehen 
auch Beziehungen zur Polydipsie, Polyurie, 
Enuresis und Schilddrüsensymptomen. Die 
Erkrankung zu kennen, hat nicht nur theore¬ 
tisches Interesse, sondern auch ein erhebliches 
praktisches, weil bisher jede Hilfe versagte; 
Verfasser ist es gelungen, durch Verfütterung 
von Hypophysistabletten (evtl, in Kombination 


mit Schilddrüsentabletten) hervorragende Er¬ 
folge zu erzielen. Die Hypophysistabletten 
ließ Verfasser aus dem Vorderlappen der 
Hypophyse herstellen wegen des bekannten 
Einflusses dieser Substanz auf das normale 
und pathologische Körperwachstum. 

W. Alexander (Berlin). 


K. Glaeßner (Grinzing), Wirkung von 
Hypophysenextrakten anf nephritische 
Prozesse. W. kl. W. 1917. Nr. 38. 

Von 6 schweren Fällen von akuter Glo¬ 
merulonephritis, die mit Verminderung der 
Harnmenge, Blutbeimengung, Blutdruckstei¬ 
gerung, Ödemen einhergingen und die teils 
intravenös, teils intramuskulär mit Pituglandol 
behandelt wurden, da sie gegen alle anderen 
Mittel refraktär waren, zeigten 4 deutlichen 
Effekt, einer blieb unbeeinflußt, einer wurde 
schlecht beeinflußt Die günstige Wirktmg 
äußerte sich in vermehrter Diurese, Absinken 
des Eiweißgehaltes, Verschwinden des Blutes; 
das spezifische Gewicht des Urins änderte 
sich nicht wesentlich. 

Roemheld (Hornegg a. N.) 


D. Verschiedenes. 

P. W. Siegel (Freiburg i. B«), Gewollte und 
ungewollte Schwankungen der weiblichen 
Fruchtbarkeit usw. Mit 33 Kurven. Julius 
Springer 1917. 197 S. 

Siegel zeigt an der Hand eines fort¬ 
laufenden zehnjährigen Beobachtungsmaterials 
der Frauenklinik Freiburg i. Breisgau, daß die 
Annahme von Grub er zu Recht besteht, daß 
auch die ungewollte Fruchtbarkeitsverminderung 
'bei der Abnahme der Geburtsziffer eine nicht 
zu unterschätzende Rolle spielt und daß dies«* 
Fruchtbarkeitsverminderung weit weniger bei 
der Landbevölkerung wie bei der Bevölkerung 
großer Städte hervortritt. Eine Erhöhung der 
Geburtenziffer hätte dann in gewissem Sinne 
eine geeignete Dezentralisation zur Vorbe¬ 
dingung. 

Siegel hat dann die durch die Kriegs¬ 
verhältnisse . gegebenen Beobachtungen über 
zeitlich engbegrenzte Kohabitationstermine be¬ 
nutzt, um die für die Abnahme der Geburten¬ 
ziffer nicht unwichtige Frage zu untersuchen, 
ob, wie beim Tiere in der Brunstzeit, bei den 
Frauen eine ähnliche temporäre Steigerung 
ihrer Empfängnisfähigkeit besteht Er zeigt, 
daß in der Tat, wenn auch nicht immer sehr 
deutlich, so doch ausgesprochen eine gestei- 


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455 


gerte Empfängnisfähigkeit während und kurz 
nach und eine verringerte Empfängnisfähigkeit 
wischen den Menstruationen besteht, die den 
Verhältnissen bei den Tieren vergleichbar ist. 

Die hohen Verluste der Männer im Welt¬ 
krieg veranlagten auch die Frage, ob nicht 
doch eine gewisse Häufung von Knabenge¬ 
burten möglich wäre. Die Prüfung dieser 
Frage ist ungewöhnlich schwierig. Vorbe¬ 
dingung für das Beobachtungsmaterial sind: 

1. möglichst durch amtliche Listen fest¬ 
gestellte Dauer des Urlaubs mit Anfangs- und 
Abgangsdatum; 

2. ein möglichst kurz befristeter Urlaub, 
am besten nicht über 5 Tage Dauer, und 

3. genaueste Daten über Beginn und Ende 
der letzten Menstruation. Von dem Beob¬ 
achtungsmaterial Siegels (4000 Fälle) er¬ 
füllten nur 180 alle Bedingungen. Bei diesen 
180 Fällen war die Abhängigkeit gesteigerter 
Knaben- resp. Mädchengeburten vom engbe¬ 
grenzten Kohabitationstermin so auffallend, daß 
gewisse Schlußfolgerungen gezogen werden 
konnten. Über die Vorgänge der Erzielung von 
Knaben und Mädchen äußert sich Siegel wie 
folgt: 

Die Bildung des Mädchens ist wie folgt 
zu erklären: Nach der letzten Menstruation 
findet regelrecht zwischen dem 10. bis 15. Tage 
der Follikelsprung statt Am 16. Tage nach 
Menstruationsbeginn ist die einmalige Koha- 
bitation markiert. Nach Höhne und Behre 
findet die eventuelle Kopulation von Sperma¬ 
tozoon und Ovulum spätestens am 18. Tage 
statt. Die Menstruation bleibt aus. t)ie Be¬ 
fruchtung hat also tatsächlich stattgefunden, 
und zwar spätestens am 18. Tage. Das Ei 
war jung. Der Erfolg dieser Schwangerschaft 
war ein Mädchen. 

Die Bildung des Knaben ist wie folgt zu 
'erklären: Nach der vorletzten Menstruation 
fällt regelmäßig zwischen dem 10. bis 15. Tage 
der Follikelsprung. Zwischen Follikelsprung 
und nächster Menstruation findet keine Men¬ 
struation statt Es tritt am 29. Tage eine 
letzte Menstruation ein. Das Ei überdauert 
diese letzte Menstruation. Am 5. Tage nach 
Beginn der letzten Menstruation tritt spätestens 
die eventuelle Kopulation von Spermatozoen 
mit dem die Menses überdauernden, jetzt über¬ 
reifen 21 Tage alten Ovulum ein. Die Ovulation 
erfolgte. Es besteht Schwangerschaft mit dem 
Erfolg eines Knaben. 

Will man einen Knaben bekommen, so 
müßte der Verkehr zu den Zeiten stattfinden, 


wo überreife Eier zu erwarten sind, d. h. vom 
1. bis 9. Tag nach Menstruationsbeginn, auch 
kurz vor der nächsten Menstruation. Will man 
ein Mädchen bekommen, so muß man den 
sexuellen Verkehr auf die Zeiten verlegen, in 
denen junge, frische Eier zu erwarten sind, 
d. h. auf den 15. bis 23. Tag nach Menstru¬ 
ationsbeginn. Die Angaben beziehen sich auf 
regelmäßig in vierwöchentlichem Zyklus men¬ 
struierende Frauen. E. Tobias (Berlin). 


Friedrich Kraus und Theodor Brugsch 
(Berlin), Spezielle Pathologie und Thera¬ 
pie Innerer Krankheiten. Lief. 71 bis 75, 
VII. Bd. Berlin, Wien 1916. Urban & Schwar¬ 
zenberg. 

Erkrankungen der Harnröhre, Blase, Prostata, 
Hoden, Nebenhoden und Samenblasen, von 
Prof. L. Caspar (Berlin). 

Die Zystoskopie und der Ureterenkatheterismus, 
von Prof. L. Casper (Berlin.) 

Funktionelle Nierendiagnostik, von . Prof. 
P. F. Richter (Berlin). 

Akute Nephritiden, von Prof. H. Strauß 
(Berlin). 

Casper gibt in dem knappen Rahmen 
von 104 Seiten eine kurze, klare Darstellung 
der Erkrankungen der Harnröhre, Blase, Pro¬ 
stata, Hoden, Nebenhoden und Samenblasen. 
Referent kann bei der Gonorrhöe Caspers ab¬ 
solute Verwerfung jeden Versuchs einer „ab¬ 
ortiven“ Kur nach seinen Erfahrungen aller¬ 
dings nicht teilen. 

Bei seinem Kapitel: „Die Zystoskopie und 
der Ureterenkatheterismus“ ist ebenfalls die 
kurze, klare und dabei erschöpfende Darstellung 
hervorzuheben. Leider treten aber darin die 
alten Differenzen zwischen Nitze, dem Schöpfer 
der Kystoskopie, und L. Casper wieder zu¬ 
tage. Referent hat dazu zu bemerken: Die 
Benutzung der Edisonlampe ist nicht, wie 
Casper angibt, 1887 von Dittel erst einge¬ 
führt worden, sondern schon 1886 von Nitze 
selbst geschehen. Ferner: Das Ureteren- 
kystoskop ist im Prinzip und Ausführung 
eine Schöpfung Nitzes aus dem Jahre 1894; 
die sekundäre Modifikation der technischen 
Ausführung des Prinzips dagegen, die Casper 
1895 angab und als Beginn der Methode des 
Ureterenkatheterismus hier wie in früheren Dar¬ 
stellungen bezeichnet, hat Casper bekanntlich 
selbst später zugunsten einer Modifikation 
Albarrans, den sogenannten beweglichen 
Finger, verlassen. Aber auch diese Modifikation 
hat Nitze für sein Instrument, das die wei- 


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Referate über Bücher und Aufsätze. 


teste Verbreitung in der Welt gefunden hat, 
lange vor Casper angenommen. Nitze ist 
und bleibt der Schöpfer des Ureterenkathe- 
terismus. Auch betreffend der Infektionsmög* 
lichkeit durch den Ureterkatheter kann Re¬ 
ferent, gleich Nitze, nicht den leicht darüber 
hinweggleitenden Standpunkt Caspers teilen. 

P. F. Richter bringt eine vorzügliche 
informierende Schilderung der funktionellen 
Diagnostik. 

H. Strauß gibt eine ausgezeichnete Dar¬ 
stellung über Begriff, Einteilung und Ätiologie, 
pathologische Anatomie, Klinik und Therapie 
der akuten Nephritis unter Bezugnahme auf 
die Nephrosen, sowie mit einer Beschreibung 
seines Vorgehens zur funktionellen Prüfung 
der Nierenfunktion. 

Die Ausstattung des Buches durch den 
Verlag ist gut. 

Alfred Rothschild (Berlin). 

Tb. Kahn und G. Steiner (Str&ßburg), 

Über die Ursachen der multiplen Sklerose. 

Med. Klinik. 1917. Nr. 38. 

Nach Anführung einer Anzahl von Tat¬ 
sachen aus der Klinik und der pathologischen 
Anatomie der multiplen Sklerose, die schon 
die Vermutung stützten, daß es sich um eine 
Infektionskrankheit oder um den Folgezustand 
einer solchen handeln müsse, beschreiben die 
Verfasser Tierversuche, in denen es ihnen ge¬ 
lang, Meerschweinchen mit frisch entnommener 
Spinalflüssigkeit von relativ frühen Fällen 
multipler Sklerose erfolgreich zu impfen. Beim 
Meerschweinchen gelang die intraperitoneale 
Impfung; diese versagte beim Kaninchen, hier 
aber ging die intraokulare an. Da der Liquor 
mit Blut vermengt war, maßte man entscheiden, 
ob der erstere oder das letztere wirksam 
waren. Liquor ohne Blut war in weiteren 
Versuchen wirkungslos, während durch 
Venenpunktion gewonnenes Blut die Krank¬ 
heit übertrug. Die Tiere starben nach 
Tagen oder Wochen an fortschreitender Läh¬ 
mung. Die Weiterimpfungen vom erkrank¬ 
ten Tier gelangen bis zu vier Passagen. 
Die Sektion der Tiere ergibt mikroskopisch 
außer Hyperämie der Leber nichts, auch am 
Gehirn und Rückenmark nicht. Die mikrosko¬ 
pische Untersuchung ist noch nicht abge¬ 
schlossen. Verfasser fanden in dem denkranken 
Tieren entnommenen Blut Spirochäten, 
die im Dunkelfeld, im Blutausstrich nach 
Giemsa und mit Löfflerscher Geißelfärbung 
nachweisbar waren, von denen sich besonders 


die letztere bewährte. Auch konnten die Er¬ 
reger im Schnitt *nach Levaditi gefärbt 
werden. Als positiv wurden nur Versuche an¬ 
gesehen, bei denen zwei der Methoden positiv 
waren; in einzelnen Fällen waren sogar alle 
drei positiv. 

Die Spirochäte ist schlank und ähnelt nach 
Größe und Form derjenigen der Weil sehen 
Krankheit. Sie bewegt sich mäßig lebhaft. 
In der Leber liegt die Spirochäte nie im Ge¬ 
webe, sondern stets in Blutgefäßen, von denen 
in jedem Schnitt immer nur einige wenige 
befallen sind. 

Der Nachweis der Spirochäte beim Menschen 
ist bisher nicht geglückt. 

W. Alexander (Berlin). 


M Sr oben (Wiesbaden), Der Hysteriebegriff 
bei den Kriegsneurosen« Auf Grund neuerer 
Gefangenenbeobachtnngen. B. kl. W. 1917. 
Nr. 51. 

Wenn von vielen Autoren statt „funktionell* 
einfach „hysterisch* und „psychogen“ gesagt 
wird, so schießt das nicht nur über das Ziel 
hinaus, sondern es entsteht eine nicht unbe¬ 
denkliche Begriffsverwirrung, die auch eine 
große praktische Bedeutung hat Bei Ge¬ 
fangenen sind zwar psychisch bestimmte 
„hysterische“ Neuroseformen eine große Selten¬ 
heit, aber es ist zweifellos, daß man bei ihnen 
und zwar in einer überraschend großen Anzahl 
von Fällen den Tatbestand der „Reflexlähmung“ 
erheben muß. Mörchen konnte in mindesten» 
10% derartiger Lähmungszustände rein neu¬ 
rotischen Ursprung oder eine neurotische 
Überlagerung anatomischer Läsionen feststellen. 
Auffallend ist jedenfalls das fast gleichhäufige 
Vorkommen von Reflexlähmungen gegenüber 
dem fast vollständigen Fehlen anderer Kriegs¬ 
neurosen. Die besondere Situation der Ge¬ 
fangenen verhindert die Entwicklung der 
psychogenen Neuroseformen fast völlig; die 
somatisch-funktionellen Formen, bei denen die 
für jene verantwortlich gemachte „Erkrankung 
des Vorstellungslebens“ schon an sich weniger 
naheliegend schien, kommen auch bei Ge¬ 
fangenen häufig vor, sind also als unmittelbare 
somatische Schockwirkungen aufzufassen. 
Auch in der Terminologie muß zum Ausdruck 
kommen, daß zwischen dem Organischen im 
Sinne der pathologisch-anatomischen Ver¬ 
änderung und dem Psychogenen eine wohl- 
charakteriaierte Form der nervösen Störung 
als somatischfunktionelle Leitungsänderung 
steht. E. Tobias (Berlin). 


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A. Reinhart (Bern), Anatomische Unter¬ 
suchungen über die Häufigkeit der Tuber¬ 
kulose. Korrespondenzblatt für Schweizer 
Ärzte 1917. Nr. 36. 

Die vom Sommer 1915 bis 1. Januar 1917 
im Institut vorgenommenen Sektionen wurden 
in solche Fälle gesichtet, bei denen Tuberkulose 
der Hauptbefund war (letale Tuberkulosen) und 
in solche, bei denen Tuberkulose und zwar in 
noch fortschreitender oder nicht fortschreitender 
Form als Nebenbefund eruiert wurde. Bei N eu 
geborenen (28 Fälle) wurde niemals Tuberkulose 
konstatiert Von 72 Kindern waren 29,16 % 
tuberkulös. Wo Tuberkulose als Nebenbefund 
(9 mal) gesehen wurde, zeigten alle Fälle deut¬ 
liches Fortschreiten der Infektion. Bei Er¬ 
wachsenen (360 Sektionen) beobachtete Ver¬ 
fasser ganz annähernd dem Nägelischen Ergebnis 
96,38% 4er Fälle; von diesen waren 32,5% 
als noch fortschreitende und 63,9 % als in¬ 
aktive Formen zu bezeichnen. Wieder wird 
die Tatsache, daß die Mehrzahl der akquirierten 
Tuberkulosen ausheilt, illustriert Ob die In¬ 
fektion immer schon vor dem 20. Jahr erfolgt 
und dann schon zu anatomischen Läsionen 
führt, erscheint zum mindesten zweifelhaft. 

J. Ruhe mann (Berlin-Wilmersdorf). 

Otfr. Müller (Tübingen), Über Rheumatis¬ 
mus. I. Teil. Med. Klinik. 1918. Nr. 13. 

Der alte klinische Begriff „Rheumatismus“ 
bedarf einer erheblichen Einschränkung. Das 
Prototyp desselben ist der akute und 
chronische Mnskelrheumatismus: Myalgie. 
Er tritt bei besonders disponierten Menschen 
plötzlich auf, meist nach Erkältung, führt zu 
vermehrter Muskelspannung („Furchtkontrak¬ 
tur“) und hinterläßt oft im Muskel gewisse 
Resistenzen; er zeigt ausgesprochene Neigung 
zu Rückfällen. Die Theorien von Gold¬ 
scheider (diese Zeitschrift 1916) und 
A. Schmidt (diese Zeitschrift 1916), welche 
die Myalgie als Neuralgie der sensiblen 
Nervenendigungen im Muskel definieren, haben 
viel Bestechendes. Ebenso die Theorie von 
Quincke, der vasomotorische Störungen 
nach Art des Quincke sehen Ödems als 
Grundlage der Myalgie und Neuralgie ansieht, 
Neben dieser Form der Erkrankung gibt es 
eine andere, bei Nichtdisponierten vor¬ 
kommende, als Folge intensiverer und länger 
andauernder Kälteeinwirkung, die auch funkio- 
neller Natur sein muß, da sie keine Folgezu¬ 
stände hinterläßt. Ganz davon zu trennen ist 
die Myositis, mit den Tonsillen als Eintritts- I 


pforte, Fieber, Endokarditis; sie hinterläßt 
.Schwielen und Atrophien. Dasselbe gilt von 
der gonorrhoischen MyoBitis. Klinisch ähnlich, 
aber ihrem Wesen nach heterogen ist der 
Turnschmerz, der wohl auf mechanischer Schä¬ 
digung der Muskelfasern beruht Auch die 
toxischen Muskel- und Nervenschmerzen 
(Alkohol, Blei, Gicht, Typhus usw.) haben 
• mit dem eigentlichen Muskelrheumatismus 
nichts mehr zu tun. 

Dem akuten Gelenkrheumatismus 
geht in 80% der Fälle eine Tonsillitis voran. 
Der Erreger ist noch nicht bekannt Die 
lymphatische Konstitution wirkt disponierend. 
Die akuten septischen und pyämischen 
Gelenkaffektionen mit ihren bekannten Erregern 
sind ganz davon zu trennen; ebenso die Ge¬ 
lenkerkrankungen bei Infektionskrankheiten 
(Scharlach, Typhus usw.). 

Bei den chronischen Gelenkrheumatismen 
ist zunächst der sekundäre, aus dem akuten 
hervorgegangene zu erwähnen, dessen infektiöse 
Ätiologie außer Frage steht. Im Gegensatz da¬ 
zu entwickelt sich die primäre, progressive, 
deformierende Arthritis schleichend ohne 
akutes Stadium. Bei dem Malum coxae 
senile, einer Osteoarthritis deformans, handelt 
es sich um regressive Veränderungen primär 
im Knochen. Die Heb erden sehen Knoten 
finden sich außer bei chronischem Pseudo¬ 
rheumatismus auch bei der Gicht. Letztere 
ist eine Stoffwechselerkrankung, die mit dem 
Gelenkrheumatismus nichts zu tun hat. Die 
verschiedenen Formen der chronischen 
Wirbelsäulen Versteifung schließen sich 
teils an die echte Polyarthritis der 
Wirbelgelenke an, teils stellen sie ein 
primäres Knochenleiden dar, teils sind sie 
myogenen Ursprungs. Die neurogenen 
Gelenkerkrankungen (Tabes, Syringomyelie) 
ähneln anatomisch mehr der Osteoarthritis 
deformans. Die Gelenkneuralgie zeigt 
keinen objektiven Befund, tritt anfallsweise 
auf und darf nicht mit rheumatischen Prozessen 
verwechselt werden. 

Als rheumatisch sollte man aus dem 
großen Reiche der Muskel- Nerven-, und Ge¬ 
lenkerkrankungen nur diejenigen aussondern, 
die irgendeine Beziehung zur Erkältung 
haben. W. Alexander (Berlin). 

Otfr. Malier (Tübingen), Über BhenmatU- 
mus. II. Teil. Med. Klinik. 1918. Nr. 16. 

Welche tatsächlichen Vorgänge liegen dem 
Begriff der Erkältung zugrunde? Man versteht 

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Referate über Bücher und Aufsätze. 


darunter reflektorische Schädigungen entfernter 
Körpergebiete, besonders im Innern des 
Leibes, von sonst bedeckt getragenen oder 
überhitzten Hautstellen aus. Müllers Unter¬ 
suchungen selbst haben gezeigt, daß durch den 
Kältereiz eine Blutverschiebung von der Peri¬ 
pherie in die Tiefe hin stattflndet; daß also 
ein Antagonismus zwischen den äußeren und 
inneren Gefäßen besteht Die Verschiebung 
erfolgt um so ausgiebiger, je stärker die ge¬ 
reizte Stelle kälteentwöhnt ist. Allein durch 
solche abnormen Durchblutungsverhältnisse 
können schon Gewebsschädigungen gesetzt 
werden. Wichtiger als diese ist aber noch 
der Umstand, daß, wenn an der betreffenden 
, Stelle Entzündungserreger vorhanden sind, 
diese mobilisiert und so richtige entzündliche 
Veränderungen angefacht werden können. 

Gegen die besprochene Form der „Er¬ 
kältung“ wirkt prophylaktisch die Abhärtung 
im Sinne Dettweilers, d. h. Herabsetzung 
der Reizempfindlicbkeit durch Gewöhnung an 
steigende Reize. Der Krieg hat so abhärtend 
gewirkt, daß Erkältungskrankheiten bei den 
Feldtruppen selten sind, viel häufiger in der 
Ausbildungszeit oder nach längerem Lazarett¬ 
aufenthalt. 

Außer den reflektorisch bedingten Erkäl¬ 
tungen gibt es durch direkte Kälteeinwirkung 
hervorgerufene Gewebsschädigungen in allen 
Graden bis zur Erfrierung. Hiergegen gibt es 
keine Abhärtung, weil der Reiz zu stark ist. 

Die akuten und chronischen Myalgien 
werden mit reflektorisch wirksamen 
Mitteln behandelt: Faradisation mit dem 
Pinsel, Massage, Einreibungen. Ebenso 
wirken die meisten Bäder, von denen z. B. bei 
den Wildbader Thermen die Radiumwirkung 
dazukommt. Die Wirkungsart dieser letzteren 
ist noch unbekannt; für ihre Wirksamkeit 
spricht — außer vielen Erfolgen — auch die 
als Reaktion bekannte, anfängliche Ver¬ 


schlimmerung. Ferner kommen einfache lokale 
und allgemeine Wärmqapplikationen in Betracht. 
Auch Injektionen von physiologischer Koch¬ 
salzlösung haben Bich als nützlich erwiesen. 
Salizylate wirken schmerzlindernd, aber nicht 
so spezifisch, wie beim akuten Gelenksheuma¬ 
tismus, leisten aber zur Anregung der Diapho- 
rese gutes. 

Bei den direkten Kälteschädigungen sind 
besonders Sol- und Wildbäder wirksam. Die 
entzündlichen Myositiden reagieren prompt 
auf Salizylate. Das letztere gilt besonders 
für die akute Polyarthritis, und zwar so 
weitgehend, daß diese Reaktion bei Zweifeln 
sogar differentialdiagnostischen Wert hat. 
Müller empfiehlt große Dosen, schubweise 
gegeben, dann aussetzen bis zur Erkrankung 
neuer Gelenke. Ferner Einpackungen der Ge¬ 
lenke und bequeme Lagerung in halber Beuge¬ 
stellung. — Bei der chronischen, sekun¬ 
dären Arthritis gibt Müller nicht dauernd 
innere Mittel. Hier ist mit Einreibungen, 
Bi er scher Stauung, Wärme und Bädern vor¬ 
zugehen. Auch Radium-Trinkkuren sind zu 
versuchen. Rechtzeitig Übung und Muskel¬ 
massage! 

Bei rezidivirenden Arthritiden ist die 
Feststellung und Entfernung des Infektions¬ 
herdes von großer Wichtigkeit. Hier kommen 
kariöse Zähne .und — nach Päßler — be¬ 
sonders die Tonsillen in Betracht. Die Aus- 
drückung der Mandeln genügt meist ebenso 
wenig wie die Schlitzung, die Tonsillektomie 
ist als die einzige spezifische Therapie 
anzusehen. 

Die Gelenkveränderungen bei Gonorrhoe, 
Tuberkulose und Syphilis sind spezifisch zu 
behandeln. 

Was die Aggravation von Rheumatis¬ 
mus anbetrifft, so ist es zweifellos, daß auch 
ohne Befund erhebliche Beschwerden bestehen 
können. W. Alexander (Berlin). 


Aufruf! 

„Es wird das Jahr stark und scharf herffehn. Aber man muß die Ohren steif halten, 
und Jeder, der Ehre und Liebe fürs Vaterland hat, muß alles daran setzen.“ Dieses Wort 
Friedrich des Großen müssen wir uns mehr denn je vor Augen halten. Emst und schwer ist 
die Zeit, aber weiterkämpfen und wirken müssen wir mit allen Kräften bis zum ehrenvollen 
Ende. Mit voller Wucht stürmen die Feinde immer aufs neue gegen unsere Front an, doch 
stets ohne die gewollten Erfolge. Angesichts des unübertrefflichen Heldentums draußen sind 
aber der Daheimgebliebenen Kriegsleiden und Entbehrungen gering. An alles dies müssen wir 
denken, wenn jetzt das Vaterland zur 9. Kriegsanleihe ruft. Es geht ums Ganze, um Heimat 
und Herd, um Sein oder Nichtsein unseres Vaterlandes. Daher muß jeder 

Kriegsanleihe zeichnen! 


W. Büxenstein Druckerei und Deutscher Verlag G. m. b. H., Berlin SW.48. 


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(Berlin). M, LEVYDQP.N (Berlin'.. I.. MANN (Breslau). 3. AlA BOISE (Ebenliausen), F.MARTIUS Rostock), 
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luri a. M.l, P. K. PKL (Amsterdam), M. PRIBBAM (Prag), H.J. Ql'INCKE (Frankfurt a. M.). Th. ROSKNHEIM 
(Berlin), M. RUBNKR (Berlin). H. SAHLI (Bern). J. .SCHREIBER (König*bergi. Pr ), H. STRAUSS (Berlin). 


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Herausgeber: 

A. GOLDSCHEIDER jU BRIEGER A. STRASSER 

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Vitbei«rAir**$# ;ify pwUitftbf; v»t5c4tfif: .die , öiis .Öteatexrfciri» «Ity^Wö b&d ff 

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Uc au? vten KoPiVkuir vefsi^^W ; tin\&mg*RüfcVi geitefaru Ahßildi/ng 

*uf br&uii^rfn ftifcilevtHoi£ht i t* ri*.^ r Aartu£Xriph iipd io reprsduHnot.^labi^t» Awirbrjtfcg ?l?tgb<4j 


INHALT 

l Original «• Arbeiten. 

I. &ur Äeiiafniliuiir ciui* K rieg«nüphritW itt ^^ial liÄzatfetleö. Von 'Ur. Ernst jMoslor. Harlin., ,* 
U ^«r ntfttife.Hiturßlfioheh Beb»ndlt>ng d«r cbföniÄürhen Arthritiden, Von Walter Krebse, AaobC» 

^ . . . . • . . . . ■> \ - • . _ . ’ .. . . .. ^ 

11. Berichte «her Kongresse and Vereine. 

IIÄffel.»^ri'Mlfer|i4fetvVereinigung n DeutsoUI&mls und Oß&fcrreieh-Ungarns, 1. Tagung der mVUiÄHiihphifi 
AbteT|l>tig^n yüt# 11 Ms 13, OK lobet 1911 in Buden b. Wien- ^briJHdannß) < . , 


Kurhaus (KiosternosM öüflitlwaf/Kälte) 


*>& tf $c rwr £**.fi x * wie 4 jj $V u. 0. Ifl, 

V'ür Hot'Äs ,, iyarriH, i 


Sioffwccit scl» a nd Nervenkrank SQfrdc &r H q 


keü&rfnge «a usse nci tu men •irtfekiij» Erkrankte). — Ph)^tLä)techfc Hviinuttql 

jeritefter \n ~ TVoTef^pun, — ^Vor^ gllch« Einricb tnn.gfen für W lii Wkqreni 


Professor Df - Ootorrrmrin Professor Dr. Edens 

Ijtäm der ’fcMbslic-a d«, Kßfhuiikiü Aerztlidrer teilte de* 

pTtff, pr* l^^rnraniv virid Prof. Pv. F.dcjv» vftHrcfcn sien g*gHr>Mttig ; ). — *4#bwr£-daioh den i*iu*r>€ 

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Wo eip 5 Km iö te SairfefiiM nlcf.i dfiiÄii^g. 
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bei Katarrhen der 
Atmur.ßs- und Verdauungen 
organ®, tnfluenaa, Asthma, 
Emphysem? auch oei Stoff- 
:: wecheelerkranküngen :: 


fFerdfTi tnatnonjinrü fcr! drrAo»»im8dii-lE;Apiodl!IOK fluriölf M«m«. Berlin 3 W, Bre^lÄnVB^den, t«öfflpei 
dojf?,■i &m ^awtborf, Köln>. feti.,. Leipai& Mavrdeburß ^aimneim. Alöncbin; ;4üfbber# 
?.a r? 'Wai^wban.BaseLZttricb. lnsmUjnssrüfH xin&hY&r'iv 


Ox^äilr'CJke Tlieraiplfc. Bi.ec XÜ13 Btrfi W 





Original fro-m 

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I 


•Original-Arbeiten. 


i. 

Zur Behandlung der Kriegsnephritis in Spezial-Lazaretten. 

Von 

Dr. Ernst Mosler, 

zurzeit landstnrmpflicbtiger Arzt an einem Kriegslazarett, 

Assistenzarzt an der Kgl. Universitätspoliklinik zu Berlin. 

(Dir. Geb. Hed.-Rat Prof. Dr. Goldscheider.) 


Es ist heute eine nicht mehr zu bestreitende Tatsache, daß die an der 
sogen. Kriegsnephritis Erkrankten am besten in Speziallazaretten untergebracht 
sind. Man braucht nur die Aufsätze von Goldscheider 1 ) und Robert 3 ) zu 
lesen, um sich zu überzeugen, daß eine Absonderung der Nierenkranken von den 
anderen Kranken geboten erscheint. Daß diese Speziallazarette am besten und 
für die Kranken am nützlichsten möglichst dicht hinter der Front im vordersten 
Teil der Etappe einzurichten sind, wird ebenfalls in diesen Arbeiten überzeugend 
dargelegt. Bringt doch selbst der kleinste Transport, mag er noch so schonend 
ausgeführt werden, eine wesentliche Verschlimmerung eines schon auf dem Wege 
der Besserung befindlichen Leidens, eine Verschlimmerung, die den Kranken 
häufig genug um viele Wochen zurückwirft. Auch scheinen, wie Goldscheider 
ausgeführt hat, diejenigen Nephritiden bedeutend verzögerter zu verlaufen, die 
einen längeren Transport im Anfang ihrer Erkrankung durchgemacht hatten. Es 
muß auch besonders betont werden, daß die Ernährungsverhältnisse in der Etappe 
sich durch geschickte Rationierung an die verschieden Erkrankten so günstig 
gestalten, daß der Nephritiker fast friedensmäßig ernährt werden kann, jedenfalls 
aber so, daß ihm unter Zuführung einer Kalorienmenge, wie sie ein mittelschwer 
arbeitender Mann im Heimatgebiet augenblicklich erhält, nur Nahrungsmittel zu¬ 
geführt werden, die nach dem Stande der modernsten Wissenschaft auch dem 
Nephritiker erlaubt sind. 

Dem Arzt, dem die Aufgabe zufällt, solche Speziallazarette einzurichten, 
und später zu leiten, erwachsen naturgemäß anfangs ungeheure Schwierigkeiten. 
Wenn wir diese hier in der Etappe bei der X. und Y. Armee trotzdem über¬ 
wunden haben, so liegt das in erster Linie an dem nicht hoch genug anzu¬ 
erkennenden Interesse, das sämtliche militärischen Vorgesetzten, vor allem aber 
der Chefarzt, der Kriegslazarettdirektor und der Konsultierende Innere gerade 
dieser Erkrankung entgegengebracht haben. Bevor der leitende Arzt als Ab¬ 
teilungs-Vorstand an die Einrichtung eines Nieren-Spezial-Lazarettes geht, muß 

*) Zeitschrift für diät. u. phys. Therapie 1918, Bd. 22. 

*) Mediz.-Klinik 1916, Nr. 31. 

Zeitschr. f. physik. *. dttt. Therapie Bd.. XXII Heft 12. 31 


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' 

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460 


Ernst Mosler 


er mit großer Umsicht geeignetes Wartepersonal aussuchen. Ich denke da vor 
allem an das weibliche Pflegepersonal, an das bei der Pflege von Nierenkranken 
besonders schwere und außerordentlich verantwortungsvolle und moralische Auf¬ 
gaben gestellt werden. Den eingelieferten Schwerkranken, den Urämiker, zu 
pflegen, wird heute nach fast vierjährigem Kriege wohl kaum einer Kranken¬ 
schwester mehr Schwierigkeiten darbieten. Wohl aber habe ich häufig Schwierig¬ 
keiten in der Zeit kommen sehen, in der die Kranken dem lebensbedrohlichen 
Stadium entrückt, nunmehr in das lange, oft über Mo.nate hinaus sich erstreckende 
Stadium der Genesung eingetreten sind. Ich behaupte nicht zuviel, wenn ich 
sage, daß der Krankenschwester in dieser Zeit das Hauptverdienst an der weiteren 
günstigen Gestaltung des Leidens zukommt. Die lange bevorstehende Bettruhe 
und die lange außerordentlich eintönige Diät machen den Kranken schon früh¬ 
zeitig mißmutig, unwirsch und häufig genug auch mißtrauisch. Wie stark der 
Drang im Menschen ist, sich irgendwie körperlich zu betätigen, sei es auch nur, 
nm für einige Stunden verbotenerweise das Bett zu verlassen; wie gierig manche 
Kranken nach farbreicherer und gewürzterer Kost sind; wie häufig direkt Ge¬ 
schmackshalluzinationen nach irgendwelchen • pikanten, ausgefallenen Gerichten 
auftreten, das vermag nur der Stationsarzt zu beurteilen, der ja im Verlaufe der 
Monate zu seinen Kranken in ein freundschaftliches Verhältnis tritt. Wieviel 
kann hier eine verständige Schwester ausrichten, wieviel eine unverständige ver¬ 
derben! Ich kenne Schwestern, die mit wahrer Engelsgeduld monatelang dem 
Kranken schluckweise die eintönige Nahrung zuführten, ihn immer wieder er¬ 
munterten und ihm durch die Aussicht auf baldige Genesung die Speisen schmack¬ 
haft zu machen versuchten; wieder andere, die sofort beschwerdeführend zum 
Arzt liefen: „Der Kranke verweigere die Nahrung, er wolle durchaus gewürztere 
Kost haben.“ Ein derartiges Personal, wie ich es zuletzt beschrieben habe, ist 
natürlich von vornherein als für die Nierenstation ungeeignet, möglichst schnell 
nach einer anderen Station zu versetzen. 

Außerordentlich günstige Erfahrungen habe ich mit fortlaufender Belehrung 
gemacht. Ich habe in gewissen Zeitabständen den versammelten Kranken kleinere 
Vorträge über das Wesen und die Art der Kriegsnierenentzündung gehalten. Bei 
diesen belehrenden Vorträgen habe ich ihnen populär auseinandergesetzt, aus 
welchen Gründen man zu dieser gewiß nicht angenehmen Kost schreitet, aus 
welchem Grunde man ferner die strenge Bettruhe verordnet. Ich habe ihnen 
weiter Kurven von Leuten gezeigt, die bereits im Lazarett unter meiner Aufsicht 
schwere körperliche Arbeit verrichten, die früher aber einmal in demselben 
Krankheitsstadium, auch in derselben mürrischen Stimmung gewesen sind. Man 
zieht durch diese Art von Belehrung eine mitarbeitende Kraft unter den Kranken 
groß, die man nach meinen Erfahrungen unter gar keinen Umständen missen 
darf, und ohne die eine segensreiche Behandlung überhaupt nicht möglich ist. 
Ich möchte fast sagen, daß der glückliche Enderfolg von dem Geist abhängig 
ist, der in dem betreffenden Lazarett herrscht. Ein einziger böswilliger Querulant 
kann einen ganzen Saal verderben. Ein gutes Beispiel zieht immer wieder gute 
Beispiele nach sich. Selbstverständlich hat der Arzt alles zu tun, um den Kranken 
leichter über diese Schwierigkeiten und die trüben Gedanken hiuwegzubringen. 
So halte ich es für absolut erforderlich, daß die weiter Vorgeschrittenen die 


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Zur Behandlung der Kriegsnephrjtis in Spezial-Lazaretten. 


461 


Mahlzeiten nicht mit Denjenigen zusammen einnehmen, die noch an Bettruhe und 
strengste reizlose Diät gekettet sind. Die angenehmen Düfte der sogen. I. Form 
wirken psychisch aufregend und können krankheitsverschlimmernd wirken. Ganz, 
abgesehen davon, daß der Arzt dem Kranken nicht gerade dadurch eine Hand¬ 
habe zu geben braucht, seine Befehle zu durchkreuzen, daß er ihm anderes als 
für ihn bestimmtes Essen vor die Augen hält. Daß starke seelische Erschütterungen 
zu wieder beginnender-Blut- und Eiweißausscheidung führen können, habe ich des 
öfteren gesehen. Ich denke besonders an einen Kranken, den plötzlich ein un¬ 
geheures Heimweh packte, so daß er sich nächtelang ruhelos umherwarf; auch 
an einen anderen, einen Ingenieur, der plötzlich durch seine Frau über einen 
großen Vermögensverlust benachrichtigt wurde. In beiden Fällen trat eine 
wesentliche Verschlimmerung ein, deren ich aber durch größere Gaben Brom und 
Codein sowie durch gutes Zureden in kurzer Zeit Herr werden konnte. 

Ein weiterer wichtiger Faktor in der Behandlung ist das harmonische Zu¬ 
sammenarbeiten des Stationsarztes mit der Küche. Der Küchenzettel wild von 
einer besonders erfahrenen Koohschwester mit dem Arzt zusammen aufgestellt, 
so daß nach Möglichkeit eine bestimmte Kalorienzahl (2100 bis 2300 Kalorien) 
täglich erreicht wird. Für abwechslungsreiche Kost muß der Inspektor, für ab¬ 
wechslungsreiche Zubereitung die Kochschwester ständig Sorge tragen. Auch 
muß selbst in den größten Betrieben die Kochschwester stets willig bereit sein, 
für eine geringere Zahl von schwer zu behandelnden Kranken extra zu kochen 
und besondere Gerichte zu „erfinden“. Ich kann von unseren hiesigen Koch¬ 
schwestern nach dieser Richtung hin nur das Rühmendste sagen. 

Wie freundschaftlich sich auch Arzt und Schwester gerade den Nieren¬ 
kranken gegenüber stellen sollen, so unerbittlich streng andererseits müssen sie 
im Interesse der Sache sein. Selbst kleinste Konzessionen in bezug auf Er¬ 
weiterung der Kost oder in bezug auf das Aufstehen sind vor der Zeit für den 
Kranken unheilvoll. In großen Betrieben, wo 300 bis 500 Nierenkranke behandelt 
werden, muß man natürlich eine gewisse Schematisierung innehalten, ohne die 
eine Ordnung nicht möglich ist. Immerhin aber ist ein Individualisieren mehr 
wie notwendig. Bei unserer täglich von neuem zusammengestellten und genau 
berechneten Einheitskost lassen sich je nach der Schwere des Falles mit Leichtig¬ 
keit Zulagen oder Abzüge dergestalt verabreichen, daß Eiweißgehalt und Salz¬ 
gehalt in der Nahrung Veränderungen erleiden. Ich möchte dies an der Hand 
eines Kostzettels für einen bestimmten Tag des Näheren erläutern: 


375 g Brot 
90 g Butter 
800 g Kaffee 


Speise-Zettel: 

70 g in Natur zum Brotaufstrich; 
20 g sind in den Speisen enthalten 


10 Uhr vormittags: 30 g Marmelade 

12 Uhr mittags: 100 g Grießsuppe 

150 g Buttergraupen 

100 g Kartoffeln 

(evtl. Fleisch- oder Quarkzulage). 
6 Uhr nachmittags: 200 g Haferflockensuppe. 


über den Tag 


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462 


Ernst Moaler 


Diese Kost enthält unter Berechnung der Straußschen Zahlen: 

41,9 g Eiweiß 
2,5 g gewachsenes Salz 
2332 Kalorien 
— Fleisch. 


Ans dieser salzarmen und fleischlosen Kost lassen sich non am Krankenbett 
bei der Visite leicht folgende Umänderungen durch Zulagen schaffen: 


Art der Kost 

Eiweiß 

g 

gewachse¬ 
nes Salz 

g 

Kalorien 

salzarm und fleischlos . . . 

. . . . 

. 

41,9 

2,5 

2332 

Butter 

Ei 

Milch 

Fleisch 





g 

8t. 

L. 

g’ 





20 (155) 





42,1 

2,5 

2487 


1(71) 




48,2 

2,7 

2403 



V* (168) 



50,4 

2,9 

2500 



V. (335) 



58,2 

3,3 

2667 




25 (58) 


51,0 

2,5 

2390 




50 (115) 


60,1 

2,6 

2447 




75 (173) 


69,2 

2,6 

2505 




100 (231) 


78,3 

2,7 

2563 


Die eingeklaminerten Zahlen bedeuten die Kalorienmenge. 

Das Muster einer solchen Einheitskost mit den betreffenden Zulagen hat der 
Arzt bei der Visite für den betreffenden Tag ausgerechnet stets bei sich. 

Andererseits läßt sich durch Abzüge leicht d6r Eiweißgehalt noch um fol¬ 
gende Werte verringern: 


Art der Kost 

Eiweiß 

g 

gewachse¬ 
nes Salz 

g 

Kalorien 

salzarm und fleischlos .. 

41,9 

2,5 

2332 

bei Abzug von 




75 g Brot 

37,2 

2,5 

2153 

100 g „ 

35,7 

2,5 

2094 

150 g „ 

32,6 

2,5 

1975 

200 g „ 

29,5 

2,5 

1856 


Den fehlenden Kalorien wert ersetzt man dann durch Zucker, Marmelade oder 
durch die ja immerhin sehr eiweißarme Butter. Es ist uns in solchen Fällen 
stets technisch möglich gewesen, außer den 90 g Butter in besonderen Fällen 
noch 30 g Butter zur Verfügung zu haben. Auf diese Weise erhält trotz einheit¬ 
lich geführter Küche fast jeder Kranke eine andere Nahrung. Es ist selbstver¬ 
ständlich, daß Fleisch, Butter, Salz, Zucker usw. auf Grammwagen ordnungsgemäß 
abgewogen werden. An die Gewissenhaftigkeit und die Ausdauer der Schwester 
wird hierbei eine große Anforderung gestellt. 


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Zur Behandlung der Eriegsnephritis in Spezial-Lazaretten. 


463 


Hat sich die genesende Niere der Zuführung einer gewissen Eiweißmenge 
und Salzmenge angepaßt, so geht man schrittweise vorwärts. Am besten legt 
man immer nur einen Nahrungsstoff zu. Man gebe also niemals an einem Tage 
Zulagen verschiedener Nahrungsmittel, z. B. Fleisch- nnd Salzzulage. Die nächste 
Zulage gebe man erst dann, wenn die erkrankte Niere die frühere Zulage reak¬ 
tionslos vertragen hat. Erfahrungsgemäß geht man am besten folgendermaßen 
vor. Wenn das schwere Anfangsstadium, in dem ein Eiweißminimum und an 
Salz nur das an die Speisen gewachsene Salz zugeführt wurde, glücklich über¬ 
wunden ist, so lege man allmählich grammweise Salzmengen zu, bis der Kranke 
3 g Salzzulage, also eine Gesamtsalzmenge von 5 bis 6 g inkl. des gewachsenen 
Salzes toleriert. Erst jetzt schreite man zu größeren Eiweißgaben. Auf Milch¬ 
zulagen lasse man Eierzulagen folgen nnd fange dann endlich mit Fleisch¬ 
zulagen an. Folgendes Schema möge diese Ausführungen erläutern, indem wir 
wieder von dem obigen, für einen bestimmten Tag vorgesehenen KoStzettel 
ausgehen. 


Eiweiß 

ff 

Fleisch 
(Ei, Milch) 

ff 

Salz 

(gewachs.) 
bzw. Zulage 

ff 

Kalorien 

Verordnungen bezgl. 

Bettruhe, Aufstand, Turnübungen 
usw. 

41,9 

_ 

2,5 

2332 

Bettruhe 


41,9 


3,5 

2332 



41,9 


4,5 

2332 

0 


41,9 

— 

5,5 

2332 

» 


50,4 

V, L. Milch 

5,9 

2500 

» 


a 48,2 

1 Ei 

5,7 

2403 

* 


S ( 51,0 

25 

5,5 

2390 

n 


% 51,0 

25 

5,5 

2390 

2 Stunden Aufsitzen 


“j 1 51,0 

25 

5,5 

2390 

2 „ Aufstand 


3 60,1 

50 

5,5 

2447 

2 „ v 

gleichzeitig 

60,1 

50 

5,5 

2447 

4 „ 

Stehtibung, be- 

60,1 

50 

6,5 

2447 

4 „ 

ginnend mit 

60,1 

50 

7,5 

2447 

4 „ 

5 Minuten täg- 

68.2 

75 

7,6 

2505 

4 „ 

lieh, allmählich 

68,2 

75 

7,6 

2505 

6 r 

steigend auf 

68,2 

75 

8,6 

2505 

6 r 

30 Minuten. 

78,3 

100 

8,7 

2563 

6 * * 


78,3 

100 

8,7 

2563 

ganzen Tag Aufstand 

78,3 

100 

*,7 

2563 

» « r 

10 g Salzprobe 

78,3 

100 

8,7 

i 2563 

v r « 

Skoliose-Übungen 

78,3 

100 

8,7 

2563 

n rt v 

Lordose „ 

78,3 

100 

8,7 

2563 

leichte körperliche Arbeit 

78,3 

100 

8,7 

2563 

kalte Abreibungen 


versucbsw. I. Form, d. h. eine Kost, die dnrchschn entb.: 



70-80 | 

1 

14-18 | 

3000-3400 

Beschäftigung mögt. 

in der Berufsarbeit 

endgültig I. Form 






n 



Alkoholbelastnng(Va L. Bier od. y, Fl.Wein) 

» 

rt 



kaltes Fußbad 


n 

n 



lstflnd. Marsch in feldmarschmäß. Ausrtistg. 


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464 


Ernst Mosler 


So nützlich sich auch die schematische Behandlang der Nierenkranken er¬ 
wiesen hat, so möchte ich doch ausdrücklich betonen, daß der Arzt, znmal der 
jüngere Mediziner, nicht etwa in den Fehler verfallen darf, seine ärztliche Visite 
an toten Tabellen anstatt am Krankenbett zu machen, an dem ihm die Tabelle 
nur ein gutes und bequemes Hilfsmittel sein soll. 

Während der ganzen Zeit ist die Salzeinnahme und -ausscheidung genau 
zu bestimmen, wie dies bereits in den Arbeiten von Goldscheider, Robert 
und von Falkenhausen 1 ) des näheren ausgeführt ist. 

Hat man den Kranken nach verschieden langer Zeit auf eine Diät einge¬ 
stellt, die also 40 bis 50 g Eiweiß insgesamt, 25 g Fleisch und 5 bis 6 g Salz 
insgesamt enthält, dann erst beginnt man erfahrungsgemäß mit der physikalischen 
Belastung. Unter Beibehaltung der genannten Diät, die wir fernerhin als „Mittel¬ 
form“ bezeichnen wollen; weil sie zwischen der strengen Nierenkost und der 
I. Form steht, erlaube man dem Kranken, 2 Stunden am Tage sich neben seinem 
Bett auf einen bequemen Stuhl zu setzen. Dieses Aufsitzen von 2 Stunden 
steigere man, nachdem der Kranke es vertragen hat, zu einem zweistündigen 
Aufstehen, bei dem es ihm erlaubt ist, im Saal etwas herumzugehen, und gehe 
endlich zu 4 Stunden Aufstand über. 

Sind auch diese 4 Stunden Aufstand reaktionslos vertragen worden, so 
steigere man wieder Fleisch- und Salzgaben derart, daß man auf 50, 75 und 
endlich 100 g Fleischzulage kommt und von 5 g Salz allmählich eine Gesamt¬ 
salzmenge von 8 bis 9 g erreicht. Bei einer Nahrung, die bereits 75 g Fleisch 
und 7 bis 8 g Salz insgesamt enthält, erhöhe man den Aufstand auf 6 Stunden. 
Bei einer Nahrung, die 100 g Fleisch und 8 bis 9 g Salz insgesamt enthält, 
erlaube man dem Kranken bereits, während des ganzen Tages sich außerhalb 
des Bettes aufzuhalten. Die 10-g-Salzprobe, d. h. die einmalige Zuführung von 
10 g Salz haben wir am zweckmäßigsten dann eingefügt, wenn wir bereits bei 
100 g Fleisch und 8 g Salz angelangt waren. In sehr vielen Fällen konnten 
auch wir, wie schon von Falkenhausen, nach der 10 g Salzprobe eine starke 
überschüssige Salzausscheidung feststellen, die oft sogar das Zwei- bis Dreifache 
der Salzzufuhr betrug; ein Symptom, das nach meinen Erfahrungen als günstig 
anzusehen ist. , 

Bald, nachdem wir dem Kranken erlaubt hatten aufzustehen, begannen wir 
mit physikalischen Übungen. Wir ließen anfangs den Kranken 5 Minuten gerade 
stehen und dehnten dieses Stehen dann allmählich auf 30 Minuten hintereinander 
aus. Wenn der Kranke bereits den ganzen Tag aufstehen durfte, so hatte er jene 
Stehübungen von 30 Minuten jedenfalls gut vertragen. Wir gingen dann zu den 
Skoliose- und den Lordose-Übungen sowie anderen Freiübungen über. Während 
der ganzen Zeit der Rekonvaleszenz wurden natürlich des öfteren Wasserbe- 
lastungs- und Konzentrationsversuche ebenso wie Jodkaliproben angestellt. 

Selbst bei nur ganz geringfügigen Steigerungen findet man oft genug, wie 
Goldscheider dies auch schon betont hat, eine Verschlimmerung insofern, als 
in dem bereits von Eiweiß und Blut freigebliebenen Urin abermals Blut oder 
Eiweiß auftreten. Nichts wäre unrichtiger als nun den Kranken sofort wieder 


') In.-Diss. Berlin 1917. 


x 

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Zur Behandlung der Kriegenephriti9 in Spezial-Lazaretten. 


465 


in die frühere Diätform oder das frühere Stadium physikalischer Belastung 
zurückzuwerfen. Gewöhnlich paßt sich bei so langsamer Steigerung, wie es da« 
Schema zeigt, die Niere sehr rasch dem veränderten Plus von diätetischer oder 
physikalischer Belastung an, so daß auch unter Beibehaltung derjenigen physi¬ 
kalischen Mehrbelastung, die die Verschlimmerung verursacht hat, nach 1 bis 2 
bis 3 Tagen wieder der günstige Status quo ante erreicht ist. 

Ist alles dies ordnungsgemäß nach unserem Schema durchgeführt worden, ohne 
daß eine länger andauernde Störung der Nierenfunktion aufgetreten ist, dann wird 
dem Genesenden endlich jene gemischte Kost verabreicht, die wir als I. Form 
bezeichnen, selbstverständlich unter beständiger Kontrolle des Urins auf Eiweiß 
und des Sediments auf Blut. Zur Abhärtung haben wir bereits vorher mit täg¬ 
lichen kalten Abreibungen begonnen. 

Unser Schema kann auch annähernd als Richtschnur gelten in Fällen, wo 
eine wesentliche Besserung nach längerer Zeit strengster Behandlung nicht auf¬ 
getreten ist. Eine Chronizität soll man aber erst annehmen und damit gleich¬ 
zeitig die Hoffnung auf eine weitgehende Besserung fallen lassen, wenn man 
wirklich viele Wochen lang keine Fortschritte zu verzeichnen hatte. Es ist 
natürlich bei diesen Kranken nicht möglich, eine strenge, reizlose Kost Monate oder 
gar Jahre lang durchzuführen. Man ist vielmehr gezwungen, diätetische und phy¬ 
sikalische Konzessionen nach der Richtung hin zu machen, wie unser Schema es 
zeigt. Wir müssen uns dann eben mit dem Erreichbaren begnügen und schon zu¬ 
frieden sein, wenn eine diätetische oder physikalische Mehrbelastung keinen 
Schaden zugefügt hat. Man wird es auch in diesen traurigeren Fällen fast stets 
erreichen, den Kranken auf unsere Mittelform und auf 4 bis 6 Stunden Aufstand 
während des Tages zu bringen, vielleicht sogar in dieser Zeit geringere körper¬ 
liche Arbeiten verrichten zu lassen. 

Ich habe mich bemüht, eine möglichst einheitliche physikalische Belastung 
für die Nierenkranken auszuarbeiten, da Aufstand, Freiübungen usw. doch bei 
den verschiedenen Individuen wohl auch bis zu einem gewissen Grade verschiedene 
Belastungsproben darstellen. Denn es ist klar, daß der Lebhafte während 
seines Aufstandes seine Muskeln mehr in Bewegung setzen wird, als der Phleg¬ 
matische und daß der Jüngere die Lordose-und Skoliose-Übungen energischer be¬ 
werkstelligen kann, als der Ältere. Möglichst gleichmäßige Bedingungen schafft 
nun m. E. eine physikalische Belastung, wenn man dem Körper Zentrum, also auch 
den Nieren, durch vollkommenes Abbinden der Beine für eine gewisse Zeit die 
Bewältigung einer größeren Blutmenge zumutet. Ich schaffte eine künstlich er¬ 
zeugte Plethora vera des Torso folgendermaßen: 

Dem auf dem Rücken liegenden Kranken werden beide Beine bei gestrecktem 
Knie im Hüftgelenk so weit wie möglich nach oben bewegt. Dann wird das 
venöse Blut sorgfältig aus beiden Oberschenkeln und Unterschenkeln herausmassiert 
und nunmehr beide Oberschenkel sofort nacheinander an der Grenze zwischen 
dem oberen und mittleren Drittel mittels Esmarchschen Schlauches 20 Minuten 
lang abgebunden. Es werden nunmehr der übrige Körper, vor allem aber die 
Baucheingeweide, also auch die Nieren, eine vermehrte Blutzufuhr erhalten. 
Dieser Versuch schafft annähernd gleichmäßige Bedingungen; denn die aus den 
Beinen verdrängte Blutmenge wird stets dasselbe Verhältnis zur Gesamtblut- 


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466 Ernst Mosler, Zur Behandlung der Eriegsnephritis in Spezial-Lazaretten. 


menge, zur Körpergröße und zum Körpergewicht haben. Jedenfalls sind durch 
diesen Versuch exaktere physikalische Bedingungen geschaffen, als wie durch 
unsere anderen physikalischen Übungen gegeben sind. Ähnlich wie bei anderen 
physikalischen Belastungsproben konnte ich nun auch hier in einer Reihe der 
Fälle sofort nach dem Versuch verstärkte Eiweißausscheidung und erneute 
Blutausscheidnng feststellen. Nach einem, spätestens nach zwei Tagen ging, 
wenn es überhaupt zu einer Schädigung gekommen war, diese wieder vorüber. 
Die Fälle, in denen bei diesem Versuch keine weitere Schädigung erfolgte, glaube 
ich als besonders günstig in bezug auf gute Ausheilung hinstellen zu können. 
Jedenfalls konnte ich bei diesen sehr schnell diätetisch und physikalisch weiter¬ 
gehen, ohne daß sich eine schadhafte Reaktion zeigte. So einfach das Verfahren 
auch zu handhaben ist und so harmlos es auch ist, wie ich mich anfangs au 
Gesunden, später an Nierengenesenden überzeugt habe, so möchte ich doch nicht 
seiner Einführung das Wort reden, da die ganze Prozedur als lästig und von 
etwas wehleidigen Kranken als recht, schmerzhaft empfunden wird. 

Die „Leute der I. Form“ werden von einem Feldwebel beaufsichtigt, dem 
nun zusammen mit dem Arzt die Aufgabe zufällt, eine geeignete Beschäftigung 
für die Leute zu finden. Möglichst sollen sie sich in ihrer Berufsarbeit betätigen 
oder jedenfalls für ihre spätere Berufsarbeit widerstandsfähig und wiedergeeignet 
gemacht werden. So haben wir hier Schusterwerkstätten, Schneiderstuben, Ra¬ 
sierstuben, Tischlereien, Holzschuhmachereien eingerichtet, haben Landwirte mit 
der Schweinemast oder mit Gartenarbeit betraut. Haben die Leute bereits 
mehrere Wochen lang diese Arbeit unter Darreichung der I. Form gut vertragen, 
ist ihnen auch die sehr beliebte Toleranzprobe gegen Alkohol (V 2 L. Bier oder 
Va Fl. Wein) gut bekommen, so geben wir als weitere Belastung ein kaltes 
Fußbad bis zu einer halben Stunde und lassen die Leute endlich in feldmarsch¬ 
mäßiger Ausrüstung eine Stunde marschieren. 

Es kann natürlich nicht verheimlicht werden, daß selbst bei diesem schritt¬ 
weisen Vorwärtsgehen auch dann noch Rückfälle aufgetreten sind. Doch sind diese 
Rückfälle, die ja wagen der dauernden Kontrolle des Urins sofort bemerkt werden, 
niemals ernster Natur gewesen. Findet man bei einem bereits Genesenen 2 oder 3- 
Tage hintereinander wieder Blut im Sediment, so genügt meistens Bettruhe von 
wenigen Tagen unter Verabreichung unserer Mittelform, um diese neue Schädigung 
zu beseitigen und um den Betreffenden bald wieder reif für die vorher verrichtete 
Arbeit zu machen, die er nun gewöhnlich ohne weitere Schädigung vertragen wird. 

Eine solche Behandlung und spätere Beaufsichtigung der an Nierenentzündung 
erkrankt gewesenen Mannschaften dauert natürlich viele, viele Monate lang. Sie 
stellt, wie ich auseinandergesetzt habe, eine außerordentlich hohe Anforderung 
an die Geduld des Stationsarztes und des ganzen Personals, nicht zuletzt an den 
Kranken selbst. Der Erfolg aber, den wir durch unsere Behandlung bei der 
überwiegend großen Anzahl unserer Kranken zu verzeichnen haben, ist für die 
aufgewandte Mühe eine entsprechend schöne Belohnung. 


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Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 


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n. 

Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 

Aas dem Landesbad der Rheinprovinz (Chefarzt Dr. Krebs). 

Von 

Walter Krebs 
in Aachen. 

(Schloß.) 

Balneotherapie. 

Im weitesten Maße wird schon seit alters von den Heilbädern bei der Be¬ 
handlung der. chronischen Gelenkentzündungen Gebranch gemacht. Viele, be¬ 
sonders unserer heißen Bäder, sind schon vor Jahrtausenden den „gicht“kranken 
Menschen wegen ihrer guten Wirkung bekannt gewesen und von ihnen deswegen 
aufgesucht worden. Und nach wie vor üben die Wild-, Kochsalz- und Solbäder 
ihre Anziehungskraft auf alle, die an sogenannten gichtischen und rheumatischen 
Beschwerden leiden, aus. Im Rahmen einer kurzen Abhandlung die Wirkungs¬ 
weise dieser Bäder näher darzutun, ist unmöglich, doch sei nur soviel gesagt, 
daß auch sie vor allem den Stoffwechsel fördern, sei es, daß dies nun durch die 
Höhe der Temperaturen, sei es durch den Radiumgehalt — besonders bei den 
salzarmen Wildbädern — oder den Salzgehalt der Kochsalz- und Solbäder ge¬ 
schieht (Heubner). Es sei dabei gleich bemerkt, daß die Dauer der Badekuren 
gegen chronische Arthritiden nicht zu kurz bemessen ist. Nur in leichteren Fällen 
wird man schon mit 4 Wochen zum. Ziel gelangen, in der Mehrzahl dürften aber 
längere Fristen erforderlich werden, zumal oft wiederholte Kurunterbrechungen 
durch interkurrente, reaktive Verschlimmerungen bedingt sind. 

Die bei den Badekuren gleichzeitig angewendeten Trinkkuren unterstützen 
die ersteren nach mehr als einer Richtung und werden an den verschiedenen 
Orten verschieden gehandhabt. Jedenfalls drängt sich, je länger und genauer 
man den Einfluß des Trinkens von Thermalbrunnen bei gleichzeitigen Badekuren 
zu beobachten Gelegenheit hat, die Überzeugung immer mehr auf, daß der inner¬ 
liche Gebrauch des betreffenden Wassers von außerordentlicher Bedeutung ist und 
daß — wenn es die Verhältnisse des Magendarmkanals und die Beschaffenheit 
des Wassers irgendwie gestatten — möglichst nicht zu kleine Mengen gegeben 
werden sollten. Im besonderen in Aachen-Burtscheid, wo das Thermalwasser so 
warm getrunken zu werden pflegt, als es erträglich ist, empfiehlt es sich dringend 
nicht unter 1 ’/a - 2 Liter trinken zu lassen. Der berühmte Badearzt Blondei 
in Aachen vor ca. drei Jahrhunderten ließ bis 4 Liter täglich trinken! Nicht 


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Walter Krebs 


nur wird durch den Genuß des heißen Wassers die Erzeugung von Schweiß und 
die Erhöhung des Stoffwechsels erheblich gefördert, sondern es muß auch eine 

— ganz abgesehen von etwaiger spezifischer Einwirkung, z. B. auf die fermentative 
Wirkung der Verdauungsorgane, deren einwandfreier-Nachweis in manchen Bädern 
noch .aussteht — Durchträukung des Muskelgewebes (Magnus) mit Wasser 

— salzhaltigen und -armen — angenommen werden. Bei der allmählichen Wieder- 
ausscbwemmung des Wassers aus diesen Muskeldepots ist anzunehmen, daß ein 
nicht unerheblicher Säftestrom im Gewebe entsteht, der bei den bekannten engen 
Zusammenhängen zwischen Muskel- und Gelenkernährung, nicht ohne Bedeutung 
für die benachbarten Gelenke sein kann. 

Wenn dazu noch wie in einzelnen Wildbädern — so in Ragatz — die 
mechanische Einwirkung der Dusche im Wasser selbst tritt, so ist es wohl 
möglich, Erfolge zu erzielen, die den von alters her bestehenden Ruf solcher 
Bäder zu stützen und neu zu fördern vermögen. 

Ganz besonders technisch entwickelt ist die Art der Duschenverabreichung 
in Verbindung mit gleichzeitiger Massage in Aix les Bain und ihr ähnlich in 
Aachen; letztere sei, weil sie in dieser Weise nur wenig bekannt, mit einigen 
Worten kurz geschildert. 

Die Badewanne enthält durchschnittlich 700—1000 Liter, ist im Boden eingelassen, 
wird deshalb mittels einer nach unten führenden Treppe bestiegen und zumeist von 
Patienten in sitzender Haltung gebraucht. Je nach dem Leiden nnd dem Körperteil, der 
gednBcht werden soll, steht oder sitzt der Patient beim Dnschen, während der Dnschenr 
ihm gegenüber ebenfalls i n der Wanne seinen Platz nimmt. Unter gleichzeitiger Anwen¬ 
dung der beweglichen von der einen Hand geleiteten Strahldusche wird nun der betreffende 
Körperteil meist mit der anderen Hand massiert, ein gewandter Badediener vermag jedoch 
mittels des über seine Schulter gelegten Schlauches, dessen Strahl er durch entsprechende 
Bewegungen der Schulter dorthin leitet, wo er gleichzeitig massiert, mit beiden Händen 
die Massage vorzunehmen. Die Dauer der Dusche beträgt gemeinhin 10 Min.,* ihre 
Temperatur 38 bis 39° C. Der Patient bleibt nach der Dusche in der Wanne, die sich 
durch das Duschewasser meist genügend gefüllt hat, oder, ist dies nicht geschehen, bis 
zum Überlauf hinterher gefüllt wird — Temperatur des nachfolgenden Bades 36 bis 37° C. 
Gesamtdauer der Bäder einschließlich der Duschemassage 20 bis 25 Min. Bei sehr 
empfindlichen Patienten gehe ich so vor, daß ich ihnen erst mehrere Unterwasserduschen 
geben oder sie geben sie sich selbst in gefüllter, Wanne, sodann übergehe ich zur Über¬ 
wasserdusche in leerer Wanne mit gebrochenem Strahl — ein Finger des Duscheurs 
teilt den Strahl an der Rohröffnung fächerförmig und mildert bo die mechanischen Ein¬ 
wirkungen — ohne gleichzeitige Massage, dann die Massage hinzunehme, und schließlich 
den ungebrochenen Strahl mit Massage — Duschemassage — verordne. Daß diese Kur 
sehr anstrengend ist und eine nicht unerhebliche Energie seitens des Patienten voraus¬ 
setzt, ist offenbar, daß wir aber auch mit einem solchen Verfahren allgemeine, •— und 
örtliche Wirkungen auszuüben vermögen, die ihresgleichen suchen, und die wir zu unserer 
Freude selbst bei den hartnäckigsten Fällen immer wieder noch auftreten sehen, bedart 
andererseits wohl auch kaum der Betonung. 

Außer den allgemeinen Bädern empfiehlt es sich noch tägliche Teilbäder für die 
distalen Gelenke von J / 2 ständiger Dauer und mit Temperaturen von 40 bis 42° C 
zu verordnen, denen stärkere Trockenfrottierungen und Bedeckungen mit wollenen 
oder baumwollenen Kleidungsstücken s. o. — folgen. Auch nächtliche Kompressen, 
mit heißem Thermalwasser (42° C) angelegt und von einer dicken Flanellschicht 
überdeckt, sind in vielen Fällen von recht guter Wirkung. 


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Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 


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Außer den Wild-, Kochsalz- und Solebädern sind noch als weitere, gegen 
chronische Gelenkentzündungen wirksamen Heilbäder die Moor- und Schlamm¬ 
bäder zu nennen. Bei beiden kommt vor allem weniger die chemische Zusammen¬ 
setzung in Betracht, als vor allem ihre physikalische Beschaffenheit, die wegen 
ihrer großen Wärmekonstanz und durch ihre spezifische Wärme und Wärme¬ 
kapazität günstig auf alle alten Gutzündungsherde wirken.' Sie können wegen 
ihrer geringeren Wärmekapazität als Wasser in höheren Temperaturen und für 
längere Dauer als Wasserbäder angewendet werden und üben aueh durch die 
Schwere ihrer Masse einen merklichen, komprimierenden und massierenden Druck 
auf den Körper des Badenden aus. Neben diesen thermischen nnd mechanischen 
Wirkungen sind jedoch besonders bei mineralischen Moorbädern — Eisen-, 
Schwefel-, salinische Moorbäder — die chemischen Einwirkungen durch die in ihnen 
vorhandenen Säuren und Salze auf die Haut nicht völlig von der Hand zu weisen, 
die ihre stärkere Durchblutung durch den Reiz auf die Vasomotoren begünstigen. 
Außer den allgemeinen Moor- und Schlammbädern, bei denen Temperaturen von 
meist 38 bis 42° C angewandt und dadurch mehr oder weniger starke Schweißab¬ 
sonderungen und Stoffwechselsteigerungen erzielt werden —, gelangen auch Teil¬ 
bäder, sowie Umschläge und Packungen zur Anwendung. In den letzten Jahren 
sind besonders die Fangopackungen viel angewandt worden, die auch in der 
Häuslichkeit der Kranken selbst vorgenommen werden können. Auch bezüglich 
des Fangos, der mineralischer Natur und vulkanischer Herkunft ist, war der große 
Krieg ein trefflicher Lehrmeister, insofern, als der früher meist aus Italien 
bezogene Schlamm (Battaglia in Ober-Italien) nun ersetzt wird nnd zwar in 
durchaus vollgültiger Weise durch den aus der vulkanischen Eifel stammenden. 
Den Packungen, mit denen leicht eine starke Verschmutzung der Umgebung 
verbunden ist, werden vielfach Fangoteilbäder vorgezogen, die in Eimern oder 
anderen entsprechenden Gefäßen genommen werden, deren Inhalt bei demselben 
Patienten unbedenklich mehrere Male hintereinander — von neuem erwärmt und 
mit heißem Wasser oder Thermalwasser zu dickbreiiger Konsistenz verrührt — 
gebraucht werden kann. 

Der zu Bade- nsw. Zwecken benutzte Schlamm wird als Niederschlag in schwefel- 
nnd kochsalzhaltigen Quellen oder am Strande von Meeren nnd Seen (besonders am 
Schwarzen Meere) gefunden nnd gewonnen, aber fast nur an den Orten der Gewinnung 
selbst zu therapeutischen Zwecken verwandt. Es dürfte jedoch nur eine Frage der 
Technik bzw. des Vertriebes sein, daß auch diese Schlammsorten in pulverisiertem 
trockenen Zustande, ähnlich wie der Fango, zur Vornahme von Hauskuren usw. versandt 
wird. Jedenfalls dürfte dann auch der Schlamm von der Kurländischen Küste bzw. von 
Ahrensburg auf der Insel Ösel sich in Deutschland seinen Markt erobern, gleichwie er 
schon seit langem in den Küstenländern Deutsch-Bußlands viel gebraucht und hoch ge¬ 
schätzt wird. 

Schließlich sei noch der Sandbäder gedacht, die bei chronischen Arthritiden 
vielfach besonders geschätzt werden. Außer den natürlichen, in südlichen Gegenden 
im Freien genommenen Bädern, z. B. in dem Sande des Meeresstrandes, sind in 
Deutschland vor allem die Sandbäder mit künstlicher Erwärmung, deren Tempe¬ 
ratur 50 bis 55° C sein darf, in Gebrauch; für 1 Stunde und noch länger gegeben, 
wirken sie gleich den Moor- usw. Bädern durch ihren mechanischen Druck und 
rufen andererseits wegen ihrer hohen Temperatur starke Schweißabsonderung und 


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somit Flüssigkeitsabgabe hervor. Auch hier sehen wir wieder, wie die Tempera¬ 
turen der Bäder, nm so höher sein dürfen, je trockener das Medium bzw. je größer 
die Möglichkeit ist, den an der Körperoberfläche ausgetretenen Schweiß zu ver¬ 
dunsten, was bei den Wasser-, Schlamm-, Moorbädern nicht möglich ist. Daß auch 
die Sandteilbäder — in kleinen Eimern o. dgl. genommen — durch den mechanischen 
Druck einerseits und die Höhe der Temperatur andererseits starken Einfluß auf 
erkrankte Gelenke ausznüben vermögen und u. a. eine erhebliche Hyperämie er¬ 
zeugen, soll nur noch kurz erwähnt werden. 

Zweckmäßig ist es, alle heißen Süßwasser- und Heilbäder ungefähr nach der 
dritten Woche am Schluß des jedesmaligen Bades auf 32 bis 30° C event. noch 
tiefer schnell abzukühlen, wobei die Kranken, falls sie dazu in der Lage sind, 
Schwenkbewegungen machen sollen. Einmal wird dadurch das im Anfang der 
Behandlung meist durchaus erwünschte und beabsichtigte Nacbschwitzen gehemmt 
und eingeschränkt, und eine Schwächung des Organismus, die bei dem anhaltenden, 
profusen Schwitzen zu gewärtigen ist, verhindert. Ferner wird aber auch eine 
abhärtende Wirkung durch die kurze Schlußabkühlung erzielt, die sehr nötig er¬ 
scheint, da ohne sie nach derartigen thermischen Kuren die Kranken allen er¬ 
kältenden Einflüssen wegen der Erschlaffung und des herabgeminderten Tonus der 
Hautgefäße mehr ausgesetzt sind, als vorher. Und was die Erkältungsgefahr 
gerade für Menschen mit chronischer, primärer und sekundärer Arthritis zu be¬ 
deuten hat, ist ja bekannt. Bei den Moor-, Schlamm- und Sandbädern wird die 
Schlußabkühlung naturgemäß in den ihnen nachfolgenden Reinigungsbädern, in 
denen die Kranken, meist bei 35 bis 36° C noch 15 bis 20 Minuten zu liegen 
pflegen, vorgenommen. 

Die örtliche Anwendung der Breiumschläge bei den chronischen Arthri¬ 
tiden ist eine Form der Einwirkung, die ebenfalls althergebracht und weit ver¬ 
breitet ist. Sie alle werden mit weichen Breimassen — die auf 40 bis 42° 0 
erwärmt werden — gefüllt und so angelegt, daß sie längere Zeit liegenbleiben 
können, also gut mit dicken Tüchern bedeckt, um, wenn ihre Temperatur ge¬ 
sunken ist, durch neue Umschläge ersetzt zu werden. Als Füllung werden meist 
Leinsamen, Kartoffeln und andere die Wärme gut beibehaltende Materialien, als 
Umhüllung kleine besonders angefertigte Säckchen oder mehrfach gefaltetes altes 
Leinen genommen. — Unmittelbar auf die Haut in dicker Schicht gestrichen und 
ebenfalls von dicken Tüchern bedeckt, stellen die Umschläge von Moor, Fango 
(s. oben) oder auch von Lehm und Ton, die alle vorher fein gesiebt und mit 
heißem Wasser oder Thermalwasser zu breiartiger Konsistenz verrührt sein müssen, 
vortreffliche Mittel zur Erzeugung von Hyperämie und zur Beseitigung der 
Schmerzen dar. Ganz besonders möchte ich hierbei Packungen aus heißem Senf¬ 
mehl empfehlen, die allerdings nur 10 Minuten liegen bleibeu und von hydro- 
pathischen Umschlägen gefolgt sein sollen. Ihre Wirkung ist meist außerordentlich, 
so daß nur täglich einmal eine derartige Packung nötig ist, die so oft wiederholt 
werden soll, als der Zustand der Haut dies zuläßt und das Leiden es bedingt. 

Die Frage nach der Diät der an chronischen Arthritiden leidenden Patienten, ist 
nicht so ohne weiteres zn beantworten. Handelt es sich nm eine gichtische Grundlage, 
so ist naturgemäß auf eine sachgemäße Ernährung Gewicht zu legen. Daß bei den 
heutigen Anschauungen über die große Bedeutung der purinhaltigen Kost bei Entstehung 


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der Gicht danach zu streben ist, die Einführungen derartiger Nährmittel möglichst zn 
beschränken, liegt auf der Hand. Freilich muß man sich dessen bewußt bleiben, daß 
viele Menschen dauernd einen relativ hohen Blutharnsäuregehalt zeigen und fast täglich 
die schlimmsten Exzesse quantitativer und qualitativer Art in der Nahrungsaufnahme be¬ 
gehen, ohne daß sie je einen typischen Gichtanfall gehabt oder gichtische Gelenkerkran¬ 
kungen aufzuweisen haben, während andererseits viele Gichtkranke trotz schärfster Diät 
und Enthaltsamkeit in Essen und Trinken von gichtischen Attacken nach wie vor heim¬ 
gesucht werden. Es müssen deshalb noch andere Gründe und Umstände angenommen 
werden, die zu der Blutharnsäure hinzutreten müssen, um die gichtischen Erscheinungen 
im Organismus hervorzurufen. Daß dabei der von Heilner (s. o.) angenommene spezi¬ 
fische Gelenkschutz eine wichtige Rolle spielt, ist anznnehmen. — * Immerhin empfiehlt 
es sich in allen Fällen einwandfrei festgestellter Gelenkgicht die Blutharnsäure auf ein 
Minimum zurückzuschrauben und das gelingt nur auf dem Wege der Diät mittels 
purinfreier bzw. -armer Kost (auch die fleischfreie Kost enthält in manchen Nahrungs¬ 
mitteln noch Purinstoffe — so Spinat, Erbsen, Linsen, Steinpilze, Pfifferlinge usw.). 
Einen guten Anhalt bei der Auswahl der Speisen bietet die Nahrungsmitteltabelle von 
Schall und Heisler, Würzburg bei Kabitzsch. Diese Diätverordnungen unter den 
jetzigen Verhältnissen längere Zeit — und mit wenigen Wochen ist nicht viel erreicht — 
durchzuführen, ist außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich. Aber auch in fried¬ 
lichen Zeitläuften scheitert man sehr häufig an den äußeren Lebensbedingungen der 
Kranken und an ihrer mangelnden Einsicht und Energie, die zumal der so besonders 
notwendigen Einschränkung der Nahrungsaufnahme in quantitativer Hinsicht Hindernisse 
in den Weg legen. Nach' einer streng pürinfreien Diät von 2 bis 3 Monaten erscheint 
es jedenfalls in vielen Fällen durchaus angängig, 2- bis 3 mal, späterhin bis zu 6 mal 
wöchentlich Fleisch (täglich 150 g) zu gestatten, wobei aber die zellreichen Organe wie 
Briesen, Leber, Hirn, Nieren, Lunge auszuschließen sind. Von Getränken meide man 
nicht nur Alkoholgetränke — am ungünstigsten wirken nach meinen Erfahrungen Bur¬ 
gunder-, Rheinhessische, Ahr- und Naheweine, Sekte und selbstverständlich der Schnaps 
in jeglicher Form, sowie die schweren Biere, besonders das englische, weniger ungünstig 
leichte Mosel-, Saar-, Ruwer-, Rheingau- und Bordeauxweine mit Sauerbrunnen verdünnt 

— sondern auch Tee und Bohnenkaffee, wenn sie nicht sehr dünn getrunken werden, 
da der Übergang der in ihnen enthaltenen Methylpurine in Harnsäure keineswegs aus¬ 
geschlossen ist. Naturgemäß sind Malzkaffee und ähnliche Surrogate des Bohnenkaffees, 
ebenso wie Kakao völlig unschädlich. Als Tafelgetränk kommen Limonaden, kohlensaure 
Wasser, wie Aachener Kaiserbrunnen, Burtscheider Sprudel, Selterser, Wildunger Georg- 
Viktorquelle u. a. m. in Betracht, von denen täglich ungefähr 2 Liter zu trinken sind. 
Vor dem reichlichen Genuß alkalischer Wasser wird von manchen. Seiten, so auch .von 
Brugsch gewarnt, da sie ebenso wie forcierte Obstkuren — Zitronen-, Traubenkur usw. 

— geeignet seien, entzündliche Uratherde zu begünstigen. 

Bei der Festsetzung der Diät ist auf den jedesmaligen Ernährungszustand des 
Patienten zu achten. Da Gicht nicht selten mit Fettleibigkeit einhergeht, so ist auf diese 
nicht nur mittels anderer physikalischer Mittel, sondern auch durch entsprechende Kost 
einzuwirken, ebenso wie andererseits bei etwa heruntergekommenen Körperkräften bei der 
Kostanordnung diesen Rechnung zu tragen ist. 

Die Diät bei der chronischen primären und sekundären Arthritis bedarf im allge¬ 
meinen keiner besonderen Regelung — doch ist bei vollblütigen Personen, besonders wenn 
gesteigerter Blutdruck vorhanden ist, die im Jahr mehrfach zu wiederholende lakto-vege- 
täbilische Ernährung auf die Dauer von 4 bis 5 Wochen sehr zweckmäßig und eine Be¬ 
rücksichtigung des jeweiligen Allgemeinzustandes des Patienten bei der Kostfestsetzung 
stets geboten. Im übrigen gelten auch hier die bei der Gicht erwähnten Vorschriften 
falls Fettleibigkeit — besonders bei Erkrankungen der Gelenke der unteren Extremitäten 

— oder andererseits Unterernährung das Krankheitsbild komplizieren. Besteht Subazi¬ 
dität des Magens, wie von anderer Seite und auch von mir in zahlreichen Fällen nach¬ 
gewiesen ist, so erscheint es angebracht, dieser in der Kost- auch in der medikamentösen 
Verordnung, sowie in den Vorschriften der Trinkkur Rechnung zu tragen. 


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Mechanotherapie. Die Bedeutung der Massage fdr die Behandlung chronisch 
erkrankter Gelenke ist m. E. allen anderen mechanotherapeutischen Anwendungen über¬ 
legen, vorausgesetzt, daß sie von einem Personal vorgenommen, das nicht nur gut unter¬ 
richtet und geschnlt ist, sondern auch Zeit genug besitzt, sich in Ruhe und mit Sorgfalt 
des einzelnen Falles anznnehmen. Ist dagegen der Masseur überlastet nnd kann er dem 
einzelnen Kranken nur wenige Minuten widmen, wie in vielen Anstalten leider Gebrauch, 
so erscheint naturgemäß der Erfolg. solch flüchtiger Massagen, bei denen der Masseur 
nicht einmal die Eigenheiten der betreffenden Gelenkerkrankungen wahrnehmen kann, zum 
mindesten zweifelhaft. Ferner ist es durchaus unzweckmäßig, wenn etwa der Masseur bei 
jeder Massage wechselt, da ein mit den Sonderheiten der betreffenden Gelenkerkrankung 
vertrauter Masseur naturgemäß beim nächsten Mal ganz anders einwirken wird als ein 
neuer, unorientierter. Es ist nicht Zweck dieser Zeilen, die einzelnen Handgriffe und 
Manipulationen, die bei der Massage chronischer Arthritiden in Betracht kommen, hier 
anzugeben und zu beschreiben. Auf einige Punkte jedoch muß ich hier eingehen, da sie 
mir von großer Bedeutung für den Erfolg der Massage zu sein scheinen. 

Einmal darf in keinem Falle verabsäumt werden, die einleitende Massage 
der zentralwärts gelegenen Muskeln und Sehnen vorzunehmen, da sie für die 
Beschaffenheit der Blut- und Lymphbahnen und für die Strömungsverhältnisse in 
ihnen von außerordentlichem Wert ist; aber auch im Interesse der oft vor¬ 
handenen Atrophien der Muskulatur ist diese Muskelmassage unbedingt von 
Nöten, da vielfach wegen der gleichzeitig dadurch herabgesetzten Leistungsfähig¬ 
keit der Muskeln der Gebrauch der Gelenke aufs empfindlichste verzögert und 
erschwert wird. 

Ferner muß den reibenden, mit überstrecktem Endgliede der Finger vor¬ 
genommenen Massagebewegungen, die nicht nur eine Zerkleinerung der Ent¬ 
zündungsprodukte zum Ziel haben, sondern auch ungemein schmerzstillend 
wirken, mit Nachdruck das Wort getedet werden. Aktive und passive Wider¬ 
standsbewegungen der Gelenke sollen dann, sofern die letzteren beweglich und 
keine frisch entzündlichen Beizungen vorhanden sind, den Schluß der Massage 
darstellen. — Abgesehen von diesen örtlichen Eingriffen wird eine Ganzmassage 
des Körpers zur Förderung des Ges^mtstoffwechsels, der ja besonders bei der 
Gicht, aber auch bei der Osteo arthritis deformans und den anderen chronischen 
Arthritiden von hoher Wichtigkeit ist, ebenfalls stets von Nutzen sein. 

Ein weiterer Ausbau der eben genannten Widerstandsbewegungen bzw. eine 
Ergänzung ist in der Anwendung der Mediko-Mechanik zu sehen, die aktiv und 
passiv bei vielen chronischen Gelenkentzündungen außerordentlichen Segen stiftet, 
und es ist erstaunlich, wie häufig noch Patienten mit chronischen Arthritiden zur 
Behandlung gelangen, die aus Besorgnis vor Schmerzen genau das Gegenteil von 
dem tun, die Gelenke bewegungslos und still halten und so früh einsetzende Ver¬ 
steifung veranlassen. 

Die Frage, ob Bewegung, ob Ruhe bei der Behandlung der chronischen Arthri¬ 
tiden zweckmäßig sei, ist freilich nicht so ganz einfach und grundsätzlich zu be¬ 
antworten. Auch hierbei liegt die Entscheidung allein im örtlichen Befunde. So 
sehr die unbelasteten Pendelbewegungen bei zahlreichen Arthritiden noch Gutes 
zu stiften vermögen, selbst in Fällen, bei denen im Röntgenbilde ein stärkerer 
Schwund des Knorpelübet zuges der Gelenkenden festzustellen ist, und bei denen 
etwaige Ergüsse oder Kapselschwellungen durchaus keine Kontraindikation dar¬ 
stellen, so sehr können sie auch wiederum schaden in den Fällen, wo starke 


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Zur nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 473 

.Deformitation bis zu Subluxation bestehen und wo auch in der Ruhe die Patienten 
nicht schmerzfrei sind und jede Bewegung — auch die unbelastete — starke 
Schmerzen evtl. Temperatursteigerungen und Ergüsse hervorruft oder letztere ver¬ 
mehrt. Hier sind zeitweise ruhig stellende oder extendierende Verbände ange¬ 
zeigt, unter denen manchmal schon in einigen Tagen, meist aber erst in Monaten 
oft wesentliche Besserungen erzielt werden können, wobei bemerkt sein möge, 
daß eine Massage und Faradisation der Muskeln und Gelenke mit dieser Ruhig¬ 
stellung zweckmäßig einhergehen soll. 

Die Befürchtung, daß unter den die Gelenke ruhig stellenden, r extendierenden 
Verbänden die später so schwer zu beseitigende Muskelatrophien auf treten bzw. 
etwa schon vorhandene noch weiter zunehmen würden, erscheint unbegründet, 
besonders auch im Hinblick auf den nachstehend beschriebenen Fall: mit zuneh¬ 
mender Ausheilung der Gelenke nimmt auch die Muskulatur an Umfang zu, selbst 
wenn sie nur wenig oder fast gar nicht betätigt wird. Ein Beweis mehr für die 
Richtigkeit der Auffassung, daß z. B. bei Kniegelenksleiden die Atrophieen der 
Oberschenkelmuskulatur nicht so sehr eine Folge der Inaktivität sind, als von 
subkortikalen, reflektorisch oder automatisch vermittelten, aus unbewußter Angst 
vor etwaigen Schmerzen hervorgerufenen Hemmungen der normalen Innervation 
(Goldscheider, Weintraud) herrühren. 

Ein Beispiel des guten Erfolges eines solchen Verbandes sei hier kurz 
wiedergegeben: 

D., 25 Jahre alt, sonst gesund nnd erblich unbelastet, erkrankte vor fünf Jahren 
an akuter multipler Gelenkentzündung. Sechs Monate Bettruhe, Aspirin, Fango. Später¬ 
hin Heißluftbehandlung, Antistreptokokkenserum, Bäder. Nachkur in Teplitz. Zeitweise 
Besserungen und Verschlechterungen danach. 1916 Kur in Aachen. Aufnahmebefnnd: 
Elender, energieloser, stark nervöser, bettlägeriger Mann. Schwellung der verschiedensten 
Gelenke, besonders der Knie, die im Röntgenbild starke Verschmälerung der Gelenk¬ 
spalten und nur wenig hypertrophische Veränderungen an den Seitenflächen der Ober- 
schenkelkondylen sowie chronische Knochenatrophie zeigten. An den Mandeln Eiter- 
pfröpfe. Thermalbäder, ThermalduschenmasBage, Arseninjektionen, nach denen eine auf¬ 
fallende Besserung des Allgemeinbefindens und Hebung der Körperkräfte eintrat. Nach 
zweimonatiger Kur Anlegung von Streck-Gehverbänden an beiden Beinen, da die Knie 
trotz aller angewandten Mittel bis dahin ohne Besserung waren. Nach fünfmonatiger 
Knr Abreise. Rückkehr 1917, fünf Monate später. Allgemeinbefinden tadellos, Aussehen 
frisch. Knie abgeschwollen, Muskulatur der Oberschenkel, die im Vorjahr stark atrophisch, 
jetzt wesentlich kräftiger und umfangreicher. Eine Mandel exstirpiert. Röntgenologisch: 
Verbreiterung der Gelenkspalte gegen Vorjahr, Gelenkumrisse fast gerade, während sie 
1916 noch recht rauh und uneben waren. Gehvermögen in dem Apparat recht gnt. 
Also wesentliche subjektive und objektive Besserung, die Bich auch in der fortgeschrittenen 
Regeneration des Knorpels an den Kniegelenken ausspricht. 1918 geht der Patient 
ohne Apparat in völlig normaler Weise. 

Ist die Mechanotherapie verordnet, so erscheinen einige Winke am Platze. 
Daß der Arzt — nnd kann es der behandelnde nicht, so soll es nachträglich der 
dirigierende Arzt der betreffenden Anstalt tun — schriftlich genaue Anweisungen 
über die Art der zu benutzenden Apparate und über die Dauer der Benutzung 
gibt, ist die erste Forderung: die zweite, daß das Personal, in übel angebrachtem 
Entgegenkommen, den Patienten nie gestatten darf, auch noch andere, als die 
verordneten Apparate, zu benutzen; wenn Mißerfolge eintreten, so sind sie zumeist 


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474 W. Krebs, Zar nichtchirurgischen Behandlung der chronischen Arthritiden. 


die Folge nicht detailliert genug gegebener Anweisungen und unzureichender 
Aufsicht während der Ausführung der verordneten Übungen. 

Als weitere mechanische Einwirkungen, die z. T. vortreffliche Erfolge zu 
zeitigen vermögen, sind die von Bier angegebenen Stauungen mittels Gummi¬ 
binden und die Erzeugung von Hyperämie mittels Saugglocke. Die Stauung er¬ 
zeugt im Gegensatz zur Tbermotherapie eine venöse Hyperämie, wobei die 
Arterien nicht beteiligt sind und hat eine Ödembildung im Gefolge, die zwar 
weniger sinnfällig als die Hyperämie, aber von nicht geringerer Bedeutung ist 
als diese. In ähnlicher Weise wirkt die Saugglocke, bei deren Anwendung ähn¬ 
liche Verhältnisse bzw. Folgen in Betracht kommen wie bei der Stauungsbehand¬ 
lung mittels Gummibinden. 

Die Erfahrung hat es gelehrt, daß die Verbindung mehrerer physikalisch 
therapeutischer Anwendungen meist sehr günstig auf den Heilungsverlauf einwirkt 
besonders die Vornahme hyperämisierender Teilanwendungen — Dampfstrahl, 
Teil-Luft- und Lichtbäder, Fango- usw. Packungen vor der Massage und vor 
mediko-mechanischen Übungen ist durchweg ungemein förderlich; denn eine bessere 
Durchblutung der geschrumpften- und starren Sehnen, Kapseln, Bänder usw. gibt 
ihnen eine größere Dehnbarkeit und Nachgiebigkeit und setzt auch die Schmerz¬ 
haftigkeit, die bei der Vornahme der Massage und der aktiven und passiven Be¬ 
wegungen der Gelenke so besonders hinderlich ist, herab. 

Es erscheint deshalb von großem Wert, daß selbst auch mittlere Kranken¬ 
häuser, Sanatorien, Kur- und Badehäuser sich nicht nur auf ein oder das andere 
physikalische Heilmittel stützen, sondern eine möglichst große Auswahl von Bädern, 
Apparaten und Hilfsmitteln zur Behandlung chronischer Gelenkerkrankungen be¬ 
sitzen. Sind die Anschaffungskosten vielleicht auch nicht ganz gering, so dürfte 
doch die Zahl der die vorhandenen Hilfsmittel benutzenden Kranken von Mal zu 
Mal zunehmen und das aufgewendete Kapital verzinsen. Jedenfalls stellt die 
Behandlung der chronischen Arthritiden, so langwierig und schwierig sie auch ist, 
kein so ganz undankbares Feld der Tätigkeit für den erfahrenen Arzt dar, der in 
der Kombination der ihm zur Verfügung stehenden therapeutischen Mittel oft Er¬ 
folge zu erzielen vermag, auf die der Patient kaum noch zu hoffen wagte. 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 


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Berichte über Kongresse und Vereine. 


Waffenbrüderliche Vereinigungen Deutschlands und Österreich-Ungarns. 

1. Tagung der medizinischen Abteilungen vom 11. bis 13. Oktober 1917 in Baden b. Wien. 


III. 

Sitzung vom 12. Oktober 1917 nachmittags. 

Vorsitzender: Geheimrat Prof. Dr. Kümmell. 

Schriftführer: Dr. Thenen, Dr. v. Aufschnaiter. 

OStA. Prof. Dr. Spitzy (Wien): Chirurgische Nachbehandlung. An der Hand des 
großen Materials des „Orthopädischen Spitals und der Invalidenschulen 11 , in denen bisher über 
18 000 Fälle in Behandlung standen, werden die üblichen Nachbehandlungsarten erörtert und 
insbesondere die operativen Methoden hervorgehoben. Der Redner macht darauf aufmerksam, 
daß durch die schoirim Frieden ausgearbeiteten und jetzt durch das große Kriegsmaterial ver¬ 
tieften orthopädischen Operationsmethoden eine große Anzahl der der Nachbehandlung zu¬ 
geführten Patienten in viel kürzerer Zeit wieder dienst- oder arbeitsfähig gemacht werden 
können, als es durch andere Behandlungsmethoden möglich ist. Um diese Scheidung durchzu¬ 
führen, sind orthopädisch geschulte Ärzte notwendig und wird es die Aufgabe der Zukunft 
sein, der Heranbildung von jungen Ärzten in der funktionellen Behandlung und Nachbehandlung 
ein größeres Augenmerk zuzuwenden. Gegenwärtig suchte man sich damit zu helfen, daß man 
Ärzte in Kursen soweit notdürftig ansbildete, um dem gesteigerten Bedarf nachzukommen. 
Die t Durchbildung in Kursen, von denen im orthopädischen Spital bereits 10 gehalten wurden, 
(mit 119 teilnehmenden Ärzten und 22 Massagekurse mit 539 Pflegern und Pflegerinnen), kann 
naturgemäß keine umfassende sein und vermag die planmäßige Ausbildung von Fachorthopäden 
in keiner Weise zu ersetzen. Es ist deshalb notwendig, daß die Nachbchandlungsanstalten 
von einem Fachmann besichtigt und beraten werden, ähnlich wie in Deutschland jedem Armee¬ 
kommando Fachärzte als beratende Orthopäden zugeteilt sind. Diesen würde es dann obliegen, 
den leitenden Ärzten helfend zur Seite zu stehen, mit ihnen das Material zu sichten und die 
Behandlung zu einer einheitlichen und den modernen Grundsätzen entsprechenden zu gestalten. 

Das Material gliedert sich den Hauptgruppen nach in Kontrakturen, Lähmungen, 
Amputationen und Knochendeformitäten, von welchen jede Gruppe ihrer gesonderten 
Spezialbehandlung bedarf. 

Der Redner greift aus dem Ganzen hauptsächlich die operative Behandlung heraus und 
demonstriert an der Hand von Tabellen Zahl und Ergebnisse der verschiedenen Operations¬ 
arten, wie sie zur Behebung der einzelnen Krankheitsformen notwendig sind. Falsche 
Stellungen der Gelenke beanspruchen häufig einen operativen Eingriff, sei es, daß dieser 
Wiederherstellung von knöchern verwachsenen Gelenken, in der Entfernung von knöchernen 
Widerständen, in der Durcbtrennung oder Verlängerung von verkürzten Weichteilen, Muskeln 
oder Sehnen oder in der jetzt mit großem Erfolg durchgeführten Transplantation von 
Sehnen besteht. Auch die Nervenverletzungen (Lähmungen) sollen in erster Linie operativ 
angegangen werden, da die Prozentzahlen der Heilung hohe sind und die damit erzielten 
Resultate in jeder Beziehung zufriedenstellen. Aber auch jene Fälle, bei welchen durch 
Nervennähte, Nervenlösungen kein Resultat zu erreichen ist, können durch Sehnen- und in 
manchen Fällen durch Knochenoperationen brauchbare Gliedmaßen erlangen. Auch bei Am¬ 
putationen sind in sehr vielen Fällen nachfolgende Verbesserungen nötig, um den Stumpf 
bewegungs- und belastungsfähig zu machen. Den größten Fortschritt verzeichnen wir mit der 
Verwendung der Muskelreste am Stumpfe; sei es, daß dies durch die im orthopädischen Spital 
Zeluchr. f. physik. u. diät Therapie Bd. XXII. Heft 12. 3*2 


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übliche Methode der „Muskelunterfütterung“ oder durch die bekannten Methoden Sau erbrach» 
oder Vanghettis ausgeführt wird, immer bandelt es sich darum, die noch lebensfähigen 
Muskelreste unmittelbar mit einer technisch gutdurchdachten Prothese zu einer Art lebendiger 
Maschine zu verbinden. Knochendeformitäten, schlecht oder nicht geheilte Knochen, müssen 
durch Osteotomien oder Pseudarthrosenoperationen wieder gebrauchsfähig gemacht werden* 
Diese Operationen geben funktionell bessere Resultate als die besten Apparate, mit denen doch 
nur eine viel geringere Arbeitsfähigkeit erlangt werden kann. 

Nach Ausscheidung der operativen Fälle bleibt natürlich immer noch der weitaus größere 
Teil für die übrigen Heilmethoden. Die Erfahrungen, die an der Hand des großen Materials 
gemacht wurden, zwingen zu folgenden Schlüssen: Für die ambulatorische mediko-mecbanische 
Behandlung eignen sich von den Kontrakturen nur ungefähr 20%, leichte Geldnksversteifungen, 
die einer ein- oder mehrmaligen zanderähnlichen Behandlung, verbunden mit Massage, weichen. 
Alle übrigen benötigen eine Dauerbehandlung, und zwar muß für diese Fälle der ganze Tag 
für die Behandlung eingeteilt werden, Dauhrapparate müssen stundenweise getragen werden, 
wechselnd mit medikomechanischer Behandlung, aktivem Turnen und der vom Redner einge¬ 
führten Arbeitstherapie. Durch die Betätigung in der gewohnten Arbeit gelingt es viel rascher. 
Bewegungsbehinderungen zu überwinden, die der sonstigen Behandlung getrotzt haben. 
Besonders handelt es sich hier um Reste von Bewegungsbehinderungen, die auch nach 
* sorgfältiger ärztlicher Behandlung noch bleiben. Deshalb werden im Spital, sobald es die 
ärztliche Behandlung gestattet, Arbeitstherapie und Beschäftigung in den einzelnen Gewerben 
der Invalidenschulen zwischen die Behandlungszeit eingeschaltet. Andererseits wird eine große 
Anzahl, über 400, in Außenbetriebe eingestellt, um an ihren gewohnten Arbeitstischen in der 
Arbeitseinteilung der Fabrik diese Krankheitsreste zu überwinden und gleich produktive Ar¬ 
beit zu leisten. Andere werden, wenn sie bereits arbeitsfähig sind, der Volkswirtschaft 
zurückgegeben und auf längere oder kürzere Zeit rückbeurlaubt. Die damit gewonnenen Re¬ 
sultate sind ausgezeichnete. Gerade durch die Arbeit in der gewohnten häuslichen Umgebung 
und der ihnen zusagenden Arbeitsart wird am ehesten und raschesten die bei den vorliegenden 
anatomischen Verhältnissen höchstmöglichste Arbeitsfähigkeit erlangt. 

Aussprache: OA. Dr. Viktor Hecht (Wien) berichtete aus dem Vereinsreservespital 
Nr. 4 in Wien über die Vorteile der frühzeitigen orthopädischen Nachbehandlung. 
An der Hand sehr instruktiver graphischer Darstellungen wies Hecht nach, daß aus einem 
Material von 2000 Verwundeten, von den Fällen, die ein Monat nach der Verwundung 
zur Nachbehandlung kamen, dreiviertel derselben geheilt wurden; bei einem Intervall 
zwischen Verwundung und Nachbehandlung unter vier Monaten betrug die Zahl der Geheilten 
die Hälfte der Fälle, während bei den übrigen, erst später behandelten Fällen nur etwa ein 
Drittel der Fälle geheilt werden konnte. Da bei entsprechender Vorsicht jede Schädigung des 
Kranken vermieden werden kann, so ergibt sich die dringende Forderung, die an den Extremi¬ 
täten Verletzten in den ersten 4 bis 7 Wochen nach der Verletzung den orthopädischen Spezial- 
anstalten zur orthopädischen und physikalisch-therapeutischen Nachbehandlung zuzuführen. Durch 
die frühzeitige Nachbehandlung werden nicht nur außerordentliche Vorteile für die Kriegs¬ 
beschädigten selbst erzielt, sondern auch enorme Ersparnisse an Mühe, Zeit und Verpflegs- 
geldern erreicht und so im allgemeinen die militärische und soziale Wehrkraft erhöht 

Regierungsrat Dr. Arthur Loebel (Dorna Watra): Die Erörterungsangelegenheit der 
chirurgischen Nachbehandlung während der heutigen Tagung der waffenbrüderlichen Ver¬ 
einigungen bietet mir den willkommenen Anlaß, die einschlägigen Beobachtungen aus der Ar¬ 
beitsstätte der schwedischen Sanitätsmission im k. u. k. Reservespital Nr. 15 mitzuteilen, 
weil die erzielten Behandlungsergebnisse wie die Kürze der Verpflegsdauer ebenso 
weitere Verbreitung beanspruchen als die therapeutischen und statistischen Wandlungen, deren 
allfällige Nachprüfungen nur unter den günstigen Vorbedingungen der Kriegsperiode die gleichen 
ätiologischen, konstitutionellen und sozialen Voraussetzungen, beziehungsweise die gleichen 
Behandlungsvorkehrungen vorfindet. Die Organisation, die 68 Militär-, Marine-, akademische 
und Zivilchirurgen des neutralen Nordreiches während ihrer 2 jährigen Betätigungsperiode 
in turnusmäßiger 5- bis 6 wöchentlicher Ablösung versammelt hatte, zwang der ärztlichen 
Leitung des Filialspitals, welches zur orthopädischen Nachbehandlungsstätte bestimmt und auch 
als chirurgische Nachheilungsstelle eingerichtet war, noch überdies Evakuationsaufgaben auf. 


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Vom Gesamtkrankenzugange der Sanitätsanstalt wurden der Filialbehandlung überwiesen 
63,68 %, hierunter 19,55 % Komplikationen mit Knochenbrüchen. 40 % der chirurgischen Fälle 
kamen zur orthopädischen Nachbehandlung. Geheilt und als felddiensttauglich wurden aus 
dieser Gruppe 80 % rekonvalesziert, 14,85 % mit Snperarbitrierungsanträgen zum Hilfs¬ 
dienste geeignet den Ersatzkörpern zurückgeschickt. Und zwar: 46,09% unter 30-, 23,80% 
unter 45-, 10,94%, unter 60-, 10,49%, unter 90- und 6,27% unter 120 tägiger Bebandlungs- 
dauer. Bloß 2,74% verblieben darüber hinaus. Der durch das Evakuationsgebot diktierten 
Verkürzung der Verpflegsdauer verdanken wir vor allem die Anregung zur Verfrühung des 
orthopädischen Nachbehandlungsbeginnes, wozu uns die Lehren über die Degen6ra- 
tionsvorgänge ermutigten, welche rücksichtlich der Vitalenergien im Nerven- und Muskelsystem 
nach Verwundungen sogar schon nach 10 bis 15 Tagen Entartungszustände verursachen, die 
nur mehr Entscheidungen über Krüppelschicksale offen lassen. Hinwiederum wissen wir, daß 
die Regenerationsprozesse der spezifischen Organzellen gleichzeitig mit der Wucherung des 
Granulationsgewebes in Erscheinung treten und gerade den Hemmnissen seitens der Stützgewebe 
begegnen, hierbei jedoch behufs Wiedergewinnung ihrer vorbestimmten Normalfunktionen vom 
zeitgemäßen Eingriffe adäquater Anreize begünstigt werden. Besonderen Vorschub leistete uns 
hierbei die Nachbarlage der beiden, in modernen Doppelschulgebäuden untergebrachten Spitäler 
wegen der kurzen Fünfminutenentfernung bei fast gleich hohem Bettbelag, weil dadurch die 
Übergänge von der Wund- und operativen Behandlung des Hauptspitals in die chirurgische 
Nachbeilung und orthopädische Nachbehandlung, beziehungsweise in die Verschmelzung beider 
Kurmethoden im Filialspital und zur endlichen Absonderung der aussichtsvolleren von den 
individualisierungsbedürftigeren Verwundeten förmlich automatisch abgewickelt werden konnten; 
nicht minder auch noch der harmonische Zusammenschluß zwischen den chirurgischen mit dem 
orthopädischen Mitarbeiter und der verdienstliche Wetteifer zwischen den schwedischen und 
den vom k. u. k. Ackerbauministerium zugewiesenen Dorner Gymnasiastinnen. 

Das Bestreben nach einer Kürzung der Nachbehandlungsdauer wurde geweckt 
durch die Tatsachen, daß bei Muskelschwielen schon nach 5 bis 6 Wochen quergesteifte 
Muskelfasern mit voller Kontraktilität und vollendeter Willensabhängigkeit festgestellt werden, 
die Umformung neuer Gefäßbahnen noch ungleich rascher sich vollzieht und bloß die Neu¬ 
bildung junger Nervenfasern als Minimum 3 Monate erfordert. 

Auch bewährten sich die üblichen 4 Kurbehelfe der Kontrakturenbehandlung als Spezial¬ 
heilmittel für die Auslösung und Förderung der Regenerationsantriebe in den 4 verletzten Ge- 
webssystemen unserer Bewegungsorgane, und zwar: die Elektrizität als souveränes Nerven-, die 
Massage als formatives Gefäßmittel sowie die Gymnastik als eigengeartete Muskeldehnungs-, 
beziehungsweise die Wärme als untrügliche NarbenerweichungBtherapie, insofern sie beim Ersätze 
der durch Verwundungen hervorgerufenen Substanzverluste im Granulationsgewebe bereits die 
den vorbestimmten Vitalenergien dienenden spezifischen Organzellen differenzieren und entwickeln. 

Bestimmend wurden aber erst für die Fristkürzung der Behandlungsmethode die Lehr- 
und Grundsätze der Balneo-, Mechano- und Hydrotherapeuten, welche durch die systematische 
Aneinanderreihung und Verschmelzung kurzbemessener Reize eine Vertiefung der Nach¬ 
wirkungen jeder Einzelprozedur, wie das lawinenartige Anschwellen der Heilwirkungen im Ver¬ 
laufe einer ganzen Kurperiode einzuleiten vermögen. Die Übertragung dieser Erkenntnisse 
und Erfahrungen auf die chirurgische Nachbehandlung erwies sich nutzbringend, und sie wird 
vollends aufgeklärt durch die Lehre Tigerstedts von der charakteristischen Eigentümlichkeit 
des lebendigen Protoplasmas, Reizwirkungen zu akkumulieren, und von der Eigenart der 
Muskelenergien, ihr Leistungsmaximum nur dann zu verstärken, sobald die neuerlichen Anreize 
vor Aufhören der anfänglichen Kontraktion angreifen. 

Die ausführlicheren Einzelheiten dieser Nachbehandlungsweise sind als „Beitrag zur kon¬ 
servativen Kriegsorthopädie* in den diesjährigen Märznummem der klinisch-therap. Wochen¬ 
schrift veröffentlicht worden, während die Bemerkungen zur Orientierung „über die Statistik 
der Kriegskontrakturen* für den 12. Juni als Schlußvortrag auf den von unserem heutigen Re¬ 
ferenten eingeführten Wiener Referierabenden der Nachbehandlung angesetzt waren, mit den 
zwei letzten gegenständlichen Regionalberichten zufolge der Temperaturwidrigkeiten dieses 
Sommers wie der inzwischen eingetretenen Universitätsferien für die Herbstsaison aufgeschoben 
wurden und in dieser Wochenschrift zum Abdruck gelangen werden. 

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RA. Dr. Jerusalem (Wien) tritt gleichfalls für die Frühoperationen verletzter Nerven 
ein, will jedoch die Notwendigkeit einer rationellen Vorbehandlung besonders hervorheben, da 
aus Gründen der Asepsis doch meist längere Zeit bis zur Operation verstreicht Die Vorbe¬ 
handlung hat vor allem den Zweck, die Überdebnung der gelähmten Muskeln zu verhindern, 
was durch einfache, leicht improvisierbare Schienen oder Klebeverbände geschehen kann. 
Keinesfalls dürfen jedoch die Bewegungen der intakten Muskeln durch solche Verbände be¬ 
hindert werden. 

Die mechanische und Elektrotherapie nach der Operation soll mit Liebe und Sorgfalt 
und unter steter ärztlicher Überwachung erfolgen und keineswegs ungescbultem Hilfspersonal 
überlassen werden. Im allgemeinen müssen wir ehrlich gestehen, daß die Heilresultate bei 
Nervenverletzungen keine idealen sind. Heute — nach mehr als dreijähriger Kriegsdauer — 
verfügen wir fast nur über Besserungen, wirkliche vollkommene Heilungen gehören zu den Ans¬ 
nahmen. Vielleicht wird es bei intensiverer Schulung und technischer Vervollkommnung aller 
beteiligten Faktoren gelingen, die Endresultate, wenn nicht zu idealen, so doch zu befriedigenden 
zu gestalten. 

Primarius Dr. Reimanü (Baden bei Wien) bespricht die Fälle von Kontrakturen, die teils 
hysterischer Natur sind, teils durch absichtliches Steifhalten der Gelenke hervorgerufen werden. 
Zur Differentialdiagnose dieser Fälle genügt es, wenn das Röntgenbild keine wesentlichen 
Veränderungen ergibt, die als Ursache der Versteifung gelten können. Die Patienten sind in 
leichte Narkose zu bringen, worauf dann ohne Mühe in einer Sitzung die Gelenke mobil gemacht 
werden können und man den Patienten noch im Rauschzustände vom Tisch herabsteigen und 
gehen läßt. Die Hysterischen danken stürmisch für die Heilung; die andern erkennen bedauernd, 
daß sie geheilt sind. 

Dr. Oskar Stracker (Wien): Zur Indikation der chirurgischen Behandlung 
nicht pfothesenreifer Stümpfe. Von den unserem Spital übergebenen Beinamputierten 
besitzen rund 10 % keinen prothesenreifen Stumpf. So waren wir beispielsweise von Februar 
bis September gezwungen, an 60 Patienten stumpfkorrigierende Operationen vorzunehmen. Um 
die Gesamtzahl der nicht prothesenfähigen Beinamputierten zu erhalten, müßten aber noch jene 
hinzugezählt werden, die eine Operation verweigerten. Welche Indikationen gaben uns nun 
Anlaß zu operativen Maßnahmen? Die meisten lassen sich unter der Kennzeichnung „nicht¬ 
belastungsfähig“ zusammenfassen. 

Die nicht prothesenreifen Stümpfe können entweder verheilt sein oder noch Wunden 
besitzen. Bei den verheilten waren folgende Ursachen Anlaß zu Operationen Schmerzhafte 
Neurome, besonders des N. ischiadicus; ferner ungeeignete Form der Knochenenden, zum Bei¬ 
spiel Vorstehen der Fibula über das Niveau der Tibia; eine scharfe Tibiakanto usw. Exostosen 
der Knochenenden waren dagegen nur selten Anlaß zur Entfernung. Bei den noch mit Wunden 
behafteten Stümpfen gaben die Verhältnisse der Haut an der Stumpffläche einerseits und 
Fisteln andererseits die Indikation zu Eingriffen. In einer größeren Anzahl von Fällen war die 
ganze Stumpffläche eine Granulationsfläche, aus der der Knochen mehr oder weniger hervorsah. 
Bei diesen Fällen war es manchmal, besonders in der letzten Zeit, möglich, die Wundfläche 
durch einen vorhandenen Hautrest ohhe Knochenkürzung zu decken. Ein späteres Stadium der 
Stümpfe mit diesen großen Stumpfflächon bilden jene, die nur mit einem bläulichen Epithel 
überzogen Bind, dem das Subkutangewebe mangelt. In der Regel findet man bei diesen im 
Zentrum ein chronisches Geschwür, das durch mechanische Inanspruchnahme, durch Temperatur¬ 
einflüsse oder schließlich durch schlechte Ernährung allein schon entstanden ist und auch er¬ 
halten wird. Bei den Fisteln, die die Indikation zu Eingriffen abgaben, konnten wir als Ur¬ 
sachen vor allem Fremdkörper beobachten. So sahen wir Seidenfäden wochenlang eine 
Eiterung unterhalten. Wir unterbinden deshalb bei lieamputationen mit Ausnahme der größeren 
Gefäße alles mit Katgut. Es scheint die mechanische Inanspruchnahme den Fremdkörperreiz 
zu verstärken. Weiter wurden Geschoß- und Knochensplitter extrahiert. Von den letzten 
seien besonders die Kronensequester erwähnt. Sie stellen das untere Ende des Knochen- 
stumpfes und zwar die Kortikalis dar. Anlaß zu ihrer Bildung dürfte zu hohes Auslöffeln 
des Markes und zu weites Zurückschieben des Periostes sein. Ferner wurden Fisteln durch 
Osteomyelitis des Knochenstumpfes unterhalten. Schließlich bestand in einzelnen Fällen 
beträchtliche Eiterung ohne erkennbaren Grund. Es waren große Wundhöhlen vorhanden, die 


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ein dünnes, säuerlich riechendes Sekret absonderten. Im Anfänge mühten wir uns vielfach 
mit konservativen Maßnahmen ab: es zeigte sich jedoch, daß hierbei die Prognose sowohl 
quoad sanationem als auch in bezug auf Prothesengebrauch eine schlechte war. Wir gehen 
jetzt daher sobald als möglich operativ vor und nach unserer Ansicht ist es unzukömmlich, 
solche Patienten monatelang ohne eingreifende Therapie in den Spitälern oftmals sogar bett¬ 
lägerig zu lassen; dies bedeutet ja einen Verlust an Zeit, an Körperkraft und auch an Ver- 
pflegsgeldern. Ist es uns doch vielfach gelungen, Patienten, die monatelang mit der Krücke 
gegangen sind, innerhalb 14 Tagen mit einer geschlossenen Prothese auf die Beine zu bringen. 
Die operative Behandlung bestand für die Neurome und für die Fälle piit hervorstehenden 
Rnochenenden natürlich in Entfernung dieser Gebilde. Bei den Fisteln war natürlich die Be¬ 
seitigung der Fremdkörper eine selbstverständliche Sache. Waren Knocheneiterungen die Ur¬ 
sache, so wurde der Knochen bis ins Gesunde abgetragen. Die Stümpfe mit Wundflächen 
werden einer Vorbehandlung unterzogen. Vorerst wird die Haitf durch Klebestofftrikotzüge 
möglichst weit über das Stumpfende herabgezogen, um bei der Abtragung des Knochens 
sparen zu können. Weiters wird die Wundfläche gereinigt Es gelingt dies in wenigen Tagen 
mit Dak in scher Lösung. Dies ist um so wichtiger wegen der so häufigen latenten Infektion. 
Die Operationsmetboden bestanden in Hauptplastiken und Keamputationen. Von ersteren 
wurde vorwiegend bei Unterschenkqlamputationen Gebrauch gemacht. Wir verwendeten, einen 
gestielten Lappen von der erhaltenen Wade. 

Im allgemeinen ist zu sagen, daß die Plastiken immer ein riskantes Unternehmen sind 
und daß die Wadenhaut wegen ihrer Gefäßanordnung geringe Eignung zur Hautplastik zeigt. 
Obwohl wir keinen ausgesprochenen Mißerfolg sahen, ziehen wir doch wegen der Sicherheit 
und des rascheren Verlaufes die Reamputation vor. Hierbei wird, um möglichst reine Wund- 
fläcben zu erzielen, die granulierende Stampffläche vorerst abgetragen. Über Vorschlag unseres 
Chefs wird bei Unterschenkelamputationen das Geschwür samt seiner Unterlage mit einseitigem 
Zirkelschnitt abgesetzt, um von der späteren Wunde die Gefahr einer Infektion fernzuhaltcn. 
Ein Vernähen der Haut ohne Abtragung des Knochens gelingt nur manchmal. 

Zu Thierschungen zwecks Vermeidung vQn Knochenkürzungen nehmen wir nie unsere 
Zuflucht, da wir wissen, daß eine solche Haut die Insulte der Belastung nicht verträgt. Die 
Absetznng des Knochens nahmen wir nach verschiedenen Methoden vor; die von Bunge zeigt 
für den Oberschenkel ausgezeichnete Resultate. Beim Unterschenkel machten wir Knochen¬ 
plastiken und Periostlappendeckungen. Bei ersteren wurde dem Knochendeckel bei leicht 
schräger Absetzung des Unterschenkelknochens mit gutem Erfolge Keilform gegeben. In ver¬ 
einzelten Fällen sahen wir bei guter Belastungsfähigkeit Schwellung der Stumpfenden. Die 
Periostdeckung wurde nach dem Vorschläge unseres Chefs in der Weise ausgeführt, daß von 
der vorderen Tibiafläche das Periost des abgetragenen Knochenteils über die Sägefläche genäht 
wurde. Die Erfolge hinsichtlich der Belastungsfähigkeit sind sehr gute. Immer bemühen wir 
uns, durch Vernähung der Sehnen und Muskeln über dem Knochen eine Deckung zu schaffen. 
Infolge der bereits genannten latenten Infektion kommt es manchmal vor, daß in einer Reihe 
per primam geheilten Fällen Eiterungen entstehen. Die hierbei resultierenden Distasen der 
Wundränder können nach Abklingen der Infektion mittels Sekundämähten verschlossen werden/ 
so daß eine vollkommen lineare Narbe entsteht Zur Annäherung der Wundränder kann auch 
nur eine zur rechten Zeit angewendete Klebestoffextension wichtige Dienste leisten. Unsere 
Erfolge berechtigen uns, die Forderung auszusprechen, nicht belastungsfähige Stümpfe 
möglichst bald und möglicht radikal anzugehen. 

Dr. Wilhelm Neutra (Baden bei Wien): Mit dem Studium der Gangstörungen bei 
Kriegsteilnehmern beschäftigt, konnte ich 5 Gruppen feststellen, von denen 2 allgemein bekannt 
sind, 2 weniger Gemeingut sind und eine wohl sehr häufig beobachtet, aber gewöhnlich un¬ 
richtig beurteilt wird. Die ersteren sind das Hinken durch organische Erkrankungen, Rheuma¬ 
tismus, Schußverletzungen, Knochenbrüche usw. und das rein simulierte Hinken. Die 3. Gruppe 
sind die rein hysterischen Gangstörungen; die 4. Gruppe ist durch die Kombination von 
organischer Erkrankung und Hysterie bedingt. Ich will hier nur die ö. Gruppe kurz besprechen. 
Es gibt zahlreiche Fälle, die zum Beispiel nach einer Schnßfraktur, obwohl diese schon längst 
geheilt ist, nicht ohne Stock gehen können. Ich habe nun bei einer Reihe solcher Fälle selbst 
bei genauester Untersuchung sowohl die Simulation als auch die Hysterie ausschließen können. 


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Heferate über Bücher und Aufsätze. 


Man glaubt gewöhnlich, daß durch den langdauernden Gipsverband die Gangstörung auf 
Muskelatrophie beruhe, oder daß das Individuum das Gehen einfach verlernt habe. Ich glaube 
nun, daß diese Gangstörung nur psychologisch zu fassen sei, und zwar nicht durch den Me* 
chanismus des Verlernens. 

Die Technik des normalen Gehens ist den wenigsten Menschen bekannt und ist nur 
unterbewußt erlernt. Es ist ein Zusammen- und Nacheinanderspielen nicht nur der Beinmuskeln, 
sondern fast der gesamten Körpermuskulatur. Es bedarf also einer guten psychischen Taktik, 
um richtig zu gehen. Diese Taktik ist mechanisiert und, da sie nie bewußt erlernt wurde, 
kann sie nun, wenn in dem genannten Beispiele die Fraktur tragfähig konsolidiert ist und 
größere oder kleinere Änderungen der Gangbedingungen eingetreten sind, nicht mehr so ange¬ 
wendet werden, wie sie vor der Fraktur psychisch fixiert war. Der Patient sucht nun unwill¬ 
kürlich nach einer brauchbaren Modifizierung seiner bisher gewohnten-Taktik und in der Un¬ 
kenntnis der Balancefaktoren, der zum möglichst normalen Gange notwendigen Hüften-, Rumpf-, 
Schulter- und Armbewegungen findet er sich gewöhnlich eine recht unpraktische Taktik, die 
ich Dystaktik oder psychische Ataxie nennen möchte. Es ist also kein Verlernen 
der Gangmecbanik, sondern ein Suchen einer den nun gegebenen Verhältnissen 
angepaßten Gangtechnik in falscher Richtung. 

In solchen Fällen können natürlich Bäder, Massagen, Zandern usw., aher auch die Be¬ 
handlungsmethoden gegen die Hysterie, die schockerzeugende Faradisation, die Hypnose usw. 
keinen Erfolg haben. Dagegen erzielt man, wie ich mich vielfach überzeugt habe, durch theo¬ 
retische, in die Details der Balance, der Bein-, Rumpf- und Armbewegungen gehende Aufklärung 
über die richtige Gangmechanik, verbunden mit den entsprechenden praktischen Übungen, am 
besten auf dem Frenkelschen Gehteppisch, oft in wenigen Tagen sogar bei solchen Fällen 
einen vollen Erfolg, wo monatelang durchgeführte, andere therapeutische Maßnahmen keinerlei 
Besserung gezeitigt haben. Auch die noch bestehenden Schmerzen, die oft durch die der 
Dystaktik entspringende und für die richtige Gangmechanik unnötige Überbelastung einzelner 
Muskeln und* Bänder hervorgerufen werden, habe ich durch diese Art Behandlung, die psy¬ 
chische Ataxiegymnastik, verschwinden gesehen. 


Referate über Bücher und Aufsätze. 


A. Diätetisches (Ernährungstherapie). 

Fritz Mauerhofer (Bern), Die sekreto¬ 
rische Innervation der Niere. Zeitschr. f. 
Biol. 1917. Bd. 68. H. 1, 2. 

Versuche des Verfassers, den Einfluß der 
Vagusreizung beim Kaninchen auf Harn¬ 
menge, Elektrolytausscheidung und [H.]-Kon- 
zentration sowie den Einfluß der Entnervung 
bei der Kaninchenniere festzustellen, ergaben 
folgendes: Vergleich der Diurese einer Niere 
vor und nach Vagusdurchschneidung gegen¬ 
über einer entnervten Niere als Kontrollorgan, 
wies auf fördernden Einfluß des Vagus hin. 
Es zeigte sich Vermehrung der Wasseraus- 
scheidung und der absolut ausgeschiedenen 
Elektrolyt- und [H]-Mengen. Eine total ent¬ 
nervte Niere schied gegenüber einer normalen 


reichlicheren Harn ab und zwar sozusagen in 

allen Fällen, in denen die Vagi durchtrennt 

waren, weniger oft, wenn sie erhalten waren. 

Der Harn der stärker sezernierenden Niere 

zeigte meist geringere Leitfähigkeit, der 

- . Widerstand in Ohm .... . , 

Quotient -n-verhielt sich 

Harnmenge pro 10 

umgekehrt wie die Harnmenge. Auch die 
absolut ausgeschiedene [H ]-Menge ging der 
Wasserdiurese bei normaler und entnervter 
Niere ziemlich parallel. Die [Hj-Konzentration 
einer normalen Niere war gegenüber derjenigen 
einer total entnervten meist größer und verlief 
gewöhnlich der Elektrolytausscheidung nicht 
parallel, weder bei normalen noch bei ent¬ 
nervten Nieren. Zu- und Abnahme des intra¬ 
venösen Einlaufs änderte die Diurese der nor¬ 
malen Niere in höherem Maße, als diejenige 


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Referate über Bücher und Aufsätze. 


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der total entnervten. Dies trat auch noch nach 
Durchschneidung der Vagi ein. 

Roemheld (Homegg a. N.> 


W* H. Jansen (München), Untersuchungen 
über Stickstoffbilanz bei kalorienarmer 
Ernährung* Deutsch. Arch. f. klin. Med. 1917. 
Bd. 124. H. 1—2. 

Stickstoffbilanzversuche über Perioden von 
<6 bis 31 Tagen wurden vom März bis Mai 
1917 an 13 Personen verschiedenen Alters und 
Geschlechts unter denselben Lebens- und Er? 
nährungsbedingungen angestellt. Bei sämt¬ 
lichen Versuchspersonen, die ein Durchschnitts¬ 
gewicht von 62,1 kg aufwiesen, war eine Er¬ 
nährung, die 1600 Kalorien und 60,5 g Eiweiß 
pro Tag enthielt, nicht ausreichend, um das 
Körpergewicht und den Eiweißbestand zu er¬ 
halten, sondern es waren eine durchschnittliche 
Körpergewicbtsabnahme von 0,28 kg und ein 
•durchschnittlicher Eiweißverlust von 11,77 g 
pro Tag eingetreten. 

Eine Zulage von 500 Kalorien in der Form 
von Kohlehydraten genügte, um Eiweiß- und 
Körpergleichgewicht zu erreichen. 

Eine weitere Verminderung der Kalorien¬ 
zufuhr in Form von Kohlehydratentziehung 
ließ das Stickstoffdefizit noch bedeutender an- 
eteigen, dagegen trat keine weitere Steigerung 
•des Gewichtsverlustes ein. 

Marschleistungen, welche bei vollernährten 
Männern noch keineswegs als eine größere 
Anstrengung zu betrachten gewesen wären • 
riefen bei den durch eine länger dauernde, 
gewisse Ernährungsbeschränkung in einem ge¬ 
wissen Unterernährungszustand befindlichen In¬ 
dividuen eine ungewöhnliche Erschöpfung her¬ 
vor, die sich noch nach 12 Stunden in einem 
ungewöhnlichen Verhalten der respiratorischen 
Werte äußerte. 

Eine Kalorienmenge von 2100 reicht 
.also bei einem N-Gehalt der Nahrung 
von 9,7 g = Eiweißgehalt von 60,5 g 
ans, um das Körper- und Eiweißgleich¬ 
gewicht zu erhalten. 

J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf). 


6. Klemperer (Berlin), Kriegslehren für 
die Ernährung der Diabetiker* Ther. d. 
Gegenwart. 1918. März. 

Der Diabetiker braucht mittlere Eiweiß- 
mengen, viel Fett, sehr wenig Kohlehydrat, 
die Kriegsernährung bietet ihm aber wenig 
Eiweiß, sehr wenig Fett, viel Kohlehydrat. 
Wie hat sich nun der Diabetiker mit diesem 


anscheinend unzweckmäßigen Ernährungsbe¬ 
dingungen abgefunden? 

Die leichten Fälle, die im-Frieden zu 
einer Fleischfettnahrung 100 bis 150 g Brot 
vertrugen, haben im Krieg vielfach ihren 
Zucker ganz verloren, was auch schon von Albu 
beobachtet wurde. Die knappe Kost hat dem 
Diabetiker gut getan. Leichte Diabetiker 
haben häufig im dritten und vierten Kriegs¬ 
jahr eine beträchtliche Besserung der Zucker¬ 
assimilation erzielt. Die Gründe dafür liegen 
einmal in der bekannten Erfahrung, daß der 
leichte Diabetiker die Kohlehydrate in gewisser 
Mengen um so reichlicher ausnützt, je weniger 
Nahrung8stoffe er im ganzen zu sich nimmt, 
was auch nach der N aan yn sehen Lehre 
theoretisch gut zu erklären ist. Von dem 
übermäßig fetten Diabetiker war es auch in 
Friedenszeiten bekannt, daß er bei starker 
Fetteinbuße oft seine Glykosurie verliert; die 
Abmagerung im Kriege hat solche Patienten 
geheilt. Andere, schon hochgradig abgemagerte 
Kranke haben ihre Glykosurie behalten, weil 
ein gewisser Kräftezustand gewahrt bleiben 
muß, um die Fähigkeit zur Zuckerzersetzung 
zn gewährleisten. — Günstig wirkte ferner die 
besondere Beschaffenheit des Kriegsbrotes, 
welches reich an Kleie und Sauerteig, durch 
seinen hohen Gehalt an Zellulose und Butter 
säurebaziilen zu starken Gärungen führt, die 
eine abnorme Zersetzung der Brotstärke zu¬ 
stande kommen läßt. Die Zersetzungsprodukte 
entgehen entweder überhaupt der Resorption 
oder werden in einer für den diabetischen 
Organismus leichter als Traubenzucker zer- 
setzlichen Form resorbiert. Die Vorgänge 
wären also ähnlich denen bei der Noorden- 
-sehen Haferkur. — Unterstützend wirkt noch 
die größere Alkaleszenz der Körpersäfte, 
die von dem Mangel an Eiweiß und der reich¬ 
lichen Zufuhr von Vegetabilien herrührt und 
sich oft in der alkalischen Reaktion des Urins 
äußert. Auch die Trinkkuren in Karlsbad 
und Neueuahr führen durch stärkere Al¬ 
kalisierung zur Verringerung der Glykosurie, 
woran Klemperes gegenüber Noorden fest¬ 
hält. — Auch die erhöhte Flüssigkeits- 
zufuhr der Kriegskost mit ihrem hohen 
Wassergehalt wirkt befördernd auf den Zucker¬ 
umsatz; ebenso die erhöhte Salzzufuhr, wie sie 
in der Kleie und den Vegetabilien gegeben ist. 

Bei den mittelschweren Fällen, die 
nur 30 bis 50 g Kohlehydrat ohne Glykosurie 
vertrugen, ist für die Verbesserung der Zucker¬ 
zersetzung unbedingt Schonung durch Ent- 


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Referate über Bücher und Aufsätze. 


Ziehung der Kohlehydrate erforderlich. Diese 
müssen aber, soweit sie fehlen, durch Fett er¬ 
setzt werden. Eine zeitweise Nahrungsver- 
minderung kann aber auch für diese Kranken 
nützlich sein, sie darf nur nicht zur chronischen 
Unterernährung führen. In diesem Sinne ist 
auch hier das Kriegsbrot als nützlich anzusehen; 
auch die anderen oben erwähnten Faktoren 
sprechen hier mit. Für diese Kategorie war 
von den Gesundheitsbebörden 100 g Fett pro 
Tag bewilligt. Die Statistik zeigt, daß von 
diesen mittelschweren Diabetikern im Krieg 
qicht mehr sterben als vor dem Krieg. 

Die schweren, stets acidosegefährdeten 
Fälle sind durch die Kriegsernährung besser 
gestellt. Der Kohlehydratüberschuß ist für sie 
weniger gefährlich, die Eiweißarmut ist ihnen 
nützlich, die Alkalisierung besonders wertvoll, 
die zeitweise Abstinenz von Vorteil. Einiger¬ 
maßen hinreichende Fettmengen vorausgesetzt, 
müßte die Kriegsernährung für die schweren 
Diabetiker geradezu lebensverlängernd wirken. 
Die offizielle Statistik der Berliner städtischen 
Krankenhäuser ergibt dann auch, daß die Mor¬ 
talität dieser Kategorie im Krieg keineswegs 
gestiegen ist. W. Alexander (Berlin). 


£• Salkowski, Notiz über den Fettgehalt 
der menschlichen Gallensteine. Ztschr. f. 
physiol. Cbem. Bd. 100. S. 259. 

Vom Verfasser untersuchte Gallensteine 
enthielten kein Fett, sondern eine harzartige, 
in ihren Löslichkeitsverhältnissen dem Fett sich 
ähnlich verhaltende Substanz. 

Walter Brieger (Berlin). 


B. Hydro-, Balneo- und Klimato- 
therapie. 

W. Hellpach (Karlsrahe), Die geopsychi- 
schen Erscheinongen. Wetter, Klima und 
Landschaft in ihrem Einfluß auf das Seelen¬ 
leben. 2. Auflage. Leipzig 1917. W. Engel¬ 
mann. 489 Seiten 

Hellpachs Buch erregte bei seinem Er¬ 
scheinen insofern mit Recht* Aufsehen, als es 
zum ersten Male einen Versuch darstellt, die 
bisher mit viel Mystik umkleideten geopsychi- 
schen Erscheinungen auf exakte naturwissen¬ 
schaftliche Grundlage zu stellen, soweit sie 
bei dem derzeitigen Stande des Wissens zu 
geben ist. Daß dieser Versuch vollauf gelungen 
ist, zeigt das Notwendigwerden der 2. Auflage 
schon nach einem Jahr, das Erscheinen wurde 
nur durch den Krieg verzögert. Eine Inhalts¬ 


angabe kann im Referat auch in großen Um¬ 
rissen nicht gegeben werden: alle Zusammen¬ 
hänge des Wetters, des Klimas und der Land¬ 
schaft mit dem Seelenleben werden ab ovo 
beleuchtet und die Erfahrungstatsachen mit 
den physikalischen, chemischen usw. Vorgängen 
in Einklang gebracht Von neuen Kapiteln 
sind dazugekommen: „Erklärung der Wetter¬ 
wirkung“, „Das Klima als seelisches Erholungs¬ 
mittel“ und „Die Erholungswerte der Land¬ 
schaft“. 

Die in glänzender Sprache aus allen Ge¬ 
bieten der Naturwissenschaften herangezogenen, 
natürlich vielfach noch unabgeschlossenen Dar¬ 
legungen müssen von jedem wissenschaftlich und 
praktisch arbeitenden Arzte gelesen werden, 
haben sie doch neben großen theoretischem 
Interesse unmittelbaren Einfluß auf die klinische 
Erkenntnis und praktische Therapie, indem 
gerade sie vielfach Erscheinungen unseiem 
Verständnis näher bringen, die mit klinischen 
Methoden noch nicht exakt zu erfassen sind. 

Ein hervorragendes Buch! 

W. Alexander (Berlin). 


C. Gymnastik, Massage, Orthopädie 
und Apparatbehandlnng. 

Urtel, Znr Improvisation eines Cberdrnck- 
apparates. Medizin. Klinik 1918. S. 113. 

Die Improvisation des Druckdifferenz¬ 
apparates nach Jehn bereitet Schwierigkeiten, 
'da die luftdichtschließende Maske schwer zu 
beschaffen ist und die Einschaltung eines Nar¬ 
koseapparates Umstände macht. Bei Brust¬ 
wandschüssen mit schwerer Kontusion der an¬ 
liegenden Lungenteile u. dgl., die ein aktives 
Vorgehen nur unter Anwendung des Druck¬ 
differenzverfahrens ermöglichen, benutzt der 
Verfasser daher die in der Armee gebräuch¬ 
liche Gasmaske, die vermittels eines Einsatzes 
mit der Sauerstoffbombe in Verbindung steht. 
Der Sauerstoff streicht durch zwei mit Äther 
bzw. Chloroform gefüllte Flaschen in eine 
Trommel, kann aber auch direkt in diese ge¬ 
langen. Durch einen kegelförmigen Aufsatz 
mit Ventilklappe steht die Maske noch mit 
einer Wasserdruckskala in Verbindung. 

Nach Eintritt der Narkose kann die Nar¬ 
kosezuleitung abgestellt oder nach Belieben 
reguliert werden. Zugleich erhöbt man die 
Sauerstoffzuftihr und den Widerstand. Man 
kann alsdann die erforderlichen Operationen 
vornehmen. Zum Schluß ist die Lunge durch 
noch erhöhte Sauerstoffzufuhr ad maximum 


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483 


m erweitern nnd der Pneumothorax zu 
beließen. Der anzuwendende Maximaldruck 
beträgt 6 bis 7 mm Hg, eine weitere Erhöhung 
kt nur beim Schließen des Pneumathorax er- 
orderlich. Walter Brieger (Berlin). 


D. Elektro-, Lieht« und Röntgen¬ 
therapie. 

<ff. Schütze, Röntgenbeobachtang über 
fraktionelles Verhalten des Ösophagus. 

B. kl. W. 1917. Nr. 42. . 

Zwei Fälle von Cardiospasmus geben dem 
Verfasser Veranlassung auf die Bedeutung der 
Schirmdurchleuchtung hinzuweisen. Im ersten 
Falle zeigte sich stark rückläufige Peristaltik 
sowohl im unteren als auch im oberen Teile 
des Ösophagus; im zweiten Falle bestand be¬ 
sonders im oberen Drittel der Speiseröhre eine 
Verbreiterung von 10 cm im Querdurchmesser. 
Diese beiden Beobachtungen zeigen ferner die 
Abhängigkeit der Cardiafunktion von am Magen 
herrschenden Zuständen und lehren, daß in 
manchen Fällen von Ulcus des Magens als Aus¬ 
druck des sich erstellenden Vagotonus bzw. 
als Ausdruck des auf die Cardiaganglien aus¬ 
geübten Reizes leichte Cardiospasmen sich 
zeigen. L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). 


Louis Merlan (Zürich), Die Röntgen¬ 
therapie der Nagelerkrankungen. Korre¬ 
spondenzblatt f. Schweizer Ärzte 1917. Nr. 45. 
Auf Grund von 40 mit Erfolg behandelten 
Fällen von Onycbie, Tuberkulose, Ekzem nnd 
Psoriasis der Nägel empfiehlt Verfasser die 
Röntgentiefentherapie: (dorsale und ventrale 
Bestrahlung unter 3 mm Aluminium, je 3 H, 
9 Bauer). L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). 


Fritz Kaufmann (Mannheim), Zur Behand¬ 
lung der motorischen Kriegsneurosen. 

M. in. W. 1917. Nr. 47. 

Mit seinen neuen Ausführungen bezweckt 
Kaufmann, mit gewissen mißverständlichen 
Auslegungen seiner früheren Publikationen be¬ 
treffend die „elektrosuggestive Intensivbehand¬ 
lung“ der motorischen Kriegsneurosen, end- 
giltig anfzuräumen, sowie die wenigen 
Änderungen anzugeben, die sein Vorgehen im 
Laufe der Zeit in seinem Lazarett durch¬ 
gemacht hat. 

Kaufmann hat das Indikationsgebiet sehr 
erheblich begrenzt. Die Behandlung darf keines¬ 
falls vor Abklingen der nervösen Erschöpfungs¬ 
symptome einsetzen; bei frisch Erkrankten 


und bei von vornherein richtig behandelten 
Leuten ist sie unnötig, sie kommt vorwiegend 
bei veralteten Leiden in Frage. Auch bei 
veralteten Fällen ist das Verfahren kontraindi¬ 
ziert bei hochgradigem Erethismus, schweren, 
vasomotorischen Störungen, erheblicher explo¬ 
siver Diathese sowie ausgesprochenem Som¬ 
nambulismus. 

Nicht in den stärksten Strömen, nicht in 
der ständigen Applikation des elektrischen 
Stromes und nicht in der Art des Stromes er¬ 
blickt Kaufmann das Charakteristische der 
Behandlung, vielmehr in der nach gehöriger 
suggestiver Vorbereitung einsetzenden Kombi¬ 
nation der Anwendung empfindlicher und da¬ 
durch psychisch schockierender Ströme mit 
aktiven Übungen nach scharfem militärischem 
Kommando sowie in der konsequenten Durch¬ 
führung der Behandlung in einer Sitzung bis 
zur Erreichung des gewünschten Erfolges. 

Kaufmann geht bis zu den Stromstärken 
und zwar gradatim, die sich in dem betreffenden 
Falle zur Erzielung eines Suggestiverfolges 
jeweils für nötig erweisen. Sehr kräftige 
Ströme sind gewöhnlich nur dann notwendig, 
wenn die Kranken schon von anderer Seite 
ohne Erfolg elektrisiert worden sind. 

Man muß mit seiner ganzen Persönlichkeit 
bei der Heilung beteiligt sein, dann bleibt der 
Erfolg nicht aus, wenn er auch öfters erst 
nach l /a bis 1 bis mehrstündiger Bemühung 
eintritt. Selbstverständlich ist, daß die unter 
scharfem militärischen Kommando auszu¬ 
führenden Übungen jeweils mehr Zeit in An¬ 
spruch nehmen als das Elektrisieren. Das 
führte auch dazu, daß die Einzeldauer der 
elektrischen Applikation auf eine halbe bis 
eine Minute von 2 bis 5 reduziert wurde. 

Bezüglich verschleppter Tremores werden, 
seitdem kräftig tetanisierende Ströme auf die 
Nervenreizpunkte gesetzt werden, nur selten 
mehr als eine Viertelstunde, oft sogar weniger 
benötigt, und auch davon entfällt der Haupt¬ 
teil auf die Übungen. 

Die Notwendigkeit geeigneter suggestiver 
Vorbereitung leuchtet auch aus dem Grunde 
ein, weil der Kranke dabei seinen Arzt als 
wohlwollenden Vorgesetzten kennen lernen 
soll. Man kann seine Leute gütig behandeln 
und trotzdem auf strenges Innehalten der 
Formen sehen. 

Was die anzuwendende Stromart betrifft, 
so legt Kaufmann ausschließlich Wert darauf, 
einen, wenn nötig, intensiv schmerzenden Strom 
zu benutzen. Seit der Gildemeisterschen 


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Referate über Bücher und Aufsätze. 


Arbeit, nach welcher bei Erfüllung aller Vor¬ 
schriften, Erdschlußfreiheit usw. Herztod durch 
Fehler im Apparat eintreten kann, sieht er von 
Anwendung des Wechselstroms prinzipiell ab 
und beschränkt sich auf die Benutzung eines 
kräftigen Induktionsapparates. 

Weiterhin gibt Kaufmann sein Urteil 
über die anderen Behandlungsmethoden der 
Neurosen. Hervorzuheben ist, daß er nicht 
von Heilung der Hysterie spricht, sondern nur 
vom Schwinden der prägnanten Symptome. 
Mit der Beseitigung der hervorstechenden 
motorischen Symptome ist zum wenigsten der 
wichtige Erfolg erzielt, daß dem JLrankheits- 
gefühl ein wesentlicher Stützpunkt entzogen 
wird. Es handelt sich um Symptomheilungen, 
und jederzeit besteht die Möglichkeit der Re¬ 
zidive; aber das Rezidiv ist, wenn es auftritt, 
abgeschwächt, sowohl in bezug auf Intensität 
als auch auf Zeitdauer. Wichtig ist dafür der 
Kriegsministerialerlaß, daß die Kriegsneurotiker, 
soweit sie nicht sicher kriegsbraucbbar werden, 
unter Umgehung des Ersatztruppenteils direkt 
an die für sie bestimmte Arbeitsstelle bzw. 
in die Heimat zu entlassen sind. 

E. Tobias (Berlin). 


Friedrich Voltz (Nürnberg), Die sekun¬ 
dären Strahlungen der Röntgenstrahlen 
und der /-Strahlen der radioaktiven 8ub-. 
stanzen. Zentralbl. f. Röntgenstr. 1917. 
H. 11/12. 

1. Röntgenstrahlen entstehen durch die 
Bremsung der Kathodenstrahlen auf der Anti¬ 
kathode der Röntgenröhre; /-Strahlen ent¬ 
stehen durch die Abschleuderung von /9-Teil- 
chen aus den Atomen der radioaktiven Körper. 
2. Das Röntgenstrahlenspektrum besteht aus 
zwei prinzipiell verschiedenen Teilen, dem 
kontinuierlichen Spektrum der Bremsstrahlung, 
das durch die Bremsung der Kathodenstrahlen¬ 
teilchen in den Atomverbänden der Antikathode 
entsteht, und dem Eigenspektrum, einem 
Linienspektrum, das dem Bremsstrahlenspektrum 
überlagert ist und das seine Ursache in den 
Eigenschwingungen der Atome der Antikathode 
hat. Das Eigenspektrum ist für das Anti¬ 
kathodenmaterial charakteristisch. 3. Röntgen¬ 
strahlen sind elektromagnetische Schwingungen. 
Es ist die Größenordnung derselben 10"^. Die 
Durchdringungsfähigkeit der Strahlen ist zu 
deuten durch ihre geringe Wellenlänge. Die 
Bremsstrahlen sind gänzlich unzusammenhän¬ 
gende elektromagnetische Impulse, während die 
der Bremsstrahlung überlagerte Eigenstrahlung, 


homogene periodische Schwingungen enthält 
Die zerstreute Strahlung ist reflektierte pri¬ 
märe Röntgenstrahlung und damit ist ihre 
Wellenlänge mit der Wellenlänge der primären 
Strahlung identisch. Die Streuung ist wieder 
abhängig von der Wellenlänge der primären 
Strahlung und von der Natur des Streukörpers, 
wobei die Dichte desselben eine bestimmte 
Rolle spielt. Die Streustrahlung ist in der 
Röntgenphotograpbie in Betracht zu ziehen. 
Noch mehr ist sie aber als Fehlerquelle in 
der Röntgenstrahlenmeßtechnik und bei der 
therapeutischen Anwendung der Strahlen zu 
beachten. — Ein chemisches Element sendet 
eine sekundäre Röntgenstrahlung aus, Fluor¬ 
eszenzstrahlung, wenn die erregenden Wellen¬ 
längen kleiner werden, als die Wellenlänge 
dieser Fluoreszenzstrahlen ist. Die Emission 
der Fluoreszenzröntgenstrahlung ist eine reine 
Funktion des Atoms. Eine chemische Ver¬ 
bindung sendet demnach so viele Arten von 
Fluoreszenzstrahlung aus, als in der che¬ 
mischen Verbindung Elemente vorhanden sind. 
Die Fluoreszenzröntgenstrahlung ist in ge¬ 
wissen Grenzen homogen, doch senden die 
Elemente mehrere Gruppen solcher homogener 
Strahlen aus. Die Sekundärstrahlung einer 
chemischen Verbindung ist also nicht in diesem 
Sinne homogen, sondern sie setzt sich aus den 
homogenen Strahlungsgruppen der Elemente 
dieser Verbindung zusammen. Ein chemisches 
Element sendet eine Fluoreszenzstrahlung auch 
dann aus, wenn es von Kathodenstrahlen hin¬ 
reichender Geschwindigkeit getroffen wird. 
Diese Tatsache führte zum Entstehen des 
Eigenspektrums der Antikathode. Mit ab¬ 
nehmender Wellenlänge der Erregerstrahlung 
sinkt für ein bestimmtes Element die Intensität 
der emittierten Fluoreszenzröntgenstrahlung, 
die ihren Höchstwert annimmt, wenn die 
Wellenlänge der Erregerstrahlung um das viel¬ 
fache einer Konstanten kleiner ist, als die 
Wellenlänge der Eigenstrahlung. Die Intensität 
der Fiuoreszenzstrahlung steigt, wenn auch in 
viel geringerem Maße, mit dem Atomgewicht, 
und außerdem ist sie abhängig von der Intensi¬ 
tät der Primärstrahlung. Bei der Absorption 
von Primärstrahlen in einem Medium haben 
wir zweierlei Arten von Absorption zu unter¬ 
scheiden: einmal normale Absorption. Diese 
ist vorhanden in all den Fällen, in denen nicht 
zugleich die Bedingungen für das Auftreten 
von Fluoreszenzröntgenstrahlen gegeben sind. 
Sie folgt zwei Gesetzen, wonach erstens die 
Absorption eines Massenelements mit der 


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Referate über Bücber und Aufsätze. 


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vierten Potenz der Atomzahl znnimmt und 
zweitens die Absorption mit der 2,5 Potenz 
der abnehmenden Wellenlänge abnimmt. Se¬ 
lektive Absorption, dies ist der zweite Fall, 
tritt ein, wenn die Bedingungen für die Ent¬ 
stehung der Fluoreszenzstrahlung gegeben sind. 
Oie selektive Absorption erreicht ihren maxi¬ 
malen Wert, wenn der Emissionskoeffizient 
<ier Fluoreszenzröntgenstrahlung seinen maxi¬ 
malen Wert erreicht. Die selektive Absorption 
nimmt mit abnehmender Wellenlänge rasch ab 
und erreicht bei einer bestimmten Wellenlänge 
«einen Wert, von dem an £ie vernachlässigt 
werden darf. Die Fluoreszenzröntgenstrahlung 
ist die Ursache von einer Reihe von merk¬ 
würdigen Erscheinungen bei der Röntgen¬ 
etrahlenmessung. Sie ist die Fehlerquelle einer 
Reihe von Röntgenstrahlenmaß-Methoden. Auch 
1s Gefahrenquelle bei der therapeutischen 
Anwendung der Röntgenstrahlen kommen die 
Fluoreszenzstrahlen in Frage. Auf den Er¬ 
scheinungen der Fluoreszenzröntgenstrahlung 
und den Bedingungen für ihr Auftreten beruht 
eine neue Methode für Feststellung der Inten¬ 
sität und Härte der Komponenten eines pri¬ 
mären Röntgenstrahlengemisches. Diese Me¬ 
thode wurde von Glocker angegeben. — 
Bei der Absorption von Röntgenstrahlen in 
einem Medium entstehen unter dem Einfluß 
absorbierter Energie sekundäre ^-Strahlen, 
deren Geschwindigkeit einzig und allein durch 
die Wellenlänge der erregenden Strahlung 
bedingt wird. Die Loslösung dieser Elektronen 
ist eine Funktion der Atome. Es hängt die 
Geschwindigkeit und damit das Durchdringungs- 
Vermögen nicht von der emittierenden Sub¬ 
stanz ab. Die Intensität der sekundären 
^-Strahlen, also die Menge der losgelösten 
Elektronen, ist von zwei Gesichtspunkten aus 
zu betrachten und zwar einmal, wenn normale 
Absorption eintritt, das zweite Mal, wenn se¬ 
lektive Absorption zustande kommt. Ist nor¬ 
male Absorption gegeben, so steigt die Menge 
der sekundär gebildeten Elektronen mit der 
vierten Potenz der Atomzahl an, nimmt aber 
bei ein und derselben Substanz mit der 2,5 Po¬ 
tenz der abnehmenden Wellenlänge der Er- 
re^erstrahlung ab. Tritt selektive Absorption 
ein, so wird die Menge der sekundär gebildeten 
Elektronen auch noch bedingt durch den 
Emissionskoeffizienten der Fluoreszenzstrah¬ 
lung. Die Menge der sekundär gebildeten 
Elektronen erreicht ein Maximum, wenn der 
Emissionskoeffizient der Fluoreszenzstrahlung 
seinen Maximalwert erreicht. Da die Emission 


der sekundären /9-Strahlen ein Atomeffekt ist, 
so erhellt daraus, daß die Menge der, sekun¬ 
dären /9-Strahlen, die von einer chemischen 
Verbindung emittiert werden, gegeben ist durch 
die Menge der von den einzelnen chemischen 
Elementen, welche diese chemische Verbindung 
aufbauen, emittierten ^-Strahlen. Die Ab¬ 
sorption der /9-Strahlen selbst folgt wiederum 
bestimmten Gesetzen und zwar scheint sie 
eine periodische Funktion des Atomgewichts 
zu sein. Auch die Absorption der sekundären 
/^-Strahlen ist ein Atomphänomen. Es läßt 
sich die Absorption einer chemischen Ver¬ 
bindung auf additivem Wege aus der Ab¬ 
sorption der diese Verbindung aufbauenden 
Elemente bestimmen. Zwischen primärer 
Röntgenstrahlung, sekundärer /^-Strahlung und 
Fluoreszenzstrahlung bestehen derartig ge¬ 
setzmäßige Beziehungen, daß sich der direkte 
innere Zusammenhang klar ersehen läßt. Es 
ist anzunehmen, daß für alle von den primären 
Röntgenstrahlen ausgelösten Effekte, wie che¬ 
mische Wirkung der Strahlen, ionisierende 
Wirkung, Wärmewirkung, biologisch-chemische 
Wirkung und auch für die Fluoreszenzröntgen¬ 
strahlung die sekundäre ^-Strahlung das 
Bindeglied ist, wobei eben die Größe der 
Wirkung durch die Menge der sekundär ge¬ 
bildeten Elektrone bedingt wird. Die Fehler¬ 
quellen und die Gefahrenquellen, die durch 
das Auftreten der Fluoreszenzstrahlung gegeben 
sind, finden damit ihre letzte Ursache ebenfalls 
in der Bildung der sekundären /^-Strahlung. 

L. Katz (Berlin-Wilmersdorf). 


1, Laqueur und V. Lasser-Ritscher 
(Berlin), Über die Behandlung der tuber¬ 
kulösen Peritonitis mit der „künstlichen“ 
Höhensonne. Med. Klinik 1918. Nr. 12. 

Die günstige Einwirkung des Quecksilber- 
Quarzlampenlichtes bei tuberkulösen Prozessen 
ist bekannt. Bei der Lungentuberkulose ist 
die Beurteilung der Beeinflussung schwierig, 
weil der örtliche Prozeß sich objektiv nur wenig 
ändert, Besserungen des Allgemeinbefindens auf 
Ernährung, Pflege usw. zurückgeführt werden 
können. Bei der tuberkulösen Peritonitis 
läßt sich aber die objektive und subjektive 
Besserung in »günstig reagierenden Fällen 
sehr rasch nach Beginn der Behandlung 
feststellen, so daß auch der Einwand des Zu¬ 
falles hinfällig wird. Zudem beweist die bis¬ 
weilen auftretende fieberhafte Reaktion den 
Zusammenhang. Die Bedeutung des Ver¬ 
fahrens wird dadurch erhöht, daß die tuber- 


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Referate über Bücher und Aufsätze. 


kulösen Erkrankungen zugenommen haben uhd 
die übliche Schmierseifenbehandlung zurzeit 
nicht möglich ist — Von 21 Fällen, darunter 
12 jüngere und ältere Kinder, wurden 15 
erheblich gebessert oder geheilt. Unbeeinflußt 
blieben 6, von denen 3 keinen Ascitis hatten; 
das dürfte kein Zufall sein, da die Wirkung des 
ultravioletten Lichtes auf das Bauchfell ver¬ 
mutlich in einer Anregung seiner Resorptions¬ 
tätigkeit beruht Zwei der nicht beeinflußten 
Fälle waren mit schwerer Lungentuberkulose 
kompliziert In den meisten Fällen fiel be¬ 
sonders die rasche Resorption des Ergusses 
auf. Bei der Lungentuberkulose hatten 
die Verfasser den Eindruck, als ob durch 
Quarzlampenbestrahlung das Allgemeinbefinden 
gebessert würde, der örtliche Befund ändert 
sich nicht in eindeutiger Weise. — Auch in 
einem Falle nicht tuberkulöser Polyserositis 
war nach Versagen der internen Therapie die 
günstige Beeinflussung der resorptiven Tätigkeit 
unverkennbar. 

Bestrahlt wird der ganze Körper von der 
Vorderseite her. Erste Sitzung: 1 m Lampen-^ 
abstand, 5 Minuten. Bei jeder folgenden 
Sitzung 3 Minuten länger. Allmählich Ver¬ 
kürzung des Abstandes, schließlich eine halbe 
Stunde bei 70 cm Abstand. Bei fiebernden 
Fällen Bestrahlung nur jeden zweiten Tag. 

Die Verfasser nehmen an, daß sich die 
therapeutische Wirkung des Quarzlampenlichtes 
in Aktivierung der Zelltätigkeit äußert. Diese 
erfolgt indirekt durch Übertragung der Licht¬ 
energie auf dem Wege der Blutbahn, da ein 
tieferes direktes Eindringen der Strahlen 
in die Gewebe ausgeschlossen ist. Gleich¬ 
zeitig spielt die allgemein-roborierende 
Wirkung der Strahlen eine wichtige Rolle. 

W. Alexander (Berlin). 


£. Verschiedenes, 

R. Klinger und E. Stierlin (Zürich), Zur 
Technik der Bluttransfusion. Korrespondenz¬ 
blatt für Schweizer Ärzte 1917. Nr. 34. 
Klinger und Stierlin bedienen sich 
folgenden Verfahrens: Mit einer dickeren Sto߬ 
kanüle wird Blut aus einer leicht gestauten 
Armvene im Strahl in einen breiten Meßzylinder 
steil aufgefangen. In diesen graduierten Zylinder 
wurde vorher so viel einer 2,5%igen sterilen 
Lösung von Na-Zitrat gebracht, daß dieselbe 
l /io der zu entnehmenden Blutmenge beträgt. 
Der Zylinder soll nicht zu eng und nicht sehr 


hoch sein, damit das Blut nicht erst an der 
Glaswand herunterläuft, sondern möglichst 
direkt in die Zitratlösung einfließt. Durch fort¬ 
währendes leichtes Schwenken wird für Ver¬ 
mischung von Blut und zitronensaurem Natrium 
gesorgt. Das so erhaltene Blut bleibt dauernd 
vollständig flüssig, da seine Kalksalze durch 
das Zitrat paralysiert wurden, so daß keine 
Thrombinbildung erfolgen kann. Die Blutprobe 
kann, mit einem sterilen Tuch bedeckt, zunächst 
beiseite gestellt werden. Dann beginnt der 
zweite Teil : Die Präparation des Blutempfangers 
nach der für intravenöse Kochsalzinfusionen 
üblichen Technik. In den Meßzylinder des Appa¬ 
rats wird anstelle gewöhnlicher vorgewännter 
Kochsalzlösung ein Gemisch einer solchen mit 
dem vorher gewonnenen Zitratblut gebracht. 
Je nach dem Grade des Blutverlustes und der 
Menge des zur Verfügung stehenden, fremden 
Blutes wird man bald mehr, bald weniger Salz¬ 
lösung dem Blute zufügen. Die Lösung läßt 
man ganz langsam in die Vene einlaufen, die 
Transfusion von Va bis 1 Liter Flüssigkeit dauert 
10 bis 20 Minuten. Der Blutspender muß frei 
von Infektionskrankheiten sein, bei denen eine 
Übertragung durch das Blut möglich ist (Syphilis 
Malaria, Tuberkulose usw.) und gut entwickelte 
Armvenen besitzen. 

Eine wichtige Frage ist, ob nicht das mit 
dem Blute infundierte Natriumzitrat wie in vitro 
so auch im lebenden Körper die Blutgerinnung 
hemmt, wodurch man gewissermaßen eine künst¬ 
liche Hämophilie schaffen würde. Speziell die 
Anwendung bei schon bestehender Hämophilie 
würde in diesem Falle absolut kontraindiziert 
sein. Diesbezügliche Tierversuche haben er¬ 
geben, daß keinerlei Herabsetzung der Gerinn¬ 
barkeit des kreisenden Blutes erzielt wird. Es 
muß angenommen werden, daß das Zitrat im 
Blute rasch verbrennt und dadurch für die Ge¬ 
rinnung ausgeschaltet wird. Das Zitrat ist 
demnach ein für den Chirurgen gradezu ideales 
Hemmungsmittel der Blutgerinnung. Die Trans¬ 
fusion von Zitratblut ist unschädlich und gefahr¬ 
los. Klinger und Stierlin haben mit einer 
Infusion von Zitratblut prompten Erfolg bei 
einer sehr hartnäckigen, bereits das Leben be¬ 
drohenden hämophilen Blutung gehabt. Wichtig 
ist noch, daß die Transfusion von mit Koch¬ 
salzlösung verdünntem Zitratblut Aussichten 
bietet, Nebenwirkungen wie kollapsartige 
Symptome, Beklemmung in der Herzgegend, 
Cyanose und Atemnot, ferner Schüttelfröste, 
Hämoglobinurie zu vermeiden. Die Indikation 
einer Bluttransfusion ist in erster Linie nach 


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Referate Über Bücher und Aufsätze. 


487 


allen schweren akuten Blutverlusten gegeben. 
Bei Hämophilie wirkt Bluttransfusion lebens¬ 
rettend. E. Tobias (Berlin). 

A. Rodella (Basel), Über das Verhalten 
des Fußsohlen-Cremasterreflexes in akuten 
Fällen von Ischias. Korrespondenzblatt 
für Schweizer Ärzte. 1917. Nr. 51. 

Rodella schildert zunächst die ganze 
Reihe von Reflexstörungen, die bei'Ichias an¬ 
gegeben wurden, und geht dann besonders auf 
das „Gibsonsche Phänomen“ ein, welches da¬ 
rin besteht, daß bei Ischias der Cremaster- 
rcflex der kranken Seite gesteigert ist. Ähn¬ 
lich ist das Auftreten des Fußsohlen-Cremaster- 
leflexes, der bei Ischias am kranken Bein 
auftritt: beim Streichen der Planta pedis tritt 
bei akuten Fällen*von Ischias der Cremaster¬ 
reflex auf der kranken Seite in Erscheinung. 
Die anatomische Erklärung ist nicht schwer, 
indem die Ischiadikusfasern aus dem Plexus 
sacralis stammen, der aus der 5. Lumbal¬ 
wurzel und der 1. bis 3. Sakralwurzel zu¬ 
sammengesetzt ist. Die 5. Lumbalwurzel be¬ 
kommt Fasern ads der 4. Lumbalwurzel. Die 
3. und 4. Sakralwurzel bilden den Plexus geni¬ 
talis, die 5. und das Coccygealpaar den Plexus 
sacro-coccygeus usw. Besonders deutlich ist 
das Phänomen bei der radikulären Ischias, 
so daß in differentaldiagnostischer Hinsicht 
sich Unterscbeidungsmöglichkeiten in bözug 
auf radikuläre Ischias und Ischias des Nerven- 
stammes ergeben. E. Tobias (Berlin). 


E.Reiß (Frankfurt a. M.), Grundlagen der 

Urämfebehandlung. Therap. Monatsh. 1917. 

Juli/August. 

Reiß teilt die gegen Urämie üblichen 
Maßnahmen in zwei Gruppen. Die eine sucht 
die mangelhafte Ausscheidungsfähigkeit der 
Nieren durch direkt wirkende Mittel zu 
erhöhen, die andere durch Inanspruchnahme 
anderer Orgaüe die Nierensekretion zu ersetzen. 
Es sei hier nur von diesem zweiten Weg, dem 
Weg der Nierenentlastung durch Inanspruch¬ 
nahme anderer Organe die Rede; bezüglich der 
Diuretika sagt Reiß zusaramenfassend, daß 
ihnen kein Platz in der Behandlung der Urämie 
gebührt. Die Haut vermag eine vikarierende 
Tätigkeit für die Nieren nur in sehr geringem 
Maße zu entfalten. Die Schwitzprozedur kann 
bei Urämie, so alt und häufig angewandt sie 
auch is.t, nur mit großer Reserve empfohlen 
werden. In keinem Fall vermag sie einen 
wesentlichen Teil der sekretorischen Arbeit 


der Nieren zu ersetzen. Auch von der An¬ 
wendung von Abführmitteln ist auf Grund the¬ 
oretischer Erwägungen und klinischer Er¬ 
fahrungen dringend zu warnen. Ebensowenig 
kommt bei der Urämie eine Beeinflussung der 
Blutverteilung, der Innervation oder des Krank¬ 
heitsprozesses in den Nieren selbst durch lo¬ 
kale Prozeduren, Diathermie usw. in Frage. 
Trotzdem braucht man die Hand nicht in den 
Schoß zu legen. So soll man die Konzentration 
der in den Gewebssäften zurückgehaltenen 
Substanzen herabsetzen. Dazu ist zunächst 
eine sehr strenge Auswahl der Nahrung er¬ 
forderlich. Das Eiweiß muß aus der Diät des 
Urämikers zeitweise ausgeschaltet werden. Viel 
Fett ist auch nicht bekömmlich. Bleiben die 
Kohlehydrate. Reiß gibt zunächst nur reich¬ 
lich Zucker und Wasser und zwar Zuckerwasser, 
das durch Zusatz von einigen Tropfen Zitronen¬ 
saft oder einer Messerspitze Acidum citricum 
schmackhaft gemacht werden kann. Auch 
Erdbeer- oder Himbeersaft ist als Zusatz ge¬ 
stattet; ferner ist ganz dünner Tee mit Zucker 
ohne Milch erlaubt. Es muß so (langsam!) 
pro die 3 Liter Flüssigkeit und mehr zugefübrt 
werden. Bei Erbrechen ist rektale Eingießung 
2u empfehlen und zwar in Form der Wörnitz- 
schen Dauereinläufe. Bei Durchfällen soll 
man etwas Opium beifügen. In manchen 
Fällen ist nur subkutane Zufuhr einer 5,4 °/ 0 igen 
sterilen Traubenzuckerlösung möglich, eventuell 
kommt auch intravenöse Zufuhr in Frage, die 
am schnellsten wirkt. 

Mit Entschiedenheit nimmt dann Reiß 
gegen die von Volhard empfohlene äunger- 
und Durstkur Stellung. Er zieht die „Ver¬ 
dünnungstherapie“ vor, die er auch anivendet, 
wenn bereits Ödeme bestehen. Die eintretende 
Harnflut übertrifft die Zufuhr und schafft auch 
die Ödeme mit weg. Nur braucht man bei 
hochgradigem Hydrops nicht gerade die 
extremste Flüssigkeitszufuhr zu nehmen. Der 
Einwurf, daß große Flüssigkeitszufuhr bei 
Urämie eine Nierenbelastung darstellt,* ist nicht 
stichhaltig, u. a. weil die Wasserabscheidung 
keine Arbeit der Nieren ist, sondern ein passiver 
Vorgang. Nur der Herzzustand kann daneben 
die Anwendung von Herzmitteln notwendig 
machen. Reiß hält die Flüssigkeitsbeschrän¬ 
kung bei Urämien, die mit Retention verbunden 
sind, direkt für kontraindiliert. 

Reiß bespricht dann den Wert des Ader¬ 
lasses bei der Urämie. Er kombiniert ihn mit 
einer intravenösen Traubenzuckereingießung 
oder läßt Wasser nachtrinken. 


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Besonders besprochen werden dann die 
epileptiforme Urämie, die wie echte Epilepsie 
mit Brom usw. behandelt wird, und die psycho¬ 
tische Urämie, bei der die vonVolhard emp¬ 
fohlene Lumbalpunktion wirksam ist. 

Urämien mit Rententionen sind anders zu 
behandeln wie solche mit normaler Nieren¬ 
sekretion. Die Formen mit Retention sind 
charakterisiert durch Schlafsucht, geistige 
Indifferenz, körperliche Müdigkeit und Hinfällig¬ 
keit. Reiß nennt sie „asthenische“ Urämie im 
Gegensatz zur epileptischen und psyschotiBchen. 
Letztere beiden machen eingreifende Diätetische 
Maßnahmen nicht nötig. Aber meist handelt 
es sich um Kombinationen. 

Zum Schluß bespricht Reiß die chronische 
Urämie. Bei dieser sind eingeschaltete Zucker¬ 
tage sowie eine mäßige Diätbeschränkung zu 
empfehlen, die im einzelnen näher beschrieben 
wird. Chirurgische Therapie ist nötig, wenn 
ein mechanisches Hindernis der Urinentleerung 
beseitigt werden kann. E. Tobias (Berlin). 


Ton Voornveld, Tuberkulose nud Schwan¬ 
gerschaft. Korrespondenzbl. f. Schweizer 
Ärzte 1917. Nr. 22. 

Der Verfasser weist nachdrücklich auf die 
sozialen Gefahren hin, welche daraus er¬ 
wachsen, daß nach der herrschenden Schul¬ 
meinung jeder Fall von Tuberkulose zur künst¬ 
lichen Unterbrechung der Schwangerschaft 
führen soll. Nach der Auffassung des Ver¬ 
fassers soll man vor allem bei inaktiven Fällen 
die Schwangerschaft ruhig verlaufen lassen. 
Ist die Lungentuberkulose bei einer Schwangeren 
aktiv oder droht sie es zu werden, dann freilich 
darf man nicht zuwarten, sondern muß handeln. 
Und zwar muß die Schwangerschaft möglichst 
frühzeitig unterbrochen werden, oder es muß 
versucht werden, die Aktivität der Krankheit 
durch Anlegung eines künstlichen Pneumo¬ 
thorax zu bekämpfen. Er stellt demgemäß den 
Grundsatz auf, daß in allen Fällen, wo wegen 
aktiver Lungentuberkulose die Unterbrechung 
der Schwangerschaft indiziert ist, diese 
Operation erst ausgeführt werden sollte, wenn 
ein in der Pneumothorax-Therapie erfahrener 
Arzt darüber gehört worden ist, ob der be¬ 
treffende Fall sich eventuell für die Anlegung 
eines künstlichen Pneumothorax eignet. Nur 
dann sollte die Einleitung des Aborts erfolgen, 
wenn die Anlegung eines Pneumothorax nicht 
indiziert oder nicht möglich ist. 

Freyhan (Berlin) 


F* Ballner u. A. Finger, Über die Wett- 
Felixsche Proteusreaktion mit dem Harne 
Fieckfleberkranker. W. kl. W. 1917. Nr. 31. 

Der Harn Fleckfieberkranker enthält, wenn 
das Krankheitsbild mit Nephritis kompliziert 
ist, Agglutinine für den Proteusstamm X Jr 
Eiweißhaltige Harne von gewöhnlicher Nephritis* 
oder von anderen Erkrankungen mit Eiweiß- 
aussebeidung lassen ausnahmslos eine Proteus¬ 
agglutination vermissen. Bei positiver Blut¬ 
serumagglutination aber negativem Eiweiß- 
befund ist die Harnagglutination bei Fleckfieber¬ 
kranken negativ. Die Höhe der Agglutination 
ist von der Größe der Eiweißausscheidung un¬ 
abhängig, wenn auch bei einer Anzahl von 
Harnen bei stark positivem Eiweißgehalt ein 
höherer Agglutinationstiter zu beobachten war. 

J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf). 


Vladimir Viteöek, Die klinische Bedeu¬ 
tung der Weil-Felfxschen Reaktion* W. 

kl. W. 1917. Nr. 31. 

Die ansteigende Weil-Felixsche Agglu¬ 
tination kommt nur bei Fleckfieber vor. 

Die positive Weil-Felixsche Reaktion 
kommt in 8,43 9f 0 bei Kontrollen in der Ver¬ 
dünnung von 1:25 vor; äußerBt selten ist eine 
schwach positive Reaktion von 1:50 zu kon¬ 
statieren und beibt hier ohne Schwankungen. 

Es konnte keine bestimmte Erkrankung 
eruiert werden, bei welcher die normale Agglu¬ 
tination gehäuft aufgetreten wäre. Sicherlich 
gaben die Typhen und Paratyphen die Normal¬ 
agglutination nicht häufiger als andere Er¬ 
krankungen oder Gesunde. 

Eine stark positive Reaktion von 1:50 
spricht für Fleckfieber. In zweifelhaften 
Fällen wird hier eine Zunahme der Aggluti¬ 
nation die Entscheidung bringen. Doch sind 
bei Fieckfiebererkrankung die Agglutinations¬ 
werte mit X 19 meist viel höher. Nur wird 
selten ein Titer von 1:200 nicht überschritten. 
In der Regel ist die Reaktion über 1:1000 
positiv. J.Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf). 


G. Beyerbaus (Bedburg/Hau b. Cleve), 
Die Rückleitung Gehirnverletzter zur 
Arbeit. M. m. W. 1917. Nr. 31. 

Grundbedingung für eine erfolgreiche Be¬ 
handlung ist zunächst die genaue Erkennung 
der gesetzten Schädigung. Die erste Unter¬ 
suchung erfolgt am besten in den Schädel¬ 
schußlazaretten dicht hinter der Front. Lokale 
und allgemeine Schädigungen sind genau fest¬ 
zustellen. Bei jedem Schädel- oder Gehirn- 


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verletzten bemerkt man eine mehr oder weniger 
erhöhte körperliche und geistige Ermüdbarkeit. 

In der ersten Zeit nach der Verwundung 
braucht der Verletzte Ruhe. Erst allmählich 
kann er wieder zur Beschäftigung herangezogen 
werden. Beyerbaus beginnt mit leichten 
Handfertigkeiten und bei günstigem Wetter 
noch lieber mit leichter Arbeit im % Freien. Ist 
es angängig, so führt man ihn allmählich seinem 
alten Berufe wieder zu. Die Störungen der 
psychischen Leistungsfähigkeit sucht man durch 
vorsichtige und systematische Geistesübungen 
auszugleichen. Es bandelt sich dabei um 
Rechnen, Lese- und Schreibübungen, Wieder¬ 
gabe von Erzählungen und Erlebnissen, ferner 
um Anschauungsunterricht, Einführung in die 
Bürgerkunde und Buchführung, um Sprach¬ 
unterricht. Die Behandlung der Lähmung er¬ 
folgt nach den üblichen Methoden. Vorsicht 
ist mit Elektrisieren geboten. Bei Gleich¬ 
gewichtsstörungen sind Gehübungen zu em¬ 
pfehlen. Die Erfolge sind im allgemeinen 
begrenzt. Ein Gehirnverletzter wird nicht 
wieder felddienstfähig. Leichter Geschädigte 
werden der Kriegsindustrie zugeführt. Bei den 
schwerer Geschädigten wird das Dienst¬ 
unbrauchbarkeitsverfahren durchgeführt, die 
Kranken werden zur Arbeitsvermittlung eventuell 
einer Kriegsbeschädigtenfürsorgestelle über¬ 
wiesen. Am besten ist es dabei, daß man den 
Kranken zunächst nur für 6 bis 8 Wochen be¬ 
urlaubt Findet er sich in dieser Zeit bei der 
Arbeit zurecht, so bleibt er dabei; versagt er 
aber infolge körperlicher oder geistiger 
Leistungsunfähigkeit, so wird er weiter im 
Lazarett bleiben, in dem man ihn zunächst 
weiter zu fördern sucht. Ein Teil der Ver¬ 
letzten ist schwer unterzubringen. Da empfehlen 
sich Spezialeinrichtungen, in denen jeder 
einzelne entsprechend seinen noch vorhandenen 
Fähigkeiten ausgebildet wird. Das Schicksal 
der Kranken ist weiter im Auge zu behalten. 

E. Tobias (Berlin). 

E. Bernoulli, Zur Dosierung der Brom¬ 
salze bei Epilepsie und Depresslonszu- 
st&nden. Korrespondenzbl. f. Schweizer 
Ärzte 1917. Nr. 82. 

Das beim Epileptiker zur Beseitigung des 
Krampfreizzustandes herzustellende und dauernd 
festzuhaltende Verhältnis von Chlor und Brom 
im Körper wird als relativer Bromgehalt be¬ 
zeichnet, welcher in exakter Weise durch die 
Halogenanalyse des Blutes bestimmt wird. Im 
allgemeinen sind die Differenzen des Brom¬ 


gehaltes zwischen Blut und Urin nicht groß. 
Die Urinuntersuchung vermag, wenn sie auch 
keinen absoluten Gradmesser für den Stand 
der Bromisierung darstellt, doch ein richtiges 
Bild von den Schwankungen des Bromgehaltes 
des Körpers zu geben. 

Bei schweren Fällen von Epilepsie sind 
zur Unterdrückung der Anfälle Gaben not¬ 
wendig, bei denen der relative Bromgehalt des 
Blutes auf 20 bis 25 Proz, in seltenen Fällen 
bis 30 Proz. ansteigt. Im Urin findet man dem¬ 
entsprechend einen relativen Gehalt von 15 
bis 25]Proz. 

Die Salzregulierung wird dadurch herge¬ 
stellt, daß erstens stark kocbsalzhaltige 
Nahrungsmittel und kochsalzhaltige Suppen 
vermieden, zweitens zur Herstellung der Kost 
täglich eine bestimmt abgewogene Menge Koch¬ 
salz verwendet wird. Verfasser gibt eine 
übersichtliche Tabelle, welche 'es ermöglicht, 
in rascher Weise Brom- und Kochsalzdosen 
zu bestimmen, die nötig sind, um einen be¬ 
stimmten Bromgehalt des Urins hervorzurufen 
oder zu erhalten. 

Betreffs der Bromdosierung bei Depressions¬ 
zuständen sucht man den Bromgehalt des Körpers 
vorübergehend so zu steigern, daß in einigen 
Wochen gewisse Vergiftungserscheinungen auf- 
treten, welche man als das erste Stadium einer 
Bromnarkose bezeichnen kann, wie rauschähn¬ 
liche Exitation, leichte Parese und Koordinations¬ 
störungen, schwankender Gang, Unsicherheit 
im Stehen, Sprach-, Schrift- und Gedächtnis¬ 
störungen, erhöhtes Schlafbedürfnis. Der 
Höhepunkt der Intoxikation kann dann durch 
geeignete Reduktion der Bromgabe, wenn nötig, 
einige Zeit festgehäflln werden, oder man re¬ 
duziert die Bromdosis, sobald der Höhepunkt 
erreicht ist, so stark, daß die Bromkonzentration 
im Körper zu sinken beginnt Demnach wird 
der Kochsalzgehalt der Nahrung zweckmäßig 
auf 5 bis 10 g beschränkt und dazu wird die 
Bromdosis so gewählt, daß damit ein relativer 
Bromgehalt des Urins erreicht werden kann, 
der höher als 25 Proz., aber nicht höher als 
30 Proz. liegt 

J. Ruhemann (Berlin-Wilmersdorf). 


E. Sachs (Königsberg), Die künstliche Untere 
brechung der Schwangerschaft bei Er¬ 
krankungen des Nervensystems (Epilepsie, 
Chorea, Polyneuritis). Med. Klin. 1917. 
Nc 42. 

Nach den in der Literatur niedergelegten 
Erfahrungen und denen der Königsberger Uni- 


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Referate über Bücher und Aufsätze. 


versitäta-Frauenklinik kommt Verfasser zu 
folgenden Resultaten: 

Die Epilepsie genügt an sich nicht, eine 
Schwangerschaft prophylaktisch zu unterbrechen 
aus Besorgnis der Verschlimmerung. Nur eine 
tatsächliche Verschlimmerung läßt an Unter¬ 
brechung denken. Dazu gehört: 1. sehr starke 
Häufung der Anfälle, 2. Auftreten epileptischer 
Geistesstörung, 3. Status epilepticus. Die Häu¬ 
fung kleiner Anfälle genügt nicht als Indikation, 
und die großer nur dann, wenn Geistesstörung 
oder Status unmittelbar droht Der Erfolg der 
Unterbrechung ist bei den letztgenannten Zu¬ 
ständen ganz unsicher. Trotzdem ist sie hier 
anzuwenden, und zwar beim Status epilepticus 
mit der schnellsten Methode, dem Kaiserschnitt 

Bei der Chorea gravidarum hat der 
einzelne Autor keine größeren Erfahrungen 
wegen der Seltenheit der Affektion. Die Lite¬ 
ratur weist gute Erfahrungen bei der Schwanger¬ 
schaftsunterbrechung, aber auch Mißerfolge auf. 
Viele werden ohne Unterbrechung gesund, 
ebenso viele durch die Unterbrechung. Es ist 
deshalb bis jetzt nicht möglich, fest begründete 
Richtlinien für die Unterbrechung aufzustellen. 
Jedenfalls kommen nur die schweren Fälle in 
Frage. Bei der Chorea acutissima wird auf 
keine Weise ein Erfolg zu erzielen sein. Als 
Indikation haben also zu gelten die nicht ganz 
schweren Fälle, die durch die Therapie vor 
dem Übergang in irreparable Zustände bewahrt 
werden müssen. Als schwer in diesem Sinne 
gelten: 

1. alle akut einsetzenden Choreafälle; 

2. Fälle, die schon einmal eine Chor, gra¬ 
vidarum durchgemacht haben, wenn sich dies¬ 
mal die Symptome zeitr^r einstellen; 

3. langsam einsetzende Formen, die durch 
die Schwere der Symptome das Leben gefährden 
(schwere Zuckungen, erschwerte Nahrungsauf¬ 
nahme, Respirationsstörungen usw.); 

4. Fälle, bei denen Komplikationen an 
inneren Organen vorliegen, die sonst meist 
zum Tode zu führen pflegen; 

5. Das Auftreten einer Psychose beim Ver¬ 
sagen anderer Mittel, weil diese Fälle erfahrungs¬ 
gemäß quoad vitam prognostisch ungünstig sind. 

In allen diesen Fällen hat die Entleerung 
so schnell wie möglich, d. h. mit schneidenden 
Methoden zu erfolgen, weil der lange Reiz 
der Geburtstätigkeit eine erhebliche Gefahr 
darstellt. 

$ei der Polyneuritis gravidarum 
kommt die Schwangerschaftsunterbrechung nur 
in Betracht: 


1. in den Fällen, bei denen Lebensgefahr 
besteht (Beteiligung des Vagus, Phrenicus: 

L an dry scher Typus). 

2. bei ernstlicher Erkrankung desN. opticus. 

Komplikation mit Korsakoffscher Psy¬ 
chose ist keine Indikation, weil diese durch 
die Unterbrechung doch nicht günstig beein¬ 
flußt wird. Bei den Formen derHyperemesis, 
die bis in die zweite Schwangerschaftshälfte 
dauern, muß man an Polyneuritis denken und 
nach solchen Symptomen fahnden. 

Im ganzen kommt die Unterbrechung der 
Schwangerschaft nur sehr selten in Frage, weil 
der Ausbruch des Leidens i n der Schwangerschaft 
sehr selten ist. W. Alexander (Berlin). 

Felix Schlelßner (Mähr.-Weißklrchen), 
Über kriegs&rztllehe Erfahrungen hei 
Nierenentzündungen. Klin.-ther. W. 1917. 

Nr. 41, 42. 

Die Ätiologie der Kriegsnephritis ist nach 
dem Autor, der ca. 1100 Fälle sah, ganz un¬ 
klar. Aufgefallen ist, daß 20 % 4er Leute 
schon früher nierenleidend waren Symptoma¬ 
tisch fielen die außerordentliche Häufigkeit 
der hämorrhagischen Formen und das Rezi- 
divieren der Hämaturie einerseits, die an¬ 
dauernden Lendenschmerzen andererseits auf. 
Therapeutisch kamen Bettruhe, Heißluftbäder, 
einfache, salzarme Kost zur Verordnung. Das 
Medikament, von dem der Verfasser noch am 
ehesten einen Erfolg sah, war Calcium chloratum. 
Bezüglich der Prognose äußert sichSchleißner 
dahin: Quoad vitam günstig, quoad sanationem 
zweifelhaft, in bezug auf Frontdiensttauglich- i 
keit schlecht Die Mortalität betrug kaum 
2 %. Als Belastungsproben vor der Entlassung 
kamen Bewegung, leichte Arbeit, eventuell 
etwas exerzieren und Verabreichung normaler 
Kost zur Anwendung. 

Roemheld (Hornegg AN.). 


Wilhelm Kühn (Leipzig), Neues medizi¬ 
nisches Fremdwörterbuch für Schwestern, 
Samariter, Heilgehilfen, Krankenpfleger und 
gebildete Leserkreise. Vierte Auflage. Leip¬ 
zig 1918. Verlag von Krüger & Co. 

Das schon in vierter Äutlage vorliegende 
Büchlein dürfte seinem Zweck vollauf gerecht 
werden, wenn es auch nicht leicht sein dürfte, 
die richtige Grenze aufzustellen, in denen man 
zu dem gedachten Zweck Fremdwörter auf¬ 
nehmen soll. Der „gebildete Leserkreis“ ver¬ 
schwände besser aus dem Bestimmungskreis. 

E. Tobias (Berlin). 


W. Büxenstein Druckerei und Deutscher Verlag G. m. b. H., Berlin SYV. 48. 


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